Kolumne: Experte des Monats - Dirk Pilz liest Edgar Allan Poe, um die Debatten über Sexismus und Rassismus zu begreifen
Der entwendete Rassismus
von Dirk Pilz
22. November 2017. Diesmal ein Verdacht. Seit Wochen wird über Sexismus und Sexisten und also über Rassismus und Rassisten geredet, als hätten alle schon immer gewusst, was durch die #MeToo-Bewegung zum Beispiel umfassend verhandelt wird, dass nämlich Sexismus und Rassismus sämtliche gesellschaftliche Bereiche betrifft, weil es beides in allen gesellschaftlichen Bereichen gibt. In den Parlamenten und Redaktionen, im Literaturbetrieb, in Kneipen und Fußballstadien, in der Filmindustrie, im Theater. Überraschenderweise wollen dabei nicht nur alle seit je Bescheid gewusst haben, es bestätigen auch alle, dass im Rassismus wie im Sexismus die Ressentiments mit den Machtverhältnissen kompakte Koalitionen eingehen, was ein Grund dafür ist, dass es beides überall gibt: Weil die Machtverhältnisse derart manifest, also die Abhängigkeiten und entsprechenden Ängste in diesen gesellschaftlichen Bereichen groß sind, finden die Ressentiments weiter fruchtbare Böden.
Der Name Weinstein ist insofern längst zur Chiffre für allgemeine Missstände umgestaltet worden, als betrete man damit jenen "wasserreichen Strom, den niemand bis zu Ende schwimmt" (Engels). Einstweilen wurde entsprechend nahezu jede Stromschnelle und Wegbiegung erörtert, gern mit dem Hinweis versehen, dass pauschale Vorwürfen nicht angeraten seien. Und unweigerlich meldeten sich auch jene Stimmen zu Wort, die die gesamte #MeToo-Debatte als "überreizt", wenn nicht als bloßen Ausdruck einer "medialen Geilheit" oder als eine "aus dem Ruder laufende Berichterstattung" hinstellen, mit der "jede Beschuldigung ungeprüft weiterverbreitet" werde. Was aber ist mit solchen Einschränkungen und Meta-Beschuldigungen intendiert? Worauf will eine Debatte hinaus, in der die Ordnungsrufe zusehends in ein "Nun habt euch nicht so" oder "So pauschal darf man das nicht sagen" münden?
Alles Einzelfälle?
Der Verdacht, dass es vor allem darum gehe, "einen Veränderungsprozess zu unterbinden", drängt sich durchaus auf, ja. Aber das Unterbinden geschieht nicht nur dadurch, dass "eine emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklung in einen Kulturkampf verwandelt" wird, sondern mittels einer zwar kruden, aber gerade deshalb offenbar erfolgreichen Strategie. Einerseits nämlich wird behauptet, dass es auf die Einzelfälle ankomme, wenn es sich ohnehin nicht nur um jene Einzelfälle handelt, von denen die Machthabenden gehört haben wollen. Andererseits aber wird eben allseits einmütig eingeräumt, dass Sexismus und Rassismus gerade auch im Kulturbetrieb ein reales Problem darstelle.
Diese Eintracht scheint dem von Edgar Allan Poe in seiner Erzählung "Der entwendete Brief" vorgeführten Modell zu folgen, in der ein gestohlener Brief vom Dieb gerade nicht trickreich versteckt, sondern bestens sichtbar in eine Ablage gelegt und er eben deshalb nicht gefunden wird. Heißt: Man entzieht etwas der Sichtbarkeit, indem man es offen ausstellt. Heißt im Falle von Sexismus im Besonderen und Rassismus im Allgemeinen: Das einträchtige Dauerreden verwandelt beide in jene Art von offenem Geheimnis, mit dem verhindert wird, dass Sexismus und Rassismus den historischen, politischen und moralischen Bedingungen unterworfen werden, die diese kritisierbar und damit veränderbar machten: Das konkret Rassistische wird somit dem Rassismus entzogen, indem man zwar einen allgemeinen Rassismus lauthals einräumt, diesen aber im Einzelfall dann unter den Vorbehalt der Nachweisbarkeit stellt, die von den je Betroffenen zu leisten ist.
Sexismus ohne Sexisten
Die ironische Pointe bei Poe, dass die beste Methode nichts zu finden, darin bestehe, immer schon zu wissen, was man sucht, wird damit zum verbindlichen Vorgehen erklärt, mit eindeutiger Absicht, denn dieses Wissen entbindet letztlich von der Suche selbst: Dass Rassismus und Sexismus ein "Problem" darstellen, wusste man ja vorher, die je konkreten Fälle zu erörtern und darzustellen wird aber stets den Betroffenen aufgegeben, was diese gerade nicht leisten können, eben weil Rassismus und Sexismus in Machtgefügen stattfinden, die aus den Betroffenen Abhängige machen.
Es ist mit dieser Methode des "entwendeten Briefes" demnach nichts einfacher, als lautstark ein allgemeines Rassismus- und Sexismusproblem zu konstatieren. Einfach, weil folgenlos. Einfach auch, weil damit die Beweislast nicht nur delegiert, sondern das Delegieren selbst als Rechtfertigung genommen wird, weder an den Machtverhältnissen noch etwas am eigenen Denken etwas ändern zu müssen. Produziert wird auf diese Weise ein Sexismus ohne Sexisten und ein Rassismus ohne Rassisten: Es gibt allerorten Betroffene, aber nirgends Täterschaft, allenfalls Einzelne, die als solche immer in besonders schrillen Farben gemalt werden (siehe Weinstein), auf dass sie einzig als Sonderfälle behandelt werden können.
Heideggers Barbarei
Der Erfolg dieser Methode lässt sich etwa am Umgang mit dem spätestens seit der Veröffentlichung der "Schwarzen Hefte" offensichtlichen Antisemitismus Martin Heideggers studieren. Ein Umgang, der darauf zielt, Heidegger zwar einen Antisemiten sein zu lassen, seine Philosophie aber von jedem Antisemitismus zu befreien, obwohl diese unmissverständlich darauf aufbaut. Die "Barbarei der Nationalsozialisten" macht man auf diese Weise zu einer bloßen "Projektionsfläche", um sie "von ihrer Realität zu befreien", wie Michèle Cohen-Halime und Francis Halimi schreiben (in: Der Fall Trawny. Zu Heideggers "Schwarzen Heften". Verlag Turia + Kant, Wien 2016), denen ich auch den Hinweis auf das Modell des "entwendeten Briefes" verdanke. Ohne falsche Parallelen etablieren zu wollen, fällt mir doch auf, wie "fürchterlich teilnahmslos" auch über Sexismus und Rassismus debattiert wird und wie stark dabei Rassismus und Sexismus einem "Versuch zur Entrealisierung dieser Wörter" unterworfen wird. Auf diesem Weg wird man an sexistischen und rassistischen Verhältnissen jedenfalls nichts zu ändern vermögen.
Helfen können hier (vielleicht) konkrete Maßnahmen, wie sie zum Beispiel die Berliner Festspiele unternehmen: Sie haben nicht nur die Theatertreffen-Jury in einen Workshop zu Critical Whiteness und strukturellen Rassismus geschickt, auch das Team des Theatertreffens selbst unterzieht sich seit diesem Herbst regelmäßigen Coachings zu diesen Themen. Zudem haben die Festspiele seit 2016 eine Arbeitsgemeinschaft von Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Abteilungen eingerichtet, die sich mit Diversitätsentwicklung im weitesten Sinne beschäftigt. In drei Workshops auf freiwilliger Basis hat man sich mit Rassismus befasst, zwei weitere zu Fragen der machtkritischen Sprache und der kulturellen Aneignung sind in Planung. Überaus bemerkenswert, dass eine Institution wie die Berliner Festspiele sich selbst als lernbedürftig begreift.
Helfen würde (hoffentlich) für den Theaterbetrieb auch die Schaffung einer allgemeinen Anlaufstelle für alle von Sexismus und Rassismus Betroffenen, die nicht in den Theatern selbst, sondern als unabhängige Instanz zu etablieren wäre, vielleicht einzurichten von einer Initiative wie dem Ensemble-Netzwerk. Denn über die konkreten Fälle von Sexismus und Rassismus lässt sich weder "in den Medien" noch innerhalb des Abhängigkeitsgefüges einzelner Theater reden, sondern nur dort, wo man nicht fürchten muss, zur Projektionsfläche oder zum Sonderfall gemacht zu werden.
Dirk Pilz ist Redakteur und Mitgründer von nachtkritik.de. In seiner Kolumne "Experte des Monats" schreibt er über alles, wofür es Experten braucht.
Zuletzt begutachtete Dirk Pilz an dieser Stelle die Mauer in den Köpfen der Deutschen.
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Wenn Sie zu einem Workshop zu Critical Whiteness gehen, Herr Pilz, wie gebrauchen sie dort das Wort "weiß"/weiß?
Diese einfachen Sätze sind die Essenz aus der Grundlage einer ungerechten Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, die „wir“ allseits betreiben. Selber schuld! Kann man da nur sagen. Obschon wir wissen, dass diese Gesellschaft ungerecht ist, und Sexismus und Rassismus und vieles mehr die Hefe dieser Ungerechtigkeit darstellen, darf es mir nie widerfahren, dass ich ungerecht behandelt werde oder wurde. Es ist existentiell wichtig, dass ich immer die Nase vorne habe und im Problemfall mich für die Opfer und gegen die Ungerechtigkeit engagiere. Auch diese Lebensleistung muss eigenverantwortlich erbracht werden. Auch damit stehe ich weitgehend allein, außer, eventuell, ich arbeite in einem Betrieb, wie den Festspielen. Und trotzdem gruselt es mich bei dem Gedanken an solche Coachings.
Warum?
Auch dort werden in der Hauptsache drei Rollen besetzt: Opfer. Täter. Retter.
Fällt ihnen, neben dem, dass ich mich einer sehr einfachen Sprache bediene, etwas an dem letzten Absatz auf Herr Pilz? - Ich finde ihren Text sehr fein, gut geschrieben, sehr klug beobachtet, und doch eben nachlässig.
Opfer. Täter. Retter. Alles maskuline Formen, wobei es rein sprachlich keine weibliche Form von „Opfer“ gibt, was schon erstaunlich ist. Sehr wohl aber gibt es Täterinnen und Retterinnen.
Wie kann ich es Ihnen, trotz ihrer von mir anerkannten Klugheit, nur mit einfachen Worten vermitteln, dass es nicht heißen kann, es gäbe einen „Rassismus ohne Rassisten“ und einen „Sexismus ohne Sexisten“. Sie wählen in beiden Fällen eine maskuline Form und das gehört zur klassischen Rollenverteilung eben auch dazu und ist ein nicht unerhebliches Problem, denn es verhindert praktische Solidarität
Ich versuche das schon seit geraumer Zeit, leider mit nur mäßigen Erfolg, wie ich an ihrem Artikel erkennen kann, deutlich zu machen, die erste Frage ist, bin ich selber betroffen? Für mich kann ich das in beiden Fällen, sowohl den Sexismus, wie den Rassismus betreffend mit einem „Ja“ beantworten. Da ich selber betroffen bin, habe ich eine überlebensnotwendige Sehnsucht nach Veränderung. Nur fallen mir in ihrer Sprachwelt leider offiziell nur zwei Rollen zu, entweder „Sexist“ oder „Rassist“, im schlimmsten Falle männliches Opfer. Geht gar nicht. Ich muss ein Retter sein. So wie sie. Ich darf kein Opfer sein. Ich bin ein Mann.
Verstehen Sie mich Herr Pilz? - Sie leiten einen Masterstudiengang für Kulturjournalismus. Es liegt mir fern Ihnen zu nahe zu treten, aber kann es sein, dass es in der Sprachfindung ihres Artikels etwas veränderungswürdig wäre? Praktisch gefragt: War Leni Riefenstahl nicht auch eine Rassistin? Und darin kein Einzelfall?
Ich stoppe hier. Nur eines noch. Wenn die Frontlinien weiterhin traditionell zwischen den Geschlechtern verlaufen, und auf der einen Seite die Frauen stehen und auf der anderen Seite einzig die Männer als Täter, Sexisten und Rassisten (oder Retter) wird es auch weiterhin erhebliche Probleme bei der Ausübung von praktischer, geschlechterübergreifender Solidarität geben.
ich meine, Sie zu verstehen. Aber ich sehe doch ein Missverständnis, denn um "Frontlinien" war es mir gerade nicht zu schaffen,im Gegenteil habe ich versucht, eben dieses Linien zu verlassen. Es ist mir offenkundig nicht gelungen, und Sie haben recht, dass die Sprachfindung zu verändern ist. Ich werde es versuchen.
herzlich,
Dirk Pilz
Gerade in der Frage der Markierung von Geschlecht in der Debatte lohnt es sich aber m.E., Rassismus und Sexismus nicht als irgendwie identische Probleme zu setzen, wie es Herr Pilz gleich im ersten Satz mit einem lockeren "also" tut. Die folgenden Missverständnisse sind erwartbar: Rassistinnen als solche zu benennen bedeutet für ein Reden über Sexismus nämlich deutlich etwas anderes als über "Sexistinnen" zu sinnieren.
"Eine Kunstausstellung in der Mensa der Universität Göttingen wurde kürzlich nach Sexismus-Vorwürfen abgehängt. Anlass für einige Überlegungen zur neuen Kunstfeindschaft, Hypersensibilität und Prüderie"
https://www.heise.de/tp/features/Beim-Sexismus-und-der-Zensur-soll-das-Ich-entscheiden-3898738.html?seite=all