Die Möglichkeit einer Insel - Berliner Ensemble
Die Unerträglichkeit des Alterns
von Hartmut Krug
Berlin, 9. Oktober 2019. Der leuchtende Schriftzug "L'éternité" schwebt vor offener, leerer Bühne auf und ab, während ein alter, schwacher Mann seinen winzigen Hund Fox hinter sich herzieht und über sein vergehendes Leben räsoniert: "Im abnehmenden Licht sehe ich ohne Bedauern zu, wie die Menschheit verschwindet." Wer verdient das ewige Leben, ist die offene Nicht-Frage, denn der Mensch kann sein Glück nicht finden.
Verhüllung
Der Mann bekundet mit leichter Traurigkeit, "dass er sterben wird", weshalb er nach längerem Rückblick auf sein Leben auch immer schwächer wird und tot zu Boden fällt. Hinter ihm hängen riesige Blumen ihre offenen blauen Blüten über das Bühnengeschehen, so wie sie es in anderer Farbe auch in späteren Szenen tun, und ein Pandabär sitzt funktionslos im Hintergrund. Für diesen Bühnenschick ist Regisseur Robert Borgmann verantwortlich. Er lässt die auftretenden Personen immer wieder mitten im Geschehen von auf und ab wandernden weißen, dünnen Wänden verhüllen und enthüllen. Was genau die Personen miteinander sprechen, wird so nicht immer deutlich. Das ist Absicht.
Der Abend ist aus mehreren Begegnungsszenen gebaut, in denen Menschen auf die Vergangenheit schauen. Regressive Utopie herrscht, wenn die Erzähler, ob Peter Moltzen als Daniel 1 oder Jonathan Kempf als dessen fünundzwanzigster Nachfolger, mit etwas Sehnsucht auf die untergegangene Zeit zurückschauen. Zuweilen kommen Schauspieler aus dem Zuschauerraum, diskutieren am Bühnenrand, sprechen das Publikum an und grübeln über ihre Situation nach, wobei sie gern anmerken an, dass sie schrecklich viele Texte zu sprechen haben. Das alles besitzt weniger tieferen Sinn als lockere Unterhaltsamkeit. Und dass manchmal jemand im leuchtenden Licht aus einer Loge herausspricht, ist auch nur äußerlicher Effekt.
Effekt statt Erkenntnis
Nicht immer wird auf Verständlichkeit geachtet. So, wenn undeutlich Englisch gesprochen wird und selbst die deutsche Übersetzung, weil in weiß auf weißem Untergrund gezeigt, dem Zuschauer in einer mittleren Reihe keine Verständnishilfe gibt. Auch hier setzt die Inszenierung mehr auf Effekte als auf Erkenntnis.
Wolfgang Michael allerdings gelingt ein wunderbarer langer Auftritt, wenn er zwischen Ironie und wahrer Einsicht dem Publikum seine Erleuchtung vermitteln will. Dabei schwankt er, ganz vorn an der Rampe nahe beim Publikum, zwischen ernstafter Erklärung des Lebens und selbstironischem Lachen hin und her. Und so bekommt jede*r Darsteller*in einen kleinen oder größeren Bedeutungsauftritt. Hervor sticht Constanze Becker in zwei Frauenrollen, wenn sie, ganz in Weiß, über die Schwierigkeiten des Lebens nachdenkt. Die Inszenierung versucht deutlich nicht, Houellebecqs "Die Möglichkeit einer Insel" nachzuerzählen, sondern sie umkreist die Frage, wie wir in dieser Welt leben können, ohne ein Motiv zu haben. Natürlich gibt es auch eine längere Passage, in der von einer Sexorgie erzählt wird. Sie wirkt auf merkwürdige Weise überflüssig.
Herr und Hund
Dennoch überzeugt der darstellerisch enorm kraftvolle Peter Moltzen mit der Figur eines traurigen Komikers und Showmans. Er erlebt zwei am Alter und am Altern der Beteiligten scheiternde Liebesbeziehungen. Der lang erfolgreiche Mann wird zum Aussteiger. Als Neo-Mensch macht sich der 25mal inkarnierte Daniel mit seinem kleinen Hund auf die Suche nach neuen, anderen Wesen. Doch in der postapokalyptisch verwüsteten Welt trifft er nur auf Wilde, die seinen Hund massakrieren und töten. Seine eigene Zukunft in dieser Wildnis bleibt offen.
Robert Borgmanns Inszenierung findet in vielen kleinen Szenen eine Deutlichkeit, ohne die Romanvorlage einfach nur nachzuerzählen. Das ist oft unterhaltsam, auch wenn die Aufführung sich zuweilen zu sehr aufplustert.
Die Möglichkeit einer Insel
nach Michel Houellebecq
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Rashad Becker, Licht / Video: Carsten Rüger, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Peter Moltzen, Wofgang Michael, Jonathan Kempf, Constanze Becker, Cynthia Micas, Gerrit Jansen, Sina Martens.
Premiere am 9. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.berliner-ensemble.de
Von einem "erstaunlichen Houellebecq-Abend mit erfreulich weitmaschiger Texttreue" berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (11.10.2019). Borgmann gebe sich nicht den "feuchten Altmännerfantasien" des Romans hin, sondern finde "etwas viel Interessanteres darin: die Verführbarkeit, auch die Verführungskraft der Kunst selbst“. Houellebecq frage: "Was ist Glück, Völlerei oder Leere?" Borgmann dagegen "kondensiert etwas Intelligenteres daraus und fragt mit allen Mitteln der Bühnenkunst: Was wird uns als Glück verkauft? Was sehen wir, was wollen wir sehen?"
"Robert Borgmann gelingt es, den Stoff in Bilder von teils sphärischer Schönheit zu übersetzen. Das ist mal unterhaltsam und mal rätselhaft, auch verstörend“, schreibt Jakob Hayner von der Jungen Welt (14.10.2019).
"Borgmann klebt nicht an der Vorlage, versucht sie eher in Bilder und Stimmungen zu übersetzen. Mit einem grandiosen Ensemble, das den Abend durchaus sehenswert macht. Am extrem geschwätzigen Roman und seinem mageren Inhalt scheitert die Inszenierung jedoch", schreibt Ulrike Borowczyk von der Berliner Morgenpost (11.10.2019).
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Die Inszenierung wirkte auf mich vollkommen uninspiriert, banal, langatmig, beinahe einschläfernd. Es kommt äußerst selten vor, dass Zuschauer ihr Smartphone im Theater rausholen, um Kurznachrichten zu tippen. In meiner direkten Nachbarschaft waren gleich zwei Menschen damit beschäftigt. Der Witz daran: Ich war ihnen nicht mal böse, dass sie mich mit ihren leuchtenden Displays abgelenkt haben. Ich war ein wenig eifersüchtig, denn ich hätte mir lieber ein paar Panda-Videos bei YouTube angesehen, als den Brei auf der Bühne.
Ich hatte sehr viel mehr erwartet. Borgmanns Inszenierung von Götz' "Krieg" war ein Fest, ein Feuerwerk, ein Schauspiel, das mich am Ende hat begeistert aufstehen lassen. Krieg steckte voller frischer Ideen, war zwar mitunter überladen, teils unverständlich, aber zu jeder Zeit vom Spaß an der Erkundung des Stoffs und des Theaters im Allgemeinen getrieben. "Insel" war all das nicht.
Auch teile ich das Lob an Peter Moltzen nicht. Sein langer Auftritt vor der Pause war für mich letztlich ausschlaggebend das Theater zu verlassen. Sein Spiel hat mir gar nicht zugesagt. Hinzu kam ein Text, der beinahe beleidigend infantil wirkte. Feuilleton-Anbiederung vom Feinsten. Ein vermeintliches Erfolgsrezept junger Autoren/Regisseure: Streu ein wenig Foucault, Beuys, Derrida und Duchamp ein, mach ein paar Witze drüber, die leicht zu verstehen sind und am Ende werden alle begeistert lachen. Nur schade, wenn der Schauspieler dann von einem Michael Handke spricht (eine interessante Mischung aus Michael Haneke und Peter Handke) und sich erst im zweiten Anlauf zu korrigieren weiß.
In einem uninspiriert wirkenden Ensemble konnte lediglich Constanze Becker und Wolfgang Michael glänzen. Becker könnte aber auch einen Stein spielen und würde meine Begeisterung hervorrufen. Ein unglaublicher Glücksgriff für das BE. Hoffentlich bleibt sie noch viele Jahre. Und Wolfgang Michael ist sowieso die coolste Sau im Haus :)
Becker hatte bereits die andere schwache Premiere dieser Spielzeit etwas erträglicher machen können: Felix Krull.
Die aktuelle Spielzeit beginnt (mit Ausnahme von Baal) nicht sonderlich vielversprechend. Hinzu kommt, dass mir die neuen Ensemble-Mitglieder noch nicht zusagen. Auch schmerzt der Abgang von Aljoscha Stadelmann, der witzigerweise ausgerechnet in Bergmanns Inszenierung von Götz' Krieg seine stärkste Leistung abgerufen hat.
Aber wie gesagt: Ich habe das Stück in der Pause verlassen. Meine Kritik bezieht sich darum nur auf die erste Hälfte.
Die Neuzugänge im Ensemble sind nicht auf derselben Höhe, wie der Rest des Ensembles, sie wirken nicht organisch zusammen, sondern spielen gegen eine Fallhöhe, die dem Abend nicht gut tut.
Becker, Moltzen, Jansen dagegen zeigen hier Theater und vor Allem Schauspielkunst auf der Höhe der Zeit.
Den Ton gibt Wolfgang Michael, der zurecht in mehreren Kritiken hervorgehoben wurde, mit seiner unnachahmlich-knarzenden Stimme vor. Gleich zu Beginn als Klon Daniel 24 und direkt nach der Pause als der „Alte Prophet“ in einer an die SS erinnernden Uniform hebt er zu langen, bedeutungsschweren Monologen über das Alter, die Einsamkeit und die Kunst an. Das Depressive in Houllebecqs Werk und Leben steht an diesem Abend im Mittelpunkt.
Der Preis, den der Abend dafür zu zahlen hat, ist allerdings erheblich: Unter der schweren Last seiner Melancholie ächzt „Die Möglichkeit einer Insel“ knapp drei Stunden gewaltig und schleppt sich vor sich hin. Drei Schauspielerinnen, die jede auf ihre Art großartig sind, werden zu Nebenfiguren und blassen Stichwortgeber*innen degradiert: Constanze Becker als Boulevard-Journalistin Isabelle und erste Ehefrau, Cynthia Micas als junge Geliebte Esther und Sina Martens als Pop-Art-Künstlerin im Jeff Koons-Stil hinter Ganzkörper-Kostümen versteckt haben gemeinsam, dass sie alle ihr Können nicht zeigen dürfen. Aber auch Peter Moltzen als Hauptfigur „Daniel 1“, ein sexgieriger Starkomiker und typisches Houellebecq-Würstchen, kann dem Abend nicht den notwendigen Drive geben.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/20/die-moglichkeit-einer-insel-berliner-ensemble-kritik/
Womit der Abend wieder bei seinem eigentlichen Thema angelangt wäre: der Wahrheit. Ob es um die Optimierung des Menschen geht, um den Versuch, sich dem Anderen in Liebe oder Zuneigung anzunähern, um die Bedeutung von vorgefertigten Bildern und Urteilen oder eben die Authentizitäts- und Erkenntnbisbehauptung der Kunst: Am Ende steht stets die Frage im Raum, wo sich Wahrheit, echtes Verstehen und damit die Möglichkeit einer Insel, die ein Neuanfang sein könnte, verbergen könnten. Beim Zyniker Houellebecq eine Frage ohne die Möglichkeit einer positiven Antwort – und leider auch bei Robert Borgmann. angesichts des Aufwands, den er treibt, der visuell durchaus spannenden Welten, die er skizziert, der Diskurse, die er führen lässt, eine eher enttäuschende Conclusio. All diese Versuche erweisen sich als Täuschungen, als individueller oder kollektiver Selbstbetrug. Der Mensch bleibt Flickwerk wie der Abend, sinnfrei in die eigene Verblendung steuernd. Und selbst das ist nicht „gut so“, sondern nur einfach „so“. Im Versuch, über den Autor hinauszugehen, seinem text eine Bedeutung zu entlocken, die dieser dort nicht hinterlegt hat, zerfällt der Abend und geht seiner Vorlage und ihrem mitunter zynischen Nihilismus auf den Leim.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2020/01/31/flickwerk-mensch/