Auftauchen mit einer Vision

von Tadashi Uchino

18. August 2021. Während der gesamten Covid-19-Pandemie hat es in Japan keinen Lockdown gegeben, im Sinne der in Europa oder den USA verhängten Maßnahmen – und zwar, weil es kein Gesetz gibt, das so etwas zulassen würde. Zweimal wurde der Notstand ausgerufen, das erste Mal am 7. April 2020 und nochmals am 8. Januar 2021. Der Bevölkerung wurde nahegelegt – nicht vorgeschrieben – zu Hause zu bleiben.

Künstler:innen, die in Japan arbeiten, haben Ende März 2020 aufgehört, Aufführungen live zu zeigen, obwohl es kein gesetzlich vorgeschriebenes Verbot für solche Veranstaltungen gab. Die meisten von ihnen organisierten sich sehr schnell, um die Regierung um finanzielle Unterstützung zu bitten, zusätzlich zu dem allgemeineren Hilfspaket, das die Regierung bereits vorbereitet hatte. Für engagierte Künstler*innen waren diese selbst auferlegten Maßnahmen eine positive Herausforderung, um weiter zu denken und zu arbeiten.

Medienspezifische Aufführungen: Toshiki Okada

Toshiki Okada beispielsweise, ein sowohl in Japan als auch in Deutschland bekannter Dramatiker und Regisseur, hat einige interessante Experimente durchgeführt, die sich mit verschiedenen Medien auseinandergesetzt und zum Nachdenken über die Zukunft von Performance in einem größeren Kontext anregt haben.

Okada zeigte am 28. und 29. Februar 2020 an der New York University die Arbeit "Eraser Mountain", die auf der Idee von Timothy Mortons "Ecology without Nature" (2007) basiert. Aus dieser Idee heraus entwickelte er während der Pandemie eine Reihe neuer Werke mit dem Namen "Eraser Fields", die über Zoom gezeigt wurden. Dabei handelt es sich nicht um Live-Performances, sondern um Aufführungen, die vorher aufgezeichnet wurden, bei denen das Publikum über Video-Chat in einen beschränkten, einsamen Raum mit den teilnehmenden Schauspieler*innen blickt. Kein Wort wird gesprochen, und so wird eingeladen, zu „starren“ und den Geräuschen des Alltags zu lauschen.

Theaterbrief Japan 1 Okada Earser Field ScreenshotToshiki Okadas "Earser Field" © Screenshot

Okada erweiterte seine Idee eines Zoom-Theaters in seiner Arbeit "Ghost and Monster with Unfinished Business", die am 3. Juni 2020 Premiere feiern sollte und zunächst abgesagt wurde – das Stück wurde schließlich im Juni 2021 im Kanagawa Art Theatre in Yokohama live aufgeführt. Die aktualisierte virtuelle Version wurde am 27. und 28. Juni 2020 live auf YouTube uraufgeführt. Dabei handelte es sich um ein "Tisch-Theater", in dem von Zaha Hadid und Monju erzählt werden. Zaha Hadid ist die Architektin des Hauptstadions der Olympischen Spiele in Tokio, und Monju ist ein natriumgekühlter Schnellreaktor, der stillgelegt wurde, noch bevor er in Betrieb genommen wurde.

Die Performance fand in einem physischen Raum mit einem Schreibtisch statt, auf dem Papierbögen in verschiedenen Formen ausgelegt waren. Die Darsteller:innen und Begleitmusiker:innen wurden auf diese Blätter projiziert. Jede:r blieb jedoch an seinem eigenen Platz; die Aufführung wurde nicht separat aufgezeichnet, sondern live über Zoom aufgenommen. Es handelt sich um ein Schreibtisch-Theater im Miniaturformat, doch in dieser YouTube-Übertragung entstand ein Gefühl von "Theater als Raum".

Mit Form experimentieren: Satoko Ichihara

Für einige der jüngeren Künstler:innen-Generationen wurde die Zeit des Lockdown zu einer wertvollen Phase des Nachdenkens und Experimentierens mit unterschiedlichen Formaten und Medien. Satoko Ichihara, eine Dramatikerin und Regisseurin, hat eine ihrer früheren Arbeiten über Zoom wiederbelebt, während Regisseur Jun Tsutsui regelmäßig eine Reihe von Videos auf YouTube hochgeladen hat, die nur aus flüsternden Stimmen bestanden und nur minimal visuelle Bilder beinhalteten. Es gab noch viele andere.

Satoko Ichihara hat am 16. und 17. Mai 2020, als sich die Pandemie noch in einem recht frühen Stadium befand, zweimal eine Onlineversion ihres Stücks "The Question of Fairies" (2017) per Livestream über Zoom übertragen. Die Aufführung war sehr gut vorbereitet und verlief reibungslos, wobei jede:r Schauspieler:n in einem eigenen Videofenster zu sehen war. Obwohl zu diesem Zeitpunkt viele von uns noch nicht daran gewöhnt waren, eine Performance auf einem Computerbildschirm zu sehen, passte Ichiharas monologischer Stil zu dem Gefühl der Einsamkeit, das unweigerlich mit allem einhergeht, was man über Zoom macht.

Am 18. November 2020 wurde ein weiteres Stück von Ichiharas, "Underground Fairy" (2017), unter der Regie von Tara Ahmadinejad aus New York übertragen. Der Livestream wurde von der Japan Society in New York produziert und war eher "theatralisch" als partizipatorisch, da wir zu diesem Zeitpunkt alle daran gewöhnt waren, Theaterstücke live auf dem Bildschirm zu sehen. Die Aufführung fand nicht auf der Bühne statt, sondern an verschiedenen Orten im bespielten Gebäude, um das durch Covid-19 hervorgerufene Gefühl der Enge und Einsamkeit heraufzubeschwören, was wiederum zu Ichiharas monologischer Dramaturgie passte.

Komplexe Erzähltechniken: Suguru Yamamoto

Suguru Yamamoto, Dramatiker und Regisseur des Theaterkollektivs Hanchu Yuei, experimentierte ebenfalls eine Zeit lang mit verschiedenen Formen des Zoom-Theaters, wobei er sich vor allem die Frage stellte: "Was ist Theater?" – eine sehr naheliegende Frage, wie ich finde, wenn physische Aufführungen nicht mehr möglich sind. Das Hauptanliegen seines Zoom-Theaters war offensichtlich, das Gefühl der Theatralität auch im digitalen Format aufrechtzuerhalten, indem er mehrere Videofenster benutzte.

Theaterbrief Japan 4 SuguruYamamoto ScreenshotZoom-Performance von Suguru Yamamoto © Screenshot

Als der Digital Native und Künstler, der er ist, bot Yamamoto verschiedene Arten von "Performances" über das Internet an, darunter Klangperformances und einige kostenlose Aufzeichnungen seiner früheren Performances. Er ging daraus mit seinem neusten Werk hervor, "You Can Eat Banna Flowers", mit voll ausgereiften theoretischen und künstlerischen Visionen. Die Aufführung fand zwischen dem 25. und 28. März 2021 in den Morishita Studios in Tokyo statt. Die Performance wurde vor der offiziellen Aufführung mit sechs Kameras aufgenommen und im April 2021 etwa einen Monat lang digital zur Verfügung gestellt.

Theaterbrief Japan 5 Banana Is Edible Screenshot"You Can Eat Banna Flowers" © ScreenshotUnter Verwendung sehr komplexer Erzähltechniken erzählt "You Can Eat Banna Flowers" eine scheinbar harmlose Geschichte zeitgenössischer Jugendlicher. "Scheinbar" deshalb, weil das Werk die drängenden Fragen über wirtschaftliche Ungleichheit, politische Korrektheit und über den "scheinbar" veralteten Anspruch seines Protagonisten, "die Welt zu retten", stellt.

Als ich das Stück sah, war ich aufrichtig beeindruckt von der kraftvollen Kreativität aufstrebender digitaler Theaterkünstler wie Yamamoto. Ihre Kunst wird die Pandemie auf jeden Fall überleben, denn sie haben so viel, was sie ausdrücken und teilen wollen.

 

Theaterbrief Japan TadashiUchino privatTadashi Uchino ist Professor Emeritus der Universität Tokyo und Vizepräsident des Gakushuin Women’s College in Tokyo. Er forscht und lehrt Performance Studies und ist Redakteur von The Drama Review.

 

 

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau, Antonija Cvitic) und nachtkritik.de (Redaktion: Elena Philipp).

Bislang veröffentlicht sind Theaterbriefe aus Argentinien, Chile, Ägypten, Uruguay, Südafrika und der Türkei.

 
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