Das letzte Feuer - Theater Bremen
Enzyklopädische Trauma-Ballung
23. Februar 2024. Ein Kind ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ist jemand schuld? Oder war es "Schicksal"? Andreas Kriegenburg brachte Dea Lohers Stück 2008 in Hamburg als spektakulär dauerrotierenden Tragödienkreislauf zur Uraufführung. Alize Zandwijk entscheidet sich jetzt für einen völlig anderen Aggregatzustand.
Von Andreas Schnell
23. Februar 2024. Ein Fußball rollt durch eine sanft abfallende Schneelandschaft, stößt an eine kleine Mauer, woraufhin ein weiterer, kleinerer Ball in die Luft geschossen wird und eine Schneeschaufel trifft. Die Schaufel fällt um und setzt einen Schlitten in Bewegung Als wär's ein Stück von Fischli & Weiss, die für ihren Film "Der Lauf der Dinge" einst wenn schon nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzten, dann doch einen irren Apparat von schiefen Ebenen, Flammen, Luftballons und was nicht noch. Eine Kettenreaktion – der Lauf der Dinge eben. Auf der Bühne des Kleinen Hauses am Theater Bremen endet der Lauf, der so schön begann, jäh. Und das ist – versteht sich – kein Zufall.
Schicksal oder Schuld?
Was den Tod des kleinen Edgar angeht, scheint es nicht ganz so eindeutig zu sein. Dass es einfach so passierte, als Folge einer nicht steuerbaren Folge von Aktionen und Reaktionen, wäre schwer zu verkraften. War es also Schicksal – oder wäre es vielleicht zu verhindern gewesen? Mit diesen Fragen lässt Dea Loher in ihrem 2008 uraufgeführten Stück "Das letzte Feuer" acht Menschen ringen, die viel übereinander wissen, aber wenig davon begreifen. Am wenigsten eben jenes tragische Ereignis, an das sie sich nur in trauter Uneinigkeit zu erinnern vermögen. Nicht einmal auf das genaue Datum können sie sich einigen. Sie haben allerdings auch sonst schon eine ganze Menge zu bewältigen: Einer von ihnen wurden die Brüste amputiert, eine ist dement, einer hat aus seiner Zeit bei der Armee ein Trauma mitgebracht, einer ist arbeitslos.
Es ist schon eine desolate Gesellschaft im nicht näher lokalisierten "Glasscherbenviertel", die durch den tödlichen Unfall in Bewegung gesetzt wird. Ludwig Schraube (Martin Baum), der Vater des kleinen Jungen, straft sich mit aussichtslosem Glücksspiel und betrügt seine Frau Susanne (Nadine Geyersbach) mit der brustamputierten Karoline (Annemaaike Bakker). Edna (Karin Enzler), die bei der Verfolgungsjagd auf einen vermeintlichen Terroristen den Jungen totgefahren hat, ist besessen davon, den echten Terroristen zur Strecke zu bringen. Olaf (Matti Weber), der das Fluchtauto fuhr, hat sich von der Menschheit zurückgezogen. Weshalb sich sein arbeitsloser Freund Peter (Levin Hofmann) Sorgen macht. Der traumatisierte Veteran Rabe Meier (Guido Gallmann), der einzige Zeuge des Vorfalls, feilt sich die Fingernägel bis auf die Knochen ab. Während Rosemarie Schraube, Ludwigs Mutter, stets aufs Neue vergisst, dass ihr Enkel nicht mehr lebt.
Der Schnee, durch den die Figuren stapfen, könnte derweil nicht weiter weg sein von jenem heißen Tag im August vor wenigen Jahren (zumindest soweit können sie sich auf ein Datum einigen), der sie alle miteinander verbindet. Aber verstehen? "Verstehen / Davon war nie die Rede", heißt es in "Das letzte Feuer".
Private Hölle
Das klingt so trostlos wie das Setting: Bett, Bad und Ofen, in dem ein Feuer mehr glimmt als lodert, stehen in der Winterlandschaft herum – und trostlos ist es auch noch dann, wenn Loher ihren Figuren, die eher Funktionen der Konstruktion als Charaktere sind, gelegentlich einen Witz gestattet. Alize Zandwijk, die das Stück am Theater Bremen auf die Bühne gebracht hat, gönnt dem Ensemble sogar ein paar ausgelassene Momente mit Schneeballschlacht.
Aber das kann auch nicht verhindern, dass Rabe Meyer und Susanne Schraube, die für einen Moment lang Trost beieinander suchen, sich in einer der intensivsten Szenen des Abends in einer privaten Hölle wiederfinden. Die wird fürs Publikum kaum dadurch erträglicher, dass die Gewalt, die der Text beschreibt, nicht zu sehen ist. Deren vernichtende Wirkung in den Körpern des Paares aber schon: Allein Guido Gallmann kraftlos, mit hängenden Schultern Nadine Geyersbach gegenüberstehen zu sehen, wäre deprimierend genug, während Nadine Geyersbach ihre Verzweiflung bis zum Kollaps ausagiert.
Wo die Figuren miteinander ins Spiel kommen, die Schauspieler*innen tatsächlich spielen können, schafft Zandwijk Szenen, in denen Schmerz und Hoffnungsschimmer miteinander in den Clinch gehen, eine Spannung erzeugen, die der Abend nicht immer hält. Wenn Edna förmlich in Karolines künstliche Brüste hineinkriecht. Wenn Peter berichtet, dass er jetzt einen Job hat, aber seinen Hund Humboldt nun Würger nennen muss, weil das gefährlicher klingt.
Theorie und Lebenspraxis
Zu erwähnen wäre auch noch Matti Weber, der, wenn er nicht als Olaf auftritt, den Abend musikalisch mal mit sanft pulsierenden elektronischen Klängen, mal mit sacht begleitetem Falsettgesang, mal mit kratzigen Tönen von einem archaisch wirkenden Streichinstrument grundiert und so manche Härten ins Elegische überführt. Gibt auch wirklich schon genug von den Drangsalen der Figuren zu sehen und zu hören. Zumal der Abend verglichen mit diversen bisherigen Inszenierungen relativ ausladend geraten ist. Vielleicht trägt aber auch die komplex konstruierte Konstellation in ihrer (relativen) Ort- und Zeitlosigkeit und geradezu enzyklopädischen Trauma-Ballung nicht so weit, die ja auch etwas Fragwürdiges hat: Die große Frage nach dem Sinn schlechthin kann und will Loher freilich nicht beantworten. Während das, was übrigbleibt – weitermachen, auch wenn es wehtut – nicht nur in der Lebenspraxis, sondern auch in der Theorie nicht sehr befriedigend ist.
Das letzte Feuer
von Dea Loher
Regie: Alize Zandwijk, Bühne: Thomas Rupert, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Musik: Matti Weber, Dramaturgie: Sonja Szillinsky.
Mit: Nadine Geyersbach, Martin Baum, Irene Kleinschmidt, Karin Enzler, Annemaaike Bakker, Levin Hofmann, Guido Gallmann, Matti Weber
Premiere am 22. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden 5 Minuten, keine Pause
www.theaterbremen.de
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