Wikinger in Auschwitz

24. Februar 2023. Regisseurin Lily Sykes erdrückt Yasmina Rezas Roman "Serge" mit ihrem Wunsch zur Werktreue. Immerhin stehen jede Menge Stars auf der Bühne.

Von Martin Thomas Pesl

Lilith Häßle und Michael Maertens in "Serge" am Wiener Burgtheater © Matthias Horn

24. Februar 2023. Zu Brahms' beschwingtem "Ungarischem Tanz Nr. 5" hebt sich der Vorhang. Am äußersten Ende einer Stuhlreihe sitzt Michael Maertens eingefallen vor einer Zimmerpflanze, dahinter nummerierte Türen, der Schauplatz offenbar eine etwas altmodische, aber ganz heimelige Wartehalle. Ein "Müsjö Poppöör" wird äußerst französisch ausgerufen. Maertens aber reagiert nicht darauf. Er spricht lapidar nach vorn, schimpft über Innenarchitekten, schildert eine Anekdote aus dem Schwimmbad.

Während man noch feststellt, dass der Burgtheater-Star ohne weiteres ein Kabarettprogramm über die Plagen des Älterwerdens starten könnte, beginnt die Fehlersuche im auf den zweiten Blick doch gar nicht so realistischen Tableau: links Kinderspielzeug und ein Waschbecken, rechts ein Kopf im Wikingerhelm als Bild auf dem Kaffeeautomaten, in der Mitte eine Urne und ein Radio – und die Türen dahinter führen vielleicht nicht in Krankenzimmer, sondern in KZ-Zellen?

Kleiner Geist, großes Ego

Es sind dies die wichtigsten Gegenstände und Symbole aus Yasmina Rezas Roman "Serge", Márton Ágh hat sie in sein Bühnenbild eingebaut. Und Maertens ist keineswegs ein Comedian, sondern Rezas Ich-Erzähler, Jean Popper, der schildert, wie es dazu kam, dass seit Monaten Funkstille zwischen ihm, seiner Schwester Nana und deren Bruder Serge herrscht.

Wie so oft bei der Erfolgsautorin hängt es damit zusammen, dass einige der Beteiligten von kleinem Geist und großem Ego sind. Und dann machen sie auch noch gemeinsam eine Reise, ausgerechnet nach Auschwitz! Serges Tochter Joséphine hatte auf den Spuren ihrer jüdischen Wurzeln die Idee der gemeinsamen Gedenkstättenbesichtigung. Nach der Rückkehr aus Polen scheint das Verhältnis unrettbar zerrüttet – wegen Lächerlichkeiten. Erst im Zuge einer CT-Untersuchung, die ergeben soll, ob Serge todkrank ist oder nicht (in Wirklichkeit ist er der gerufene "Müsjö Poppöör"), kommt es am Ende zur unausgesprochenen Versöhnung.

Es fehlt der dramatische Bogen

"Serge", vor gut einem Jahr erschienen, enthält zahlreiche Dialoge und interessante Charaktere. Doch Obacht: Yasmina Reza hat genügend Erfahrung als Dramatikerin, um zu wissen, warum sie diese Geschichte  nicht in ein Theaterstück gepackt hat. Es fehlt der dramatische Bogen. Auch die Spielfassung des Dramaturgen Andreas Karlaganis und der Regisseurin Lily Sykes schafft keinen. Jeder Mann der Jugendfreundin der Mutter wird beiläufig erwähnt, jeder Nebenstrang aus dem Buch zumindest gestreift, jeder Gedanke Jeans in ein Bild umgesetzt. Berichtet Maertens anfangs von einer toten Taube, regnet es später gleich mehrere solche von der Decke.

Allzu perfekt erfüllt Sykes als Britin das Klischee der "werktreuen Regie". Sie erzählt den Roman in aller Breite und mit einigem Aufwand nach, lässt aber im Dunkeln, warum sie sich dafür interessiert. Ein Gutes hat das: Das Feld gehört einem Star-Ensemble in Bestform.

SERGEYasmina RezaÖsterreichische Uraufführung am 23.02.2023 im AkademietheaterJean: Michael MaertensSerge: Roland KochNana: Alexandra HenkelJoséphine/ Marion: Lilith HäßleMaurice: Martin SchwabZita Feifer / Paulette: Inge MauxRegie: Lily SykesBühne: Márton ÁghKostüm: Jelena MiletićMusik: Jan SchoewerLicht: Michael HoferDramaturgie: Andreas KarlaganisSuper-Duo: Roland Koch und Michael Maertens © Matthias Horn

Besonders einen Onkel wie Roland Koch in der Titelrolle haben wir doch alle. Besserwisserisch und gönnerhaft fühlt er sich stets unrecht behandelt, unverstanden und genervt von der modernen Welt. Unterm Sakko trägt er zum Auschwitz-Besuch ein The-Stooges-Shirt, und die Kopfhörer des Audioguides liegen ihm so eng um den Hals, dass er permanent zu ersticken droht, auch weil er sich so aufregen muss. Neben dem sich virtuos danebenbenehmenden Koch ist es ein umso beachtlicheres Kunststück Michael Maertens', als trauriger Biedermann mit Hemd und Pullover nicht an Präsenz einzubüßen.

Fremde Familie

In den Kindheitsszenen – Ausgangspunkt für die wiederkehrende Wikingersymbolik – toben Serge und Jean als Kirk Douglas und Tony Curtis umher. Des Burgtheaters allseits beliebtes Quatsch-Superduo Maertens/Koch ist zurück, und Schwesterchen Alexandra Henkel darf ausnahmsweise auch mitspielen. Ihrer Nana verleiht Henkel ein glaubhaft dünnes Nervenkostüm. Durch Wandelbarkeit beeindruckt Lilith Häßle: In einer Sekunde ist sie die urplötzlich geschichtsbesessene Zwanzigerin, in der nächsten wirbelt sie als Jeans überdramatische Exfreundin Marion doppelt so alt aus einer der Zelltüren.

Am dichtesten wird der Abend, wenn die Figuren durch Auschwitz stolpern, jede auf eigene Art vom Unfassbaren aus der Fassung gebracht. Ansonsten fühlt man sich wie zufällig zur Familie von jemand anderem mitgenommen. Die Vertrautheit der Mitglieder untereinander, ihre Konflikte, ihre Scherze, man verfolgt sie, durchaus mit Sympathie, wo man schon mal da ist. Aber man kommt nicht wirklich mit und fragt auch nicht nach. Geht einen ja eigentlich nix an.

 

Serge
nach dem Roman von Yasmina Reza
Deutsch von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Fassung von Lily Sykes und Andreas Karlaganis
Regie: Lily Sykes, Bühne: Márton Ágh, Kostüme: Jelena Miletić, Musik: Jan Schoewer, Licht: Michael Hofer, Dramaturgie: Andreas Karlaganis
Mit: Lilith Häßle, Alexandra Henkel, Roland Koch, Michael Maertens, Inge Maux, Martin Schwab, Thomas Neumayer/Maximilian Kreuz.
Premiere am 23. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.burgtheater.at

 Kritikenrundschau

"Hier ist die Luft raus!", so das Fazit von Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (24.2.2023). Die Regisseurin Lily Sykes habe mit Andreas Karlaganis eine Bühnenfassung aus Yasmina Rezas gleichnamigem kurzen Roman gemacht, "die aber nicht an die Schärfe heranreicht, mit der die Bestsellerautorin in ihren tollsten Stücken (wie etwa "Der Gott des Gemetzels") die bessere Gesellschaft sarkastisch zerlegt. Geworden ist daraus bei allem Können des daran beteiligten Burgtheater-Ensembles eine Komödie voller platten Gewitzels, der dennoch das robuste Agieren in tollen Lustspielen fehlt." 

"Der Applaus war wohlwollend, gelungen ist die Inszenierung aber nicht", schreibt Margarete Affenzeller in der Wiener Tageszeitung Der Standard (24.2.2023). Weder die Bühnenfassung noch die Regie von Lily Sykes können die Kritikerin überzeugen. "Ergeben die verzweigten Schilderungen der zum Teil bereits verstorbenen Familienmitglieder im Roman noch ein dynamisches Tableau, so kommen im Akademietheater die in einem Warteraum mit vielen Türen stationierten Figuren bei ihren Zeiten- und Schauplatzwechseln ins Straucheln. Erzähler Jean (Michael Maertens), seine Schwester Nana (Alexandra Henkel) und Serge (Koch) spielen sich umsonst die Hacken ab."

"Rezas kluge Reflexionen über Familie, Liebe, Erinnerung und über den Umgang der Nachgeborenen mit dem
Holocaust fallen weg, wenn nur Dialoge möglich sind. Das Resultat ist ein matter Abglanz vom Werk der 63-Jährigen", schreibt ein gelangweilter Thomas Goetz von der Kleinen Zeitung (24.2.2023). Der Roman nähere sich seinem heiklen Thema subtil, witzig und nuanciert. "Das Stück begnügt sich mit ein paar Pointen." Der Kritiker lobt die Schauspieler, die Regie kommt hingegen nicht gut weg.

"Die Bühnenfassung, die Regisseurin Lily Sykes und Dramaturg Andreas Karlaganis gemeinsam erstellt haben, bleibt eng beim Roman und erweckt mitunter den Anschein, als sei Reza selbst die Lust an ihren Spitzen vergangen", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.2.2023). "Das Pingpong an Bösartigkeiten, das sie für gewöhnlich mit viel Gefühl für das richtige Timing in ihren Dialogen ablaufen lässt, nimmt zwar immer wieder kurz Fahrt auf, verebbt dann aber rasch wieder." "Etwa die Hälfte des zweistündigen Abends ist vergangen, das Publikum hat alle Hoffnung auf eine gut geölte Familienbühnenschlacht als Boulevardkomödie fahren lassen, Nana, Serge, Jean und Joséphine sind mittlerweile in Auschwitz, da kommt der Abend allmählich zu sich selbst", so der Eindruck dieses Kritikers.

Das Leben sei hier im Akademietheater "ein Abgrund, in den man lieber nicht zu tief hineinblickt – was dem Stück etwas Vages, Unfertiges, Verzagtes gibt", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (9.3.2023). "Die große Komödie der Gegenwart über jene angeblich verschwindende Lebensform, die Familie" sei "Serge" jedenfalls nicht, dafür herrsche hier zuviel "Unterdruck", aber Michael Maertens ragt für Kümmel trotzdem heraus.

Kommentare  
Serge, Wien: Enttäuschend
Auf der Bühne war das einfach nur schlecht. Weder das Stück (ist es überhaupt eines?) noch das Bühnenbild und schon gar nicht die Regie haben den Abend irgendwie interessant gemacht.

Ich hab mich in dieser Theatersaison sehr auf Yasmina Reza gefreut und bin seeeehr enttäuscht worden.

Hoffentlich kommen bald bessere Aufführungen
Serge, Wien: Überraschungslos
Schließe mich dem Eindruck des alten Theaterfreaks an. Außerdem machen mir Koch und Maertens in ihrem mittlerweile komplett überraschungslosen Spiel auch keine Freude mehr : sehr abgezirkelt , eitel und ans Publikum ranschmeißend das alles. Allerdings bezweifle ich, dass diesem Stück bessere Inszenierungen folgen werden. Vielleicht liegt das Stück nicht ohne Grund schon etwas länger in den dramaturgischen Schubladen .
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