Götz von Berlichingen - Residenztheater München
"Ein Rülpser der Besitzstandswahrung"
31. März 2023. So viel Rüstungsblech war am Theater lange nicht, und wenn sich Götz von Berlichingen und sein Raufkamerad Sickingen verbal vom Fehdeverbot zum Redeverbot hangeln, fällt die Live-Band mit Punkrock über die Bühne her: Alexander Eisenach hat sich Goethes Ritterdrama vorgenommen, um über Recht und Freiheit nachzudenken.
Von Silvia Stammen
31. März 2023. Kurz vor Schluss ist Götz tatsächlich für einen Augenblick mitten in der Revolution gelandet, in ihrem bösesten Stadium, da, wo das Morden schon Methode geworden ist, und spricht mit Worten aus Heiner Müllers "Mauser", die man hier nicht erwartet hätte: "Ich habe den Tod ausgeteilt / An die Feinde der Revolution / Wissend, das Gras noch / Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt." Ein Moment des Erkennens, den der 25-jährige Sturm-und-Drang-Goethe seinem rebellischen Helden wohl nicht hätte zumuten wollen. Bei ihm sind die aufständischen Bauern, die Berlichingen zu ihrem Führer machen, am Ende kaum mehr als brandschatzendes Gesindel, noch nicht reif für die Freiheit.
Bis zur Hochphase der Guillotine in Frankreich sind es noch gut zwei Jahrzehnte. Und auch im Münchner Cuvilliéstheater (das es damals schon gab) lässt Alexander Eisenach danach schnell das Arbeitslicht einschalten und zu Frank Sinatras Wohlfühlsong "That's life" mit dem Aufräumen beginnen. Nur Lukas Rüppel, der an diesem Abend einen eher nachdenklichen als handgreiflichen Götz spielt, einen, der sich nach Bedeutung sehnt und nur nicht sicher ist, woran die festzumachen wäre, sitzt noch etwas lost vorn an der Rampe, während ihm die Kollegen im Vorbeigehen freundlich auf die Schulter klopfen.
Szenenapplaus für Ritter-Slapstick
Eisenach, der mit seinen klimawissenschaftlich unterfütterten Antikenbefragungen "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" (2021 an der Berliner Volksbühne) und erst kürzlich in Kassel "Anthropos Antigone" den Kreis zu schließen versucht von der philosophischen Konstruktion individueller Verantwortung zum kollektiv-aktivistischen Impetus, macht sich hier anhand von Goethes Ritterstück Gedanken um die Freiheit: sei es als regressives Denkmuster einer überprivilegierten, bürgerlichen Klasse, sei es als formsprengendes Experiment, wie Goethe es in seiner Rede zum Shakespeare-Tag aus dem Jahr 1771 beschwört, und greift dazu mit beiden Händen in die Trickkiste seiner klug und überbordend kombinierenden Unterhaltungskunst.
Schepper, quietsch, krach, bumm!! – lang hat man nicht mehr so viel Rüstungsblech auf einer Bühne gesehen. Es beginnt mit einem klassischen Slapstick, für den Hanna Scheibe als Ritter Liebetraut bereits nach fünf Minuten Szenenapplaus bekommt, wenn sie sich in Helm und Harnisch durch die schmale Tür im Eisernen Vorhang zwängt, tapfer mit einem Klappstuhl kämpft und dabei gleich mal die Stoßrichtung der Erzählung klarmacht: Mittelalter, Deutsches Reich, Wald, Räuber, Ritter, Burgen und, wohin man schaut, überall Fehden um alles und nichts.
KI-Kunstwerke als surrealer Touch
Lukas Rüppel als Götz mit bleichen Wangen, roten Locken und schwarz gerafftem Wams (Kostüme: Claudia Irro) scheint mit einem leicht irritierten Blick unmittelbar aus einem frühneuzeitlichen Gemälde entsprungen zu sein. Dabei verhält es sich genau umgekehrt: Aus Fotografien der Schauspieler und einem Pool eingescannter alter Meister hat der Videokünstler Oliver Rossol unter Einsatz einer KI namens Midjourney digital generierte Kunstwerke geschaffen, die der ansonsten mit drei romanischen Rundbögen über einem Podest eher sparsam markierten Bühne von Daniel Wollenzin einen surrealen Touch verleihen.
Dazu kommt noch der Punkrock, den die Live-Musiker Benedikt Brachtel und Sven Michelson vor allem zu den Kampfszenen beisteuern oder auch mal zensierend hereinbrechen lassen, wenn Götz und sein Raufkamerad Sickingen (Simon Zagermann) sich gedanklich vom Fehdeverbot zum Redeverbot hangeln und testen, was man denn so sagen muss, um von einem "Scheißesturm" weggefegt zu werden.
Fortschrittsverhinderer auf beiden Seiten
Anfangs scheint Eisenach, der den Text an Goethes Haupthandlungssträngen entlang über weite Strecken neu geschrieben hat, sich noch in die erwartbare Kehrtwendung zu rangieren und Götz und Co. als renitente Wutbürger und Querdenker zum reaktionären Alteisen entsorgen zu wollen. Dazu kommen Carolin Conrad als wild zu allem entschlossene Götz-Schwester Maria und Niklas Mitteregger als verwirrter, zwischen den politischen Fronten schwankender Weislingen, die ihre gemeinsame Verführungsszene mit vertauschtem Text spielen. Aber auch Vincent Glanders vergnügt spachwitzelnder Bischof von Bamberg als ein Gegenspieler Götz von Berlichingens, Myriam Schröders unwiderstehlich intrigante Adelheid und Nicola Kirschs naseweiser Jurist Olearius als Vertreter der modernen Rechtsordnung liefern deren Dekonstruktions-Anleitung gleich mit: Geht es doch beim Recht nie um Gerechtigkeit, sondern um Ordnung, die das Chaos, diese Hybris des Individuums, in Zaum hält, mit dem einzigen Ziel, die Klassenunterschiede zu schützen.
Denn "der blinde Fleck unseres Rechts ist die Ungleichheit", heißt es in Alexander Eisenachs Fassung. "Weil das Gesetz dieser Ungleichheit dient. Weil es diese Ungleichheit braucht, um zu existieren." Kein Wunder, dass unter solchen Umständen das Ziel der vermeintlichen Revolte schon mal in einer verklärten Vergangenheit liegen kann, je nachdem, welcher Status quo gerade aufrechterhalten werden soll.
Das Bestechende an diesem Abend, der manchmal auch ausfranst oder allzu sehr im Ritterspaß badet, ist seine Klarheit in dem Punkt, dass beide Seiten in Wahrheit den Fortschritt vereiteln. Ach ja, und die Freiheit? Auch da ist Eisenach knallhart in seiner Nahdiagnose: "Der Freiheitswunsch in diesem Land ist doch nicht mehr als ein Rülpser der Besitzstandswahrung", legt er dem Bischof in den Mund. Und lässt Goethes rauflustigen Kleinselbstständigen aus dem Spätmittelalter zum Schluss noch einmal im Original zu Wort kommen, mit dem schlichten, bestechend heutigen Satz: "Die Bäume knospen und alle Welt ... hofft." Worauf auch immer – die Freiheit kann es kaum sein, die hat sich im Getümmel der Interessen als Gespenst auf und davon gemacht.
Götz von Berlichingen
von Alexander Eisenach nach Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Claudia Irro, Musik: Benedikt Brachtel und Sven Michelson, Video: Oliver Rossol, Licht: Verena Mayr, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Carolin Conrad, Vincent Glander, Nicola Kirsch, Niklas Mitteregger, Lukas Rüppel, Hanna Scheibe, Myriam Schröder, Simon Zagermann.
Premiere am 30. März 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
"Es ist ein Knaller-Abend geworden, den auch von Deutschunterricht betroffene Schüler lieben werden, ein lustvoller Schlagabtausch, bei dem die Spielerinnen und Spieler ordentlich stürmen und drängen auf der Bühne", vermeldet Christian Lutz in der Süddeutschen Zeitung (€ | 31.3.2023). "In zwei Stunden sieht man einer aufgekratzten Gesellschaft dabei zu, wie sie in scheppernden Ritterrüstungen um den diffusen Begriff der Freiheit ringt und sich in hoher Geschwindigkeit um Kopf und den buchstäblichen Kragen debattiert."
Für Anne Fritsch von der Abendzeitung (1.4.2023) "gibt es kurz gesagt ein bisschen Monty Python's, ein bisschen Goethe und ganz viel Eisenach. Viel auf die Ohren also und auch auf die Augen an diesem zweistündigen kompakten Abend. Und doch: manch ein Effekt ist dann einer zu viel, all der Popanz täuscht nicht wirklich darüber weg, dass diese Inszenierung irgendwie doch ziemlich krude ist."
"Apropos Spielen und Spaß. Ersterem hat sich das Ensemble mit Hingabe verschrieben und sorgt so für Letzteren beim Publikum. Und da der 'Götz' zudem kräftig spektakelt, ist diese Produktion eben auch großer Rittersport mit Kampf, Chaos, Feuer, Slapstick. Doch funktionieren selbst leise Momente", schreibt Michael Schleicher im Merkur (31.3.2023) und hebt insbesondere Lukas Rüppel in der Titelrolle hervor, "der den Ritter als durchaus nachdenklichen Vokuhila-Volker formt und als Sänger dem Affen Zucker gibt".
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