Im Kreis zu sich selbst

7. April 2023. Wenn man sich immer wieder häutet, welcher Kern tritt am Ende zutage?  Regisseurin Lilja Rupprecht schickt die Titelfigur in Henrik Ibsens "Peer Gynt" auf eine wahnsitzige wie egomane, reich illustrierte Reise. Und hat dafür mit Amelle Schwerk eine großartige Schauspielerin.

Von Katrin Ullmann

In psychedelischen Welten: "Peer Gynt" von Lilja Rupprecht inszeniert am Schauspiel Hannover © Katrin Ribbe

7. April 2023. "König, Kaiser will ich werden!" ruft er. Und ist doch nur ein Träumer? Bockreiter, Braut-Entführer, Kapitalist und Prophet wird er sein, und auch ein halber Troll, ein Aufschneider, ein Sklavenhändler, ein Schiffbrüchiger. Hundert Leben lebt er in einem und ist am Ende nur er selbst. Eine Zwiebel ohne Kern. Ein kleiner Mensch auf der Suche nach dem wahren Ich. Amelle Schwerk spielt, ist Peer Gynt. Auf Anne Ehrlichs lackschwarzer, minimalistischer Bühne. Und über weite Strecken wünscht man sich das Stück als Monolog von Schwerk.

Dieses Stationendrama, das seine Titelfigur von Norwegen nach Ägypten und Marokko reisen, über Weltmeere segeln, Herzen brechen und Menschen verheizen lässt. Das von einer surrealen Trollwelt erzählt und von Schlittenfahrten, von Glaubenswilligen und von Kriegstreibern; und in der Inszenierung von Lilja Rupprecht immer wieder Assoziationen in die egomane, kriegerische Gegenwart aufblitzen lässt.

Wilde Suche zu sich selbst

"Wild und formlos" nannte Henrik Ibsen seinen "nordischen Faust", den er 1867 schrieb und für den er sich reichlich aus dem Fundus der norwegischen Volksdichtung bediente. In die Kostüme strickt Christina Schmitt so manche Anleihen aus Norwegen. Gleich und gesichtslos zeigt sie die Dorfgemeinschaft in grobmaschige Sturmhauben gehüllt. Im Chor sprechend verachten sie Peers untätiges, fantasierendes Ich, lachen ihn hell und blechern fort aus ihrer Enge. Woraufhin er in die Berge aufbricht, bei Trollen mit platinblonden Langhaarperücken landet, später bei rauchenden, übermenschlich groß projizierten Kapitalisten, noch später in einem Irrenhaus in Kairo und so weiter.

Peer Gynt6 Katrin RibbeKönig oder Träumer? Amelle Schwerk als Peer Gynt in Hanover © Katrin Ribbe

Peer reist im Kreis und doch nicht zu sich selbst. Auf der Suche nach seinem Ich versucht er viel. Und Rupprecht gestaltet diese Reise recht illustrativ. Jede Szene hat ihre Attribute, hat Tüll, Live-Musik (Fabian Ristau), Live-Video (Tobias Haupt) und oder Tanz, hat psychedelische Projektionen, schrullige Choreografien und eine mit Spiegeln verstellte Drehbühne. Die acht Spieler*innen - außer auf Amelle Schwerk und Sabine Orléans als ihre Mutter Aase sind sie in wechselnden Rollen zu sehen - haben viel zu tun. Die Ankleider*innen hinter den Kulissen ebenso.

Macht- und Lebenshunger

Rupprecht begegnet der Ibsen’schen Ich-Suche mit Ironie und Humor, sie persifliert und überhöht. Da tritt die wartende Solveig gleich als halbes Dutzend auf, servieren die queeren Trolle Pommes mit Cola, singen die Anhänger des Gynt-Propheten mit albern heiseren Fistelstimmen. Amelle Schwerks Gynt trägt mal Unterwäsche, mal Anzug, mal Sonnenbrille. Mal ist sie großkotzig, mal zweifelnd, mal verführerisch, mal naturverliebt, mal lässig, mal träumerisch. Eines aber ist Schwerk immer: unfassbar gut.

Peer Gynt1 Katrin RibbeZuhause vor nordischen Berglandschaften: "Peer Gynt" © Katrin Ribbe

Mit dieser grandiosen Darstellerin begibt man sich nur zu gern auf jene wahnwitzige, narzisstische Reise, folgt ihrer Fantasie und ihrer Erzählung. Ihrem Macht- und ihrem Lebenshunger. Mit hoher Durchlässigkeit und einem unwiderstehlichen Sog spielt Schwerk diese eigentlich unsympathische Figur. Mit all ihrem Narzissmus, ihrer Tragik und ihrer permanenten Suche, mit all ihren existenziellen Fragen nach dem Woher, Wohin und Warum.

Wo war ich?

"König, Kaiser!" wollte Peer Gynt werden. "Wo war ich?" wird er am Ende des Abends fragen. Überall und nirgendwo und doch weit gereist. Mit Amelle Schwerk war man auf einer surrealen Traumreise und einem schlimmen Egotrip und wäre manches Mal am liebsten mit ihr durch einen einzigen großen Monolog gerauscht.

Peer Gynt
von Henrik Ibsen Übersetzung von Gottfried Greiffenhagen nach Christian Morgenstern
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Christina Schmitt, Musik: Fabian Ristau, Video: Moritz Grewenig, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Johanna Bantzer, Nellie Fischer-Benson, Andreas Leupold, Alban Mondschein, Sebastian Nakajew, Sabine Orléans, Tom Scherer, Amelle Schwerk. Live-Musik: Fabian Ristau, Live.Video: Tobias Haupt.
Premiere am 6. April 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de


Kritikenrundschau

"Das Ensemble führt die Zuschauer souverän und mit Witz und vielen Ideen durch die Geschichte des Mannes, der ähnlich wie Goethes Faust die Welt in ihre Schranken weisen will und bereit ist, dafür über Leichen zu gehen," schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (8.4.2023). Dabei entstehen aus Sicht des Kritikers manchmal wahnsinnig schöne Bilder, wie es überhaupt "viel Schönes in dieser Inszenierung" gebe, "die zwei Stunden dauert, sich am Ende aber doch etwas zu lang anfühlt." Denn das Problem an der Inszenierung sei, "dass so vieles nicht erzählt und nicht mal angedeutet wird. "Es könnte politische Dimensionen haben, die über die Feststellung, dass eine Frau hier die männliche Hauptrolle spielen kann, weit hinausgehen." Die Abkehr von so vielem, "was neben Geschlechtergerechtigkeit heute auch noch wichtig wäre", ist für Meyer Arlt "am Ende doch etwas befremdlich."

Regisseurin Lilja Rupprecht nutze "das große Besteck des Regietheaters und setzt es mit chirurgischer Präzision ein," schreibt Stefan Gohlisch in der Hannoverschen Neuen Presse (8.4.2023). "Die Bühne (Anne Ehrlich) mit ihren kaleidoskopischen Spiegelflächen ist eine Brücke in die Unendlichkeit. Jedes der aufwendigen Kostüme (Christina Schmitt) ist ein Partikel Fantasie, die Musik von Fabian Ristau reicht von atmosphärischem Ambiente bis zum Indieschlager, ist ebenso volkstümlich wie distanziert. Die ganze Inszenierung ist kühl und klar und zugleich verschwenderisch, barockes Bauhaus, wenn man so will." Doch das größte Pfund dieser Inszenierung ist aus Sicht des Kritikers ihre Hauptdarstellerin: "Amelle Schwerk wirft sich in alle Facetten dieses entgrenzten Ichs, ist laut und leise, großspurig und kleinmütig, ist Fantast und Fatalist. Ihr zuzusehen ist ein Erlebnis."

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