Die Orestie. Nach dem Krieg - Schauspielhaus Düsseldorf
Wo der Bruder wütet
24. März 2024. Regisseur Stas Zhyrkov erzählt in Düsseldorf mit "Die Orestie. Nach dem Krieg" entlang der antiken Familienmord-Geschichte über Russlands Krieg gegen die Ukraine. Ein Abend, der dem Publikum beklemmend nahe rückt.
Von Dorothea Marcus
24. März 2024. Es wirkt wie eine Utopie: Auf der Krim, im Jahr 2033. Nach qualvollen Jahren ist Putin tot, sein Krieg gegen die Ukraine vorbei, die Ukraine Mitglied in Nato und EU. Zugleich, sagt Regisseur Stas Zhyrkov im Programmheft jedoch, sei jedes Spekulieren über das Kriegsende für die Ukraine schmerzhaft. Hass, Schmerz und Angst seien zu gegenwärtig, eine Haltung zum Frieden momentan nicht vorstellbar.
Schlotternd und angstkeuchend steht der ukrainische Junge Maxim Kirsa-Straubel zu Beginn vor dem Eisernen Vorhang, fast fällt ihm vor Zittern das Handy aus der Hand – ein Bild für das tiefe Trauma des Landes. Der "Erste Innereuropäische Gerichtshof" ist angetreten, um die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber würde sich ein solcher Gerichtshof ausgerechnet das Verbrechen des jungen ukrainischen Soldatenhelden Orest auswählen – der nach dem Krieg seine Mutter Klytaimnestra und seinen Onkel tötet, weil diese den Vater umgebracht haben? So richtig schlüssig ist das Ausgangssetting nicht, dem sich Orest, frisch aus dem Schützengraben gekommen, nun stellen will. Es soll andeuten, wie hoch Recht und Gesetz in Zukunft gehandelt werden mögen, irgendwann.
Orest kommt aus den Schützengräben
Ein Video wird projiziert und zeigt die Vorgeschichte von Orests Muttermord: eine Welt, von Russland besetzt. Unterwürfig bedient Klytaimnestra ihren patriarchalischen Liebhaber im Esszimmer unterm Lampenschirm mit Suppe und Wodka. Leise und stockend spricht sie Russisch, wenn er es befielt: "Mach's mir", sagt er. Doch bevor sie unter den Tisch kriechen kann, kommt Agamemnon, ihr Ehemann, auf Krücken aus dem Krieg – und wird im Off brutal erschlagen. Als Bruderkrieg wird auch der russische Angriffskrieg oft bezeichnet, als umso radikaler, traumatischer und schmerzhafter, weil die Völker vieles aus der Geschichte teilen.
Kalt weht es um die Welt, als sich der Vorhang öffnet und den Blick freigibt auf eine antike Landschaft mit zerbrochenen Säulen. Wissbegierig steht der junge Orest vor seinem Vater im weißen Griechengewand, der ihm eine Lehrstunde in ukrainischem Nationalismus gibt, ihn über die Wichtigkeit von Nationalhymnen unterrichtet. Als sich die Drehbühne weiterdreht, sehen wir, dass es sich um eine ferne Vergangenheit gehandelt hat, eine "archäologische Ausgrabungsstätte" – direkt neben dem Gerichtshof der "Gegenwart", wo eine Journalistin (Pauline Kästner) hektisch in ihr Handy plappert und gleich live vom Prozess berichtet.
Im spröden Setting aus weißen Podesten und blauen Stühlen wird da die Frage verhandelt, ob Orest mit dem Mord eine gerechte Rache an den Feinden seines Volkes begangen hat. Claudia Hübbecker ist die Richterin in folkloristisch angehauchten Rüschen-Ornat, die erst einmal irgendwas mit dem Ex-Mann zu klären hat.
In drastischen Worten erzählt die Staatsanwältin (Friederike Wagner) dann, wie Orest (Jonas Friedrich Leonhardi) seine Mutter mit dem Verdienstkreuz des Vaters folterte, während Orests Verteidigung ausgerechnet von seiner Schwester Elektra (Sophie Stockinger) übernommen wird. Von Orests "posttraumatischer Belastungsstörung" und vom Kriegsrecht spricht sie: "Verurteilen wir diejenigen, die, den Feind töten, um das eigene Heim zu verteidigen? Oder sollten wir sie nicht viel mehr ehren?"
Erinnyen mit Volksliedern
Und dann gibt es da auch noch die Erinnyen, die als Geschworene auftreten: fünf ukrainische geflüchtete Laiendarstellerinnen in grauen, mit weißer Borte abgesetzten Anzügen, die schöne Volkslieder singen oder Reste des antiken Aischylos skandieren. Manchmal sitzen sie aber auch einfach nur zusammen, im hinterhofartigen "Raucherraum" der dreigeteilten Drehbühne, wo sie vapen oder etwas unmotiviert in Opernarien ausbrechen. Oder sich erzählen, jeweils in deutsch oder ukrainisch übertitelt, wie es in der Ukraine auf Tinder läuft, wenn alle Männer weg sind (viele Dick Pics und schweigende Dates).
Doch ihre wahre Funktion, dieser Vorstellung kann man sich kaum erwehren, sind die von geradezu propagandistischen Einpeitscherinnen. Furchterregende Geschichten aus dem Krieg erzählen sie: wie ein von Russen erschossener Nachbar noch im Todessturz langsam fiel, um das Wasser nicht zu verschütten, das er einem Kind brachte. Wie eine Ukrainerin zur Kollaboration mit Russen gebracht wurde, weil ihr Soldatensohn in russischer Gefangenschaft war. Wie eine 14-jährige Ukrainerin das Kind einer Vergewaltigung am Fluchtort Polen nicht abtreiben durfte.
Schreiend, streng und zornig gesellt sich die aus Kyiv angereiste, in der Ukraine bekannte Schauspielerin Vitalina Bibliv zu ihnen, als racheerfüllte "Nachbarin" in traditionellem ukrainischem Gewand. Und irgendwann geht ein schwarz maskierter Soldat dicht an ihnen vorbei, bringt sie zum Schweigen mit einer Herrengeste – und lässt Vitalina mit blutig rotem Mund zurück: eine fast schon unangenehm plakative Vergewaltigungs-Symbolik.
Attacke aufs Publikum
Auch, wenn Orest am Ende wegen Mordes verurteilt wird, auch wenn das Plädoyer der Richterin herzzerreißend davon spricht, wie monströs sich die in den Krieg hineingezogenen Menschen angleichen und dass wir unsere Komplexität erhalten müssen, wenn der Krieg scheinbar alle Zwischentöne vernichtet, lässt der Abend selbst kaum Platz für Zwischentöne. Stellenweise wirkt er, auch wegen der pathetisch deklamierten Aischylos-Sätze, wie eine Art interner ukrainische Propaganda-Erzählung, auf die wir eingeschworen werden: Ja, der Feind ist bösartig – und für seine Opfer gibt es momentan noch keine Heilung, sondern nur die eine Handlungsoption: Kampf und Rache.
Am Ende lachen die Erinnyen über das Orest-Urteil und fallen mit wütenden Fragen direkt die deutschen Zuschauer an: Warum haben Sie ignoriert, dass dieser Krieg bereits im Jahr 2014 begann? Wie soll man mit Lügnern verhandeln, die dich überfallen, und wie sich vor den Toten rechtfertigen?
So richtig hat die Überschreibung des antiken Dramas auf heutige Kriegsverhältnisse nicht funktioniert, fühlt sich inner-ukrainisch und etwas übergriffig an. Beschimpft und ratlos bleiben wir zurück, gefangen im fürchterlich ausweglosen Dilemma, zwischen Ukraine-Solidarität und Kriegs-Überdruss. All dies wird uns noch lange zu schaffen machen.
Die Orestie. Nach dem Krieg
nach Aischylos in Bearbeitung von Tamara Trunova und Stas Zhyrkov
Regie: Stas Zhyrkov, Bühne: Paulina Barreiro, Kostüm: Justine Loddenkemper, Musik: Mariana Sadovska, Video: Matthias Rohde.
Mit: Friederike Wagner, Jürgen Sarkiss, Jonas Friedrich Leonhardi, Sophie Stockinger, Claudia Hübbecker, Vitalina Bibliv, Juliia Birzul, Tetiana Fedishyna, Yuliia Tolochko, Daria Gabarchk, Olha Radvanska, Mila Moinzadeh, Yoaroslwav Ros, Renat Bezpaliuk / Maxim Kirsa-Straubel.
Premiere am 23. März 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.dhaus.de
Kritikenrundschau
"Die pausenlose zweistündige Premierenaufführung ließ niemanden gleichgültig zurück. Den Zuschauern war spürbar klar, dass diesmal kein Spiel geboten wurde, sondern dass sich in antiker Vergangenheit und vorweggenommener Zukunft ein fürchterliches Kapitel der Gegenwart aufblätterte, mit Schauspielerinnen und Schauspielern, denen der Verlust der Ehepartner, das Ende von Freundschaften zwischen Ukrainern und Russen und nicht zuletzt der Verlust der Heimat droht", so Bertram Müller von der Rheinischen Post (25.3.2024).
"Zhyrkovs Inszenierung ist themenreich vollgepackt, verhandelt grundlegend individuelle Rache anhand der 'Orestie' mit aktuellen Schicksalen von vom Krieg in der Ukraine gezeichneten Menschen, die uns auf der Bühne gegenüber stehen“, schreibt Martina Jacobi von der Deutschen Bühne (24.3.2024). "Und sie beweist die Aktualität von Aischylos‘ Klassiker. Die nicht umkomplexe Verschränkung von Original und Neufassung – geschickt szenisch durch die Drehbühne in verschiedene Settings aufgeteilt –, von antiken und gegenwärtigen Rollen knüpft vor allem in der zweiten Hälfte des Abends alle Fäden zusammen und leitet stringent zum Ende (…)."
"Es geht hier weder um die Exkulpation eines Mörders noch um reine pro-ukrainische Propaganda, sondern letztlich um die Frage, wie Entmenschlichung vom Krieg verursacht und katalysiert wird. Wie sie immer neue Gewalt hervorbringt, und um die Frage, wie dieser Kreislauf der Gewalt vielleicht beendet werden könnte“, schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (25.3.2024). "Man wohnt in Düsseldorf einer wütenden, komplizierten Utopie über die herbeigesehnte Zeit nach dem Ukrainekrieg bei, die selbst die Phlegmatischsten und Saturiertesten aus ihrer Wohlfühlzone zerren sollte."
"Ich bin sehr unfroh und ein bisschen ärgerlich über diesen Abend, vor allem weil er theatralisch dem historischen und antiken Rahmen nichts wesentlich Neues hinzufügt“, so Michael Laages von Deutschlandfunk Kultur (23.3.2024). Der Kritiker findet die Arbeit zudem "ein bisschen arg angriffslustig gegenüber einem Publikum, das letztlich für eine Gesellschaft steht, die die seit zwei Jahren stark unterstützt".
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Auch, weil er Fragen stellt, die nach klassischem "rule-of-law"-Liberalismus eigentlich einfach, hier aber zunehmend schwer zu beantworten sind. Auch, weil die Parteinahme für eine Seite eigentlich zu wenig differenziert scheint, aber letztlich dann mit der Frage konfrontiert, für welche Alternative man eigentlich eintritt. Und auch, weil man mit ein wenig Nachdenken direkt zu den Umständen kommt, unter denen eine solche Produktion in einem deutschen Stadttheater für ein deutsches Publikum, aber mit Künstlerinnen und Künstlern, deren persönliche Lebenswirklichkeit vollständig anders von einem Krieg geprägt ist, eigentlich entsteht; was dadurch künstlerisch verhandelbar, sagbar, denkbar wird. Und was vielleicht eher nicht.
Der Antike-Bezug, die tief-berührende Musik, die Spielweise aller Schauspieler*innen, denen es ganz offenbar um etwas geht, macht diese Inszenierung besonders. Es gab langanhaltenden Applaus und standing ovations, ganz sicherlich auch in Solidarität, aber eben auch in Verneigung vor einem bemerkenswerten Kunstwerk.