Kein Pferd muss Bulle sein 

13. April 2024. Proteste an der Universität, nachdem eine Elefantenstatue aus Elfenbein eingeweiht wurde, die Situation eskaliert und die Polizei greift ein: Peter Thiers’ Tierfabel greift aktuelle gesellschaftliche Verwerfungen auf, fragt nach Diskriminierung, Selbstermächtigung und Staatsgewalt.

Von Falk Lörcher

"Zähne und Krallen" von Peter Thiers am Hans Otto Theater, Potsdam © Thomas M. Jauk

13. April 2024. Vollblut ist der leitende Polizeidirektor der Kavallerie. Seine größte Angst: Unkontrollierbare Massen. Als an der Universität eine Statue der renommierten Künstlerin Steinbeiß von einer hochrangigen Politikerin eingeweiht wird, gehen die Studierenden auf die Barrikaden. Ein Fall für Polizeidirektor Vollblut …

Plottwist: Vollblut (René Schwittay) ist ein Pferd, Steinbeiß (Janine Kreß) ist eine Spitzmaus, die Studentin Esra (Laura Maria Hänsel) eine Elefantin. Denn wie bereits der Stücktitel nahe legt, geht es um Tiere. "Zähne und Krallen" von Peter Thiers, 2022 am Theater Heidelberg uraufgeführt, hat jetzt in der Inszenierung von Intendantin Bettina Jahnke am Hans Otto Theater in Potsdam Premiere.

Schlag ins Gesicht

Die Universität, die von Hauskater Justus Niedlich (Jan Hallmann) geleitet wird, steckt tief in der Krise. Ursula Greif (Bettina Riebesel), Adler und korrupte Politikerin mit Giffey-esquer Hochsteckfrisur (Kostüme: Dorit Lievenbrück), überzeugt bei einer Gala Steinbeiß davon, eine Elefantenstatue aus Elfenbein anzufertigen. Das Kunstwerk soll neue  Aufmerksamkeit auf die Universität lenken.

Doch genau das wird zum Skandal, besonders für Elefanten Esra. Denn: "Es ist eine Statue aus den Zähnen von Elefanten. Das ist ein Schlag ins Gesicht aller Tiere, die jahrhundertelang aufgrund ihres Fells, ihres Geweihs, ihrer Zähne, Krallen, ihrer Haut und ihres Fleisches gejagt wurden." Bereits kurz nach der Eröffnung wird die Statue von Spechten zerstört. Es formiert sich Protest, der schließlich in der Besetzung der Hochschule mündet. Remonte (Paul Sies), Vollbluts Sohn und ebenfalls Polizeipferd, sollte für Recht und Ordnung sorgen, wird allerdings von den Tiermassen zu Boden getrampelt und gilt seitdem als vermisst.

Macht- und Ausbeutungsverhältnisse

Zwischen aschgrauen Betonpaneelen nimmt Polizeidirektor Vollblut die Ermittlungen auf, um herauszufinden, was wirklich geschah bei den Protesten. Abwechselnd zu sehen sind Szenen, in denen die Tiere einzeln verhört werden, und Rückblenden – zur Gala, in die Uni oder auf einen Elefantenfriedhof. Auf der Bühne (ebenfalls von Dorit Lievenbrück) stehen vier massive Elefantenfüße, vor denen ein Stoßzahn aufgebahrt ist. Auf einer Seite hängen versetzt drei Monitore von der Bühnendecke, auf denen immer wieder Nahaufnahmen von Tieren oder abstrakte Animationen zu sehen sind.

Vor der zerstörten Elefantenstatue: Hauskater Justus Niedlich (Jan Hallmann) + Kommissar Vollblut (René Schwittay) © Thomas M. Jauk

Zwischen Ermittlungskomödie und Orwell’scher Tierparabel arbeiten sich Stück und Inszenierung sanft an aktuell diskutierten Themen von Diskriminierung über Protest bis zu Korruption ab. Doch durch die Tiermetaphorik verliert die Verhandlung dieser Themen an Präzession, an Aussagekraft. Reale gesellschaftliche Macht- und Ausbeutungsverhältnisse werden tendenziell verniedlicht. Statt um Rassismus geht es um Benachteiligung aufgrund irgendwelcher Tiermerkmale.

Ausgerechnet ein Polizeiverhör?

Elefantin Esra fühlt sich etwa diskriminiert, als ihr in der Unimensa ungefragt Erdnüsse aufs Tablet geschaufelt werden, weil sie aussieht wie eine Elefantin. Sie ist ein Elefantin und sie mag Erdnüsse – was ist also das Problem? Im Verhör mit Esra wird aus dem kämpferischen Slogan "Niemand muss Bulle sein" ein seichtes "Kein Pferd muss Polizist werden" und so weiter. Auf einem Demo-Schild steht einfach nur "Protest", statt eines inhaltlichen Anliegens. Das wirkt eher wie eine Karikatur von Protest.

Die Hufe eines ausschlagenden Pferdes ins Gesicht zu bekommen kann schmerzhaft bis tödlich sein. Als Analogie für massive Polizeigewalt ist das jedoch nur ein halblustiger Euphemismus. Und überhaupt – Aktivismus, Emanzipation und Diskriminierung ausgerechnet von einer Verhörsituationen mit der Polizei ausgehend erzählt? Während die Polizei in Realität den einen zur Durchsetzung ihrer Interessen verhilft, fürchten sich andere bei Protesten, bei Arbeitskämpfen oder allein in ihrem Alltag vor polizeilicher Gewalt – und zwar nicht, weil sie im Wald aufgewachsen sind.

Universität als autoritäre Institution, Korruption, Kritik an neoliberaler Privatisierung sowie unterschiedliche Formen von Diskriminierung: Wichtige gesellschaftliche Themen werden nacheinander humoristisch abgewickelt. Dabei fehlt es nicht nur an inhaltlichem Tiefgang. Durch das Genre Tierfabel geht auch noch einiges an Haltung verloren. So bleibt der Abend unbefriedigend – ein Karneval der Diskurskadaver.

Zähne und Krallen
von Peter Thiers
Regie: Bettina Jahnke, Bühne & Kostüm: Dorit Lievenbrück, Musik: Achim Gieseler, Bewegungsarbeit: Annett Scholwin, Dramaturgie: Bettina Jantzen.
Mit: René Schwittay, Paul Sies, Bettina Riebesel, Jan Hallmann, Janine Kreß, Laura Maria Hänsel, Sophia Hahn.
Premiere am 12. April 2024
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

https://www.hansottotheater.de

Kritikenrundschau

"Mit Tier-Schablonen gelangt man nun einmal doch zu schnell an die Grenzen der Differenzierbarkeit und bleibt allzu leicht bei Thesentheater und Klischees stehen", so Barbara Behrendt im Inforadio / rbb24. "Zudem ist fraglich, ob der Tiervergleich ausgerechnet beim Thema Rassismus angemessen ist. Denn Tiere kann man durchaus in Rassen und Arten unterteilen – Menschen eben gerade nicht. Die aktuelle Diskussion um den Rasse-Begriff im Grundgesetz zeigt genau das. Der Aufklärung erweist man hier eher einen Bärendienst. Doch obwohl das Stück nicht allzu weit trägt, ist es doch schön und ungewöhnlich, dass Bettina Jahnke einem jungen Autor die große Bühne freiräumt – für einen unterhaltsamen Abend, der zumindest zum Nachdenken über unsere Strukturen anregt."

"Selten gehen Ensemblestücke so fair, so ausgewogen mit allen Charakteren um", so Lena Schneider von den Potsdamer Neuesten Nachrichten (14.4.2024). Sie erkennt in dem Stück "ein tierisch verfremdetes Einmaleins in Sachen Identitätspolitik". Zwar zeige die Regie momentweise arg deutlich, in welche Richtung hier gedeutet oder gefühlt werden soll, letztlich aber schaffe 'Zähne und Krallen' einen viel zu oft unmöglichen Spagat erstaunlich gut. "Man fühlt sich anderthalb Stunden lang auf hohem Diskursniveau gut unterhalten."

"Das Stück erweist sich als eine ziemlich krude und als stark konstruierte Geschichte", schreibt Karim Saab von der Märkischen Allgemeinen Zeitung (15.4.2024). Der Erkenntnisgewinn halte sich in Grenzen. "Bei der Auswahl von Gegenwartsstoffen beweist das Hans-Otto-Theater in dieser Spielzeit kein glückliches Händchen."

Kommentare  
Zähne und Krallen: Fabel
Ob die Fabelstruktur, die historisch auch schon bei Äsop natürlich Sachverhalte verkürzt, für einen funktioniert, hängt stark davon ab, ob man sich darauf einlassen kann. Dass der Rezensent schon nicht zu verstehen gewillt ist, was das Problem der Elefantin in der Erdnussszene ist, lässt weit blicken. Ich mochte es.
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