Moise und die Welt der Vernunft - Schauspielhaus Zürich
Malerei in Moll
20. April 2024. Alexander Giesche lädt zu seiner Abschiedsparty. "Theatre kills" lässt er von der Leinwand herab verkünden. Und widmet der Kunstform, der er vorerst den Rücken kehrt, ein letztes melancholisch-malerisches "Visual Poem".
Von Valeria Heintges
20. April 2024. Die Begründung für die Abrissparty, die Alexander Giesche zu seinem Abschied vom Schauspielhaus Zürich feiert, ist schnell geliefert, sie wird im Pfauen des Schauspielhauses Zürich gleich zweimal zu Gehör gebracht. Zum ersten Mal liest sie Karin Pfammatter bei Kerzenschein. Der Text ist nicht lang, umfasst nur vier DIN-A4-Seiten. Er stammt aus "Moise und die Welt der Vernunft" von Tennessee Williams. Die titelgebende Malerin Moise erklärt, sie wolle sich aus der Welt der Vernunft verabschieden. Gerade sei ihr Gönner gestorben, sie habe kein Geld, keine Farbe mehr. Sie ist wohl auch selbst, wie ihre Kerze, "flickering towards its instant of extinction", (ihrem Moment der Auslöschung entgegenflackernd). Aber bevor die Nacht vorbei ist, steigt besagte Party, mit dem Publikum als Partygästen.
Zuerst wird eine Koffer-Kegel-Runde geboten, dann eine Turnstunde. Später werden Sixpack-Plastikoberkörper übergezogen, Leuchtstreifen ins Publikum gereicht (solche, wie sie Giesche auch fürs Pfauenfoyer erdacht hat) und zu "Killing me softly" abgehottet. Dann gibt es "Famous last Words"-Drinks, auch für ausgewählte Gäste, eine Zeichenstunde für 21 Zuschauer:innen (Pause für die anderen), eine Runde Stuhlkreis und den Eingangstext ein zweites Mal zu hören. Und schließlich noch einen Höhepunkt. Aber davon später, sonst sackt die Spannung – und das schadet ordentlichen Partys.
Playlist für die Krisenstimmung
Mit "Moise und die Welt der Vernunft", mit dem sich Williams endgültig als schwul outete und zugleich diese seine Welt beschrieb, feiert Giesche eine Abschiedsparty für sich und eine Abrissparty fürs Theater. Er will nicht mehr Regisseur sein, trotz großer Erfolge, etwa mit dem Zürcher Abend Der Mensch erscheint im Holozän nach Max Frisch. Giesche gehörte zum Kreis der acht Hausregisseure, verließ die Runde aber, auch weil ihm die Kräfte ausgingen. Jetzt ist er zur letzten Pfauen-Premiere der Ära Stemann-und-von-Blomberg zurückgekehrt. Und ließ vorher im SRF-Interview verlauten, dass er die Kunstform Theater für überholt und zu schwerfällig halte. Das klang ein bisschen einleuchtend, aber auch nach Jammern auf hohem Niveau und dann doch eher nach persönlichen Rückzugsgründen. Endgültig klang es nicht. Aber vorerst gilt: Alexander Giesche entzieht dem Theater seine Gunst.
Seine Abschiedsparty hat eine Playlist, die es in sich hat, denn die Songtexte ersetzen die Dialoge. Kann man zuerst nicht oft genug Romys "My mother says: Enjoy your life" hören, werden die Töne sehr schnell immer düsterer. "I can't remember what my dreams are" heißt es im selben Song, "I am too scared to watch the news" oder "anxiety is my old friend". Das steigert sich bald in eine Depression, bis ein lapidares "I am sorry" sogar die Mitarbeit in Guantanamo oder das Bombenwerfen entschuldigen soll ("Crisis" von ANOHNI).
Wie weiter, wenn es wenig Hoffnung gibt?
Wer Schauspielkunst, ausgefeilte Bühnenbilder oder tolle Kostüme erwartet, wird enttäuscht – das erklärt die gelichteten Reihen nach der Pause. Aber Giesche hat sich dieser Art des Theaters schon immer verweigert. Seine "Visual Poems" sprechen weniger den Intellekt an als vielmehr die Lust am Schauen, Hören, Staunen. Dabei geht es ihm nicht (nur) um die persönliche Krise. Sondern um die große Frage: Wie und warum soll man weitermachen, wenn es wenig Hoffnung gibt? Wie können wir die schützen, die anders sind und schutzbedürftig – die Künstler:innen, die Queeren, andere Minderheiten? Braucht es Schutzgitter oder geht es auch weniger exkludierend?
Giesche und seine (mitdenkenden, aber unterforderten) Spieler:innen Karin Pfammatter, Dominic Hartmann, Maximilian Reichert und Thomas Wodianka bauen immer wieder dunkle Momente ein. Die Turnstunde trägt wohl den Titel "Verschiedene Arten, sich vor eine U-Bahn zu werfen". Der Stuhlkreis stellt sie eher aus in ihrem Versuch, der Einsamkeit zu entkommen.
Wanderer im Nebelmeer
Giesche nutzt Bausteine, Motive aus Williams' Roman, um sie in Bilder, Töne, Atmosphäre zu übersetzen. Immer wieder etwa taucht Moises Philosophie der Farbe auf: viel Grau, viel Schwarz, die sie auf ihren Bildern «mit kaum wahrnehmbaren Punkten in Blau hier und dort» begleitet. Auch Giesche malt in Schwarz und Grau, mit wenig Licht, dunklen Stimmungen, einer Schwarz-Weiss-Animation und viel Nebel, in der der Satz "Theatre kills" kurz aufscheint (Bühne Nadia Fistarol, Licht: Christoph Kunz). Aber auch mit blauen Stühlen, einer dicken blauen Turnmatte und einer sehr blauen Lichtstimmung am Ende.
Dann kommt es auch endlich zur Giesche-typischen Großinstallation, wenn in Nebelschwaden eine Plastikschlange zu tanzen beginnt – erinnernd an die ikonische Plastiktüte aus dem Film "American Beauty". Die vier Spieler:innen stehen davor, mit dem Rücken zum Publikum, wie Caspar David Friedrichs Wanderer im Nebelmeer. Alles gut also? Eher nicht. Der letzte Ton, der zu hören ist, ist wieder das Rattern der U-Bahn. Seltener war Depression schöner anzuschauen.
Moise und die Welt der Vernunft
Nach dem Roman von Tennessee Williams
Inszenierung: Alexander Giesche, Bühnenbild: Nadia Fistarol, Kostümbild: Felix Siwiński, Sounddesign: Singoh Nketia, Video: Pata Popov, Grafik: Clemens Piontek, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Bendix Fesefeldt.
Mit: Dominic Hartmann, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Thomas Wodianka.
Premiere am 19. April 2024
Dauer: 2 Stunden, 15 Minuten (eine Pause)
www.schauspielhaus.ch
Kritikenrundschau
Wie Moise aus Williams’ Roman projiziere Alexander Giesche einen privaten Befund von Sinnverlust und Entfremdung "auf die Krankenakte der Gegenwart", schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (20.4.2024). In einer "lockeren Phänomenologie des Zeitgeistes" offenbare sich, "wie nach dem Verlust an Idealen und Zielen, an sozialen und ästhetischen Leidenschaften bloss Banalität und Trivialität zurückgeblieben sind". Der Regisseur verzichte auf formale Stringenz und dramaturgische Geschlossenheit. Revueartig folgten Szenen, Installationen und Videos aufeinander oder gingen ineinander über – Curlingspiel mit leeren Koffern, von einer Plattform auf eine Matratze hüpfen, und das mit "schönen Verrenkungen und Posen der Darsteller". Durchaus überraschend und bisweilen originell, wirke die Multimedia-Aufführung rasch langatmig, manchmal langweilig. "Die thematisierte Banalität und Entfremdung schlägt auf die Inszenierung selbst durch."
Lasse man sich ein auf den finalen Theaterabend von Alexander Giesche, gleite man "allmählich hinein in dieses Brausen", schreibt Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (20.4.2024, €). Giesche gehe in seinem "privatmythologischen, feinnervigen Bildkunstwerk" weit hinaus über das Spiel mit Williams-Referenzen – die Koffer etwa stünden für Moises Rauswurf aus ihrem Elternhaus, weil sie sich fürs Malen entschied – und greife auf "Bühnen-Biografisches" zu. Die Stufen an der Rampe und der Bühnenboden etwa stammten aus dem Malsaal des Schauspielhauses und trügen die Farbspuren der fünfjährigen Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg. Der Tüchertanz am Schluss erinnere "an den unvergesslichen Nebelringe-Reigen von Giesches 'Momo'-Inszenierung", und Thomas Wodiankas schwarzer Monsteranzug zitiere "Afterhour", so Kedves. "Alexander Giesche zelebriert seinen Abschied – and kills us softly with his song."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 03. Mai 2024 12. Festival Politik im Freien Theater läuft 2025 in Leipzig
- 03. Mai 2024 Kleist-Preis 2024 für Sasha Marianna Salzmann
- 03. Mai 2024 Wiener Theatermacher Karl Schuster gestorben
- 03. Mai 2024 Musterklage gegen Salzburger Festspiele abgewiesen
- 30. April 2024 Ehrung für Ulrich Matthes
- 29. April 2024 Theaterneubau in Rostock begonnen
- 29. April 2024 Auszeichnung für Kurzfilmtage-Leiter Lars Henrik Gass
- 29. April 2024 Publikumspreis für "Blutbuch" beim Festival radikal jung
neueste kommentare >
-
Thesen zum Mülheimer Dramatikpreis Vorstoß ins Wesentliche
-
Liveblog Theatertreffen Aktualität der Ringparabel?
-
Liveblog Theatertreffen Halbherziges Pflichtpensum
-
Liveblog Theatertreffen Schweigen unserer Generation?
-
Medienschau Theater-Challenge Es gibt auch Bielefeld
-
Liveblog Theatertreffen Eröffnung mit "Nathan"
-
Pollesch-Feier Volksbühne Antwort an #8
-
Pollesch-Feier Volksbühne Namensnennungen @rabea
-
Medienschau Theater-Challenge Echt jetzt?
-
Musterklage Salzburg Offene Frage
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Der Zauber stellt sich dennoch Zwischendurch ein: immer dann, wenn das Licht, der Nebel, die Windmaschinen etwas „machen“: Bilder zeichnen und einfach schön sind. Und traurig.