Die finnisch-britische Performancetruppe Oblivia
Untertreibungskünstler im Entertainmentbiz
von Esther Boldt
Helsinki, Ende Dezember 2010. Eine Frau joggt auf der Stelle, tapp, tapp, tapp klingt das Stakkato ihrer Turnschuhe. "Well, well, well!", ruft ein Mann mit Hut ihr zu: "Look at you! You're looking good!" Mit einem langsamen Ausfallschritt steigert er seine Begeisterung, reckt die Hände zur Decke, "Wo-hoow!", während sie ihre Hochleistungsperformance intensiviert, indem sie sich um 45 Grad dreht und einmal in die Hände klatscht. Am Rand der Spielfläche wartet eine zweite Frau auf ihren Einsatz, ihren Auftritt, ihre ganz persönliche Showtime. Willkommen bei "Entertainment Island 1", einer skurrilen Show im Boxring von Oblivia. Drei Performer demonstrieren sich und dem Publikum im Zehn-Minuten-Takt Praxen der Ertüchtigung und Ermunterung und musikalisieren dabei Cheerleading-Laute und Selbstermutigungsformeln: "Oooh yeah! Allright! Wo-hoow!"

© Eija Mäkivuoti
In ihrer Trilogie "Entertainment Island" spielt die finnisch-britische Performancegruppe Oblivia mit Formen und Formeln der Unterhaltungskultur: Im ersten Teil dekliniert sie Strategien von Casting- und Selbsthilfeshows durch, im zweiten zappt sie sich durch eine Welt aus Papiermaché, im dritten versteigt sie sich in die private Unterhaltung mit Sado-Maso-Spielen auf der Kellertreppe und Fantasien von Selbsterniedrigung und Voyeurismus.
Medial verstärkte Selbstentwürfe
Drei Jahre lang, von 2008 bis 2010, hat Oblivia daran gearbeitet und dabei eine höchst eigenwillige Performancesprache zwischen Minimalismus und Stepptanz, Komposition und Comedy entwickelt. Und so ist in Helsinki eine echte Entdeckung zu machen, die glücklicherweise im kommenden Jahr durch Europa reisen wird. "Entertainment Island 3" hatte jüngst beim Festival Baltic Circle Premiere. Darin werden Strategien der Populärkultur in ein bewegungsintensives Spiel aus Anweisungen und Posen, Kommentaren und überlebensgroße Fiktionen übersetzt.
Dafür gibt's nur die nackte Spielfläche, etwas Licht und reduzierte Klanglandschaften. Umso sichtbarer wird das Groteske der medial verstärkten Selbstentwürfe, ihre Monstrosität, aber auch ihre Komik. Im Posieren und Anfeuern von "Entertainment Island 1" wird die Selbsterschaffung zur Marketingstrategie, und in "Entertainment Island 3" kann es Privatvergnügen nur geben, wenn ein Dritter zuschaut bei den kleinen Perversionen.
Jenseits der hierarchischen Ideen
Seit 2000 arbeiten Anna Kryzstek, Timo Fredriksson und Annika Tudeer zusammen. "Anlässlich der Europäischen Kulturhauptstadt Helsinki hatte ich Förderung für Site-Specific-Projekte erhalten und Mitstreiter für eine kollektive Arbeitsweise gesucht", erzählt Tudeer. Die britische Tänzerin Anna Kryzstek kannte sie von einem Auslandssemester in Edinburgh, mit dem klassischen Pianisten Timo Fredriksson ist sie verheiratet. Tudeer selbst arbeitete als Tänzerin und Tanzkritikerin. Finnlands freie Theaterszene ist noch jung, es gibt wenige Spielstätten wie das Kiasma Theater in Helsinki, aber eine recht gute Förderung. So möchte man es der Abgeschiedenheit und der kontinuierlichen, langjährigen Auseinandersetzung zuschreiben, dass Oblivia einen so eigenwilligen, einzigartigen Stil entwickelt hat, der von Xavier Le Roys Konzepttanz ebenso beeinflusst ist wie von Monty Python.

"Ich bin eine Minimalistin", sagt Kryzstek. "Wenn ich ein Stahlkubus sein könnte, wäre ich einer." Da die drei Oblivia-Mitglieder neben dem Minimalismus aber auch Comedyshows und die Musicals ihrer Jugendzeit schätzen, verbinden sie auf der Bühne alles spielerisch miteinander und generieren so eine konsequente und erstaunliche Performancesprache, ein Remix-Konzentrat der unterschiedlichsten kulturellen Versatzstücke, bei dem die Leichtigkeit des Sichtbaren stets nur die Spitze des Eisbergs zu sein scheint. "Wir versuchen, neue Arbeitsweisen zu entdecken", so Kryzstek. "Wir alle haben schlechte Erfahrungen gemacht mit Regisseuren, die die hierarchische Idee leben, und versuchen, diese loszuwerden."
Verbindung aus Intuition und Prozess
Daher rührt auch der Name, von Oblivion, vergessen. In Spielstrukturen weisen die drei sich Rollen zu, wechseln zwischen Agierenden und Zuschauenden, schaffen so ein Spiel im Spiel und legen die Bedingungen ihres Theaters immer offen. Sie sprechen sich mit ihren privaten Vornamen an und springen nur für kurze Zeit in eine Rolle. "Wir entwerfen keine Figuren, aber Essenzen von Charakteren. Die Grundlinie ist immer eine Version unserer selbst", beschreibt Kryzstek ihre Arbeitsweise. Für ihre Auseinandersetzung mit der Unterhaltungskultur haben sie keine Recherche betrieben, sondern sich in einer sehr körperlichen Art und Weise mit der Welt auseinandergesetzt, in der sie sich täglich bewegen. "Es ist eine Verbindung aus Intuition und Prozess", so Kryzstek.
In einer faszinierenden Mischung aus Understatement und großem Halligalli der Trilogie ist der Blick auf die Aufmerksamkeitsproduzenten des Unterhaltungsgeschäftes stets ein zärtlicher, der sowohl die Komik als auch die Tragik des passionierten Selbstentwerfens und all der Selbstdisziplinierungsmaßnahmen auszuspielen weiß. Dabei wird die ganze globale, kapitalistische Blase zur Unterhaltungskultur. Die Untertreibungskünstler machen aus dem hochkapitalistischen Originalitäts- und Erfolgsterror eine Beschwörungschoreografie der federnden Schritte und hochgereckten Daumen. In diesem Minimalismus scheint der ganze Selbst(er)findungsstress auf, mit dem wir täglich konfrontiert sind. Und die Fratze der Steigerung lächelt schlicht.
www.oblivia.fi
http://balticcircle.fi
Mehr zu Theater aus Finnland? Vom Theaterfestival in Tampere berichteten 2010 Stefan Bläske und 2008 Anne Peter.
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Wie schön, solange sich das Theater bzw. das Feuilleton am "Terror" des Kapitalismus abarbeiten kann. Dann muß man sich wenigstens nicht mit der Realität auseinandersetzen. Lang lebe das Stadttheater!
Aber dem Web-Sozialisten in seinem Wolkenkuckucksheim geht diese Sorte von Realität bekanntlich am subventionierten Arsch vorbei.
Da fabuliert es sich viel schöner vom "neoliberalen Vermarktungsterror". (...)
Jedes Jahr sterben etwa 8,8 Millionen Menschen, hauptsächlich Kinder, an Hunger, was einem Todesfall alle 3 Sekunden entspricht.
dieses geschieht in den ländern, auf deren kosten sie und ich unseren reichtum geniessen, und steht in unmittelbaren zusammenhang mit zb der produktion des computers, den sie besitzen. vor diesem hintergrund kann ich ihren beitrag nur als zynisch empfinden. setzen sie sich doch bitte mal mit dieser realität auseinander. viele grüße.
Brüll, Prust! (...)
Am besten, Dieses: "der Reichtum, den wir auf deren Kosten genießen" Jau! "GENIESSEN" Höre ich richtig?! So weit fortgeschritten scheint das schlechte Gewissen gottseidank noch nicht zu sein. Sie können Ihre Ausbeutung (...) immerhin noch "genießen". RAFL!
Und verschont mich mit eurem "zynisch". (...) "Zynisch"...??! Endgeil!
So und jetzt ab zu Starbucks, einen Tall-Caramel-Morgenlatte mit Content schlürfen...Köstlich!
möchte ich die welt retten? sie versuchen doch mit dem hiweis auf 20 terror opfer völlig am thema vorbei zu beweisen, das der kapitalistische terror kein terror sei, oder auf irgendeine von ihnen phantasierte weise nichts mit der realität zu tun habe. ich habe dies mit dem hinweis auf die opfer des kapitalistischen terrors faktisch wiederlegt. das hilft leider nichts.
mfg
Es ist so einfach sich theatral über die Eigenarten und Auswüchse in den Industrieländern unserer Zeit lustig zu machen.
Und meiner Ansicht nach ist es auch in diesem Stück bei so einer distanzierten oberflächlichen Betrachtung geblieben.
Das ist Heuchelei an einem elitär denkendem Publikum, dass sich dann in seiner Ansicht bestätigt sieht und fröhlich in die Hände klatscht.