Der Gastfreund / Die Argonauten - Mareike Mikat befragt im Badischen Staatstheater die Karlsruher Gastfreundschaft mithilfe von Franz Grillparzer
Die angetippte Fremdheit
von Georg Patzer
Karlsruhe, 30. Juni 2012. Es passiert ja nicht gerade oft, dass sich das Publikum im Karlsruher Staatsschauspiel auch einmal äußert. Gestern aber rutschte einem Herrn doch mal etwas heraus: "Ihr seid albern", sagte er ziemlich laut.
Recht hat er. Was die letzte Inszenierung der ersten Spielzeit des neuen Intendanten Peter Spuhler und seines Schauspieldirektors Jan Linders bot, war leider auch sehr typisch für das Haus: anbiedernd und albern. Anbiedernd, weil das Haus mit großem Werbeaufwand so tat, als wenn es zum ersten Mal auf die Bürger der Stadt zugehen würde. Und albern, weil das Ergebnis künstlerisch meist auf unterem Niveau blieb.
Friedliche Rachegötter
Auch die junge Regisseurin dieses Abends, Mareike Mikat, brachte wieder einmal Bürger auf die Bühne, diesmal haben sie als Chor den ersten Teil von Grillparzers Goldener Vlies-Trilogie, "Der Gastfreund", gesprochen und als szenisches Tableau dargestellt. Haben mal mit Stöcken Tanzrhythmen auf den Bühnenboden gestampft, mal mit überlebensgroßen Puppen gespielt, mal, Medea darstellend, eine Hand hoch nach vorne gereckt, mit der anderen den Stock als Speer erhoben, wobei die eine oder andere Laiendarstellerin auch schon mal durcheinander kam. Das ging mit seinem Griff in die Avantgardemottenkiste der sechziger Jahre über das Niveau eines Amateurtheaters nicht hinaus.
Albern wurde es im zweiten Teil, als die männlichen Laienspieler nur noch stumm im Hintergrund die Rachegötter darstellen und, am Schluss, die Frauen als Indianerinnen verkleidet zu lauter Rockmusik Jason herumwälzen und am Lagerfeuer sitzen durften. Albern wurde es vor allem, weil sich die Qualität auch dann nicht sehr hob, als die Profischauspieler auf der Bühne waren. Und auch das ist leider typisch für das Karlsruher Staatsschauspiel: Hier werden Klassikertexte inszeniert, gleichzeitig aber nimmt man sie nicht ernst, also werden sie verzerrt, verfremdet, mit Geblödel durchsetzt. Manchmal erlaubt man sich auch ein bisschen Pathos, aber nur verschämt und kurz, und dann muss wieder gelacht werden. Einen Text ernst nehmen, ihn ruhig und sensibel auf seine Inhalte abklopfen – das ist eine selten gewordene Kunst in Karlsruhe geworden, Interpretationen und kluge Ideen stehen im Programmheft, auf der Bühne sind sie selten zu sehen.
Heimat, wo die Wiege stand
So auch gestern Abend bei Grillparzer. Das Stück erzählt die Geschichte des Goldenen Vlies’, das von Phryxus an die Küste von Kolchis gebracht und von König Aietes von Kolchis unter Missachtung der Gastfreundschaft gestohlen wird; und die von Jason und Medea, die sich verlieben, als Jason das Vlies zurückfordert und mit ihrem Vater darum kämpft. Es handelt auch von Gastfreundschaft und Heimat, von der Fremde und dem Fremdsein, was das Theater zum Anlass genommen hat, Karlsruher Bürger nach ihrem Verständnis davon zu befragen – und es natürlich während der Aufführung in Schnipseln einzuspielen. "Der Gastfreund / Die Argonauten" © Jochen Klenk
Auch in der Inszenierung selbst gibt es zwei oder drei kleine Szenen, in denen das Leben in der Fremde, das Leben als Fremder thematisiert werden, so als Aietes seine Tochter zu einem Leben als Fremde in Griechenland verdammt. Diese Szenen gehören in der zweieinhalbstündigen Aufführung zu den wenigen gelungenen Momenten. Ansonsten scheint der Regisseurin nicht klar zu sein, was sie eigentlich erzählen will. Und deswegen tippt sie mal dieses, mal jenes an, lässt die Schauspieler ein bisschen schreien und toben, das Mobiliar zerlegen und vor allem, ihr äußerstes Ausdrucksmittel, schwer atmen, sie lässt sie ein paar Kampfszenen in Zeitlupe spielen, ein bisschen hintereinander herjagen und Faxen machen.
Wunsch nach mehr Ernsthaftigkeit
Damit auch alles schön verfremdet ist, werden Medea und ihre Amme Gora von Männern (Peter Schneider und Simon Bauer) gespielt, Jasons (Thomas Halle) Freund Milo (Jan Andreesen) erscheint plötzlich in moderner Uniform, schlägt Purzelbäume und spricht in die inzwischen in Karlsruhe unvermeidliche Kamera einen Text aus einem alten ethnologischen Buch mit Abbildungen von "fremden Völkern".
Das wäre alles nicht weiter bemerkenswert, wäre das Badische Staatstheater nicht doch ein Haus mit hohen Ansprüchen. Für die Bürgerinnen war es sicherlich schön, auch mal auf einer richtigen Bühne zu stehen. Aber eine ernsthafte, vor allem künstlerisch gelungene Auseinandersetzung ist nicht erfolgt. Und die Qualität des Schauspiels, vor allem der Regie, ist inzwischen in ungeahnte Tiefen gerutscht.
Der Gastfreund / Die Argonauten
Ein Volkstheater-Projekt nach Franz Grillparzer
Regie: Mareike Mikat, Bühne: Simone Manthey, Kostüme: Maike Storf, Puppenbau: Mara Fiek, Christiane Lorch, Maike Storf, Musik: Peter Schneider, Video: Andreas Renken Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer, Michael Nijs.
Mit: Frank Wiegard, Peter Schneider, Laszlo Branko Breiding, Simon Bauer, Thomas Halle, Jan Andreesen.
www.staatstheater.karlsruhe.de
Mehr zu Inszenierungen des Goldenen Vlies' bzw. von Teilen davon: Sebastian Schug inszenierte im April 2011 in Braunschweig Medea, in Wuppertal haben Jenke Nordalm und das türkische Theater Elele Tiyatrosu im Februar 2011 die Migrationsfrage anhand des Goldenen Vlies' befragt, David Bösch hat das Vlies im Oktober 2009 am Deutschen Theater Berlin inszeniert, Simon Solberg hat in ARGOcalypse now im Oktober 2009 am Schauspielhaus Wien nach dem heutigen Argonauten-Glück gefragt.
Wenn Mikat im Einakter "Der Gastfreund" den Bürgerchor agieren lasse, der "wenig Karlsruhe-spezifisches verrät", besitze das durchaus "szenische Qualitäten", schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (2.7.2012). "Das ist auch noch erfreulich frei von dem fast zwanghaft wirkenden Herumgejuxe, das zu Beginn des zweiten Teils folgt." Fesselnd hingegen sei die große Szene gegen Ende, in der Jason um Medea werbe: "Da wird auf Peter Schneiders Gramgesicht und in seinem rastlosen Umhergehen, das ihn doch immer wieder zu Jason zurückführt, die Gewalt dieser angeblich liebenden Worte fast physisch spürbar – und man sieht selbst bei der erlösenden Szene der Hingabe, dass diese Medea stets eine Fremde bleiben wird." Solchen Momenten stünde aber "manche Durststrecke unfokussierter Nabelschau" gegenüber.
Auch Jürgen Berger lobt in der Rheinpfalz (2.7.2012) Peter Schneider, der die Rolle der Medea so gut spiele, "dass man dem Abend jetzt gerne folgt". Davor kritisiert er Aites in der Version "HB-Männchen" und den "Gastfreund"-Teil: "Zu viel geht in einer clipartigen Reihung von Chorpartien verloren", in der Mikat alles unterzubringen versuche: neben dem Chor noch große Puppen, die Dokuschnipsel vom Friedrichplatz und irgendwo auch die Geschichte des Phryxus.
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"Und die Qualität des Schauspiels, vor allem der Regie, ist inzwischen in ungeahnte Tiefen gerutscht."
Sie haben ja so Recht! In dieser Spielzeit war das Schauspiel, mit Ausnahme vom leider wenige gesehenen "Immer noch Sturm" in Karlsruhe: langweilig, hysterisch, ohne Haltung, albern, ärgerlich.
@Werner: Den Laien sei ihr "Party für alle"-Spaßt gegönnt. Ob aber das Kalkül der Theaterleigung aufgeht, dadurch die wegbrechenden alten Zuschauergruppen durch neue zu ersetzen, wage ich zu bezweifeln. Nicht umsonst halten sich die Auslastungszahlen für die echten Neuproduktionen (Übernahmen von Erfolgsstücken aus der letzten Spielzeit nicht gerechnet!) doch in Grenzen.
@theaterfreund: Ich bin verärgert und spreche das aus. Leider war die Leitung bei den letzten Gelegenheiten bei unserem Verlassen der Premiere in der Pause (noch) nicht ansprechbar.
"Das Publikum im Staatstheater, berichtet Mikat, sei sonst leider nicht so heterogen wie man es sich wünscht in einem Subventionsbetrieb: 'Das Haus steht hier wie ein riesiger Klotz und ist nicht wirklich einladend.'"
www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/theaterprojekt-argonauten-von-grillparzer-gastfreundliches-karlsruhe-a-840801.html
Nun hat die Architektur des Hauses ja nicht automatisch etwas mit der Homo- oder Heterogenität des Publikums zu tun. Mir jedenfalls gefällt der Beton. Da aber Formulierungen wie die oben zitierte nahelegen, das Publikum bestehe aus abweisenden Betonköpfen, verärgert mich doch etwas. Mit einer solchen Haltung wird Mikat jedenfalls nicht viel Beifall finden, ausgenommen vielleicht bei der Party-für-alle-Fraktion.
Wenn das Staatstheater Karlsruhe der Meinung ist, ein anderes (welches?) Publikum (auch) erreichen zu wollen, dann ist das selbstverständlich legitim und aller Mühe wert. Mir geht es ausschließlich darum, dass das Schauspiel im Staatstheater in dieser Spielzeit mich nicht (mehr) erreicht hat. Das ist eine einfache Feststellung, über Gründe und Motive der verschiedenen Seiten zu spekulieren wird da nicht viel bringen.
Die Herren Spuhler und Linders dürfen natürlich tun und lassen was sie wollen und für die Zielgruppe(n) produzieren, die sie erreichen möchten. Allerdings sind mir meine Zeit, mein Geld und meine Nerven dafür inzwischen zu schade.
Ich stimme Theatermaus und Clown zu: Was sich nicht ändert und sich nicht bewegt, entwickelt sich nicht. Das Theater braucht einen Umbruch, neue Grenzen und Herausforderungen. Und ich hoffe auch sehr, dass sich das Staatstheater und vor allem das Junge Staatstheater weiter öffnen und heterogen bleiben.
Wie fähig sind wir, mit Fremdheit und Neuen umzugehen? Das war die Frage des Abends, und um auf genau diese Frage antworten zu können, habe ich mich entschlossen, mich mit der Vorstellung und allem, was fremd und, ja, auch albern in ihr war, auseinanderzusetzen.
Ich stimme übrigens auch "Theaterfreund" zu: Spendengelder für eine Generalsanierung, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter des Heidelberger Theaters ermöglich hat, zu sammeln, ist vielleicht nicht Kunst. Aber es bedeutet, ein unerschöpfliches Engagement für die Gemeinschaft zu zeigen! Fragen sie ruhig mal in Heidelberg nach.