Theaterbrief aus Georgien - Die junge Theaterszene in Tiblissi sucht den Aufbruch Richtung Westen und hat noch an alten Sowjetrealitäten zu schleppen
Gestohlene Kindheit
von Dorothea Marcus
12. Oktober 2017. Der georgische Mann ist höflich, respektvoll, stark und orthodox christlich. Er kämpft störrisch, arbeitet hart, führt die Familie, trinkt nur manchmal: ein Superheld. Immer schneller ertönen die heiligen Imperative des Maskulinen aus den zwei umliegenden Zimmern. Im Hauptraum dreht sich Schauspieler Erekle Getsadze immer gehetzter im Kreis, bis er erschöpft zusammenbricht. Ein Opfer der Anforderungen.
Neben ihm zieht sich Teona Lejava den Rock aus und erzählt in Plastikflipflops und Strumpfhose, wie ihr Vater sie, als sie fünf war, im eisigen Hof alleine ließ. Wie sie sich – halb angezogen, einsam und hungrig – stundenlang schämte. "Mütter sind Mütter – Väter nur Verwandte. Mein Land stiehlt die Kindheit!", ruft sie. Im Halbdunkel kippt eine Bierflasche um. Ein Darsteller mit verborgenem Gesicht erzählt vom Zuschauerstuhl, wie ihn sein Vater jahrelang demütigte – und er deshalb heute sein Kind nicht richtig liebt. "Jahrhunderte von Kriegen haben Massen erschöpfter Männer hervorgebracht", tönt es wie ein vielstimmiges Echo aus dem Nebenzimmer, keck posierende Showgirls trällern von Männern, die sich umbringen, um die Familie vom Kredit zu befreien, die scheitern, schwach und schuldig sind.
Drei Stunden führt das frisch gegründete 21köpfige "Open Space Ensemble" in Tiflis den Zuschauer durch die vielstimmige theatralische Selbsttherapie "Parents meeting". Was es bedeutet, Eltern zu sein, war ihre Grundfrage. Sieben Monate lang haben sie Menschen auf der Straße befragt und sich selbst innerhalb des Ensembles über ihre intimsten Kindheitserinnerungen ausgetauscht. Die Regisseure Mikheil Charkviani und David Khorbaladze, 27 und 24 Jahre alt, haben die Texte in ein vor Emotionen vibrierendes, musikalisches, multimediales Stück verwandelt.
"Parents Meeting" – Bittere Erinnerungen an die Eltern
Weil die selbst verwaltete Kunstfabrik, die sie gerade renovieren, nicht rechtzeitig zum "International Georgian Theatre Festival" fertig wurde, zogen "Open Space" mit ihrer Performance kurzerhand in eines jener malerisch verlassenen Häuser, von denen es in der Hauptstadt Georgiens wimmelt, "die Hausbesitzer sind meist ins Ausland gegangen", sagt Charkviani. Hier wackeln die Stufen, blättert der Putz in Blöcken, bricht der schmiedeeisern geschwungene Balkon fast ab, aber man spürt alte Familiengeister durch die Räume schweben. Die unverblümt pathetische, radikal persönliche, inbrünstige Energie des Abends fasziniert über drei Stunden.
Viele der Geschichten erinnern an jene in "Das achte Leben (Für Brilka)" des literarischen Superstars Nino Haratishwili, der nach Hamburg ausgewanderten jungen Georgierin, die auf Deutsch schreibt und deren Familiensaga zum Bestseller wurde, ähnlich wie die Bühnenadaption des Romans am Hamburger Thalia Theater. "Sie ist Georgiens beste Botschafterin", sagt die georgische Vize-Kulturministerin Manana Berikashvili mit knarziger Stimme, einst selbst Theaterregisseurin und Stimmtrainerin, beim offiziellen Mittagessen über den Hügeln von Tiflis. Haratishwili sei es zu verdanken, dass das kleine Land mit knapp 4 Mio. Einwohnern auf 70.000 km2, der "Balkon Europas", im nächsten Jahr als Gastland zur Frankfurter Buchmesse eingeladen ist. Dabei ist bisher kein Werk von Haratishwili auf Georgisch erschienen; die erste Übersetzung ist für 2018 geplant.
Motor des Theaters am Kaukasus: das Internationale Georgische Theater Festival
Man erfährt all das beim "Georgian Showcase" des Festivals, auf Einladungsreise für Journalisten, mit Vollverpflegung und Luxusunterkunft. Zum neunten Mal findet das jährliche Festival statt, das bewusst internationale Gastspiele mit Einblicken in die georgische Theaterszene verknüpft. "Als wir starteten, verkauften wir nur 20 Prozent unserer Tickets, heute sind es 75 Prozent. 45 Prozent der Zuschauer sind zwischen 18 und 35 Jahren alt", erzählt die Festivalleiterin Ekaterina Mazmishvili. Georgien sei eine Nation von Theaterliebhabern, das Festival sei eine dringend benötigte Diskussionsplattform und Stätte der Vergangenheitsbewältigung.
Einen nicht unerheblichen Teil ihres Einkommens gäben Georgier für Schauspiel aus: die Eintrittspreise schwanken zwischen 3 und 7 Euro, bei einem Durchschnittseinkommen von rund 350 Euro. Es stehe nun eine neue, politisch denkende Generation von Theaterleuten in den Startlöchern, die kurz vor dem Ende der Sowjetunion geboren wurde, "frei von allen kommunistischen Manipulationen". Mazmishvili macht auf charmante Weise kein Hehl daraus, dass sie alles dafür tun würde, um Georgien schnellstmöglich zum EU- Beitrittskandidaten zu machen. "Wir gehören nach Europa, 90 Jahre russischer Zwangsherrschaft haben unsere Zivilisation und unsere Werte zerstört. Wir müssen zurück, wo wir hingehören."
Bei Stalin
Von russischer Zwangsherrschaft würde im rund 80 km entfernten Gori wohl kaum jemand sprechen. In der Geburtsstadt Stalins lebt man immer noch gut vom Diktatorenkult. Das Stalin-Museum, das meistbesuchte georgische Museum, hat sich seit Sowjetzeiten kaum verändert. Das Geburtshaus ist unter einem Baldachin liebevollst konserviert, man sieht Kindergeschenke, den jugendlichen Revolutionär und Dichter mit Schmachtblick, Dokumente quasi-religiöser Verehrung. Im Souvenirladen kann man Stalin-Shirts, -Uhren und -Trinkflaschen kaufen, gütig blicken Stalinpüppchen. Ein einziger Raum wird erst auf mehrmalige Nachfrage geöffnet und erzählt mit dem Nachbau einer Gefängniszelle nur Bruchteile der Verbrechensgeschichte.
Neun Produktionen umfasst der fünftägige Georgienteil des "International Georgian Theatre Festivals", dazu kommen zehn weitere Arbeiten. Mit aller Kraft buhlen die Gruppen um Aufmerksamkeit, haben bereits vor dem Festival Werbeemails geschrieben, täglich findet morgens eine Art Briefing in Anwesenheit der Tageskünstler statt, mit Puppenspielern, messeartigen Ständen, DVDs und Infomaterial sind sie professionell lächelnd am Start. Das Team von David Doiashvilis Produktion des Martin-McDonagh-Dramas "Der Kissenmann" bringt sogar Äpfel und Stoffmännchen ins Hotelzimmer, und in der Pause zieren grüne Schweinchen das Gebäck. Ansonsten ist der dreistündige Abend, der zu großen Teilen in vier Plastik-Schwimmbecken spielt, in seinen gewalttätigen Verhörsituationen zuweilen fast unerträglich explizit und unironisch. Die Arbeit des 47jährigen David Doiashvili, der auch Intendant des Vaso Abashidze Music and Drama State Theatre ist, gilt als Vorzeigeprojekt und setzt Video, Live-Musik, viele Effekte und Bilder ein – letztlich hätte ihr eine Straffung gut getan. Auffällig ist aber die emotional-jungenhafte Lässigkeit des Hauptdarstellers Kakha Kintsurashvili, einer der zur Zeit in Georgien erfolgreichsten Schauspieler.
Theaternarrenland mit niedrigen Gagen
Leben kann Kintsurashvili von seiner Theatergage allerdings genauso wenig wie alle anderen fest angestellten Ensemblemitglieder. "Wir haben noch das sowjetische System", erklärt Festivalleiterin Mazmishvili fast entschuldigend. An ihrem eigenen Theater seien zur Zeit noch 72 Schauspieler beschäftigt, mit einer Gage von 300-400 Lari (ca. 100-130 Euro). Viele von ihnen spielten gar nicht mehr, an einige Superstars erinnern die vor dem Theater in den Bordstein eingelassenen Sterne. Nach und nach werde das Geld im staatlichen Kulturetat gekürzt (im letzten Jahr sanken die Mittel um 10 Prozent) und man verwandele daher das System in Jahresverträge – was die jungen Darsteller, die man spricht, verständlicherweise fürchten.
"Es ist absurd: 40 Schauspieler werden pro Jahr ausgebildet, sie können in Georgien niemals genug Arbeit finden", erzählt etwa Teona Lejava, die sich mit Theaterunterricht für Kinder und mit Serienrollen über Wasser hält. Auch gebe es kein Budget für freie Projekte wie vom "Open Space Ensemble". Obwohl ihr "Parents Meeting" offizieller Festivalbeitrag war, haben sie sieben Monate lang umsonst gearbeitet. Lejava ist – das Land ist klein – mit der Vize-Kulturministerin verwandt, die am Tag vorher noch stolz verkündet hatte, dass, bezogen auf Größe und Einwohnerzahl, Georgien ein dichteres Theatersystem habe als Deutschland. 50 Theater gibt es in dem Land, das etwa die Fläche von Bayern hat: 23 davon allein in Tiflis, die meisten von ihnen mit festen Ensembles. "In sowjetischen Zeiten war das georgische Theater legendär", erzählt auch Festivalleiterin Mazmishvili und schwärmt von der visuellen Kraft, der Bildergewalt, der Präsenz der Musik.
Das Royal District Theatre und der Optimismus der Jungen
Dass die georgische Theaterszene im Aufbruch ist, findet der 27jährige Regisseur Data Tavadze im pittoresk abblätternden Café vor seinem Theater, dass er und sein Ensemble ironisch "Royal District Theatre" getauft haben. Das Festival habe den Künstlern seit 2008 einen gewaltigen Schub gegeben habe. Erstmals sei hier das Theater des oft so isolierten Landes neben internationale Gastspiele gestellt worden. Das habe Selbstbewusstsein verliehen: "Heute arbeiten wir viel direkter politisch, brechen die Vierte Wand auf, interessieren uns für neue Dramatik. Die alten georgischen Theatermeister hatten die russischen Besatzer eher allegorisch kritisiert. Das hat ihre Theatersprache unkonkret gemacht", erzählt er.
Im letzten Jahr war er mit "Prometheus 25" auf dem Festival zu Gast und erarbeitete mit 25-jährigen Darstellen, was es bedeutet, fast nur mit Krieg aufzuwachsen – eine radikale Gegendarstellung zu den offiziellen Feierlichkeiten der georgischen Unabhängigkeit. Die international tourende Arbeit "Frauen von Troja" basierte auf Interviews mit weiblichen Überlebenden des Kaukasus-Krieges, immer noch in Flüchtlingslagern eingepfercht, laut Tavadze zu Geiseln der Regierung geworden, die sie bewusst im Elend leben lasse, um das Feindbild Russland frisch zu halten. "Niemals vorher hat sich jemand in Georgien getraut, Frauen im Krieg zu porträtieren, meist werden sie hier eher als Werkzeuge missbraucht, um Rachegefühe zu schüren", sagt Tavadze.
In diesem Jahr ist Tavadze allerdings nur mit einer kleinen Arbeit präsent: "Faces" verwebt mit Studierenden der Theater- und Film-Universität elegant, aber konservativ drei Geschichten des japanischen Nobelpreisträgers Yasunari Kawabata. Mit Koffern und gedeckten Mänteln gruppieren sich die Darsteller in immer neuen Konstellationen um Liebe, Tod und Hoffnung.
Edelboulevard mit "Der Navigator" von Lasha Bugadze
Was in Georgien unter "Neuer Dramatik" verstanden wird, kann man vielleicht in der Premiere von "Der Navigator" des gefeierten georgischen Autors Lasha Bugadze ablesen. Bevor es beginnt, werden im Kote Marjanishvili State Drama Theatre die Geldgeber-Firmen genannt, viele Sitznummern sind mit dem Logo einer Bank verdeckt – das Sponsoring scheint zu funktionieren. Dann öffnet sich der Vorhang zum liebeshungrigen, frustrierten Hauptdarsteller, mit Rücken zu uns vor blinkenden Bildschirmen.
Später, als er sich vom isolierten Home-Office in den Dienstwagen begeben hat, ziehen auf Großbildschirm virtuell erzeugte, sterile Hochhauslandschaften vorbei, die Arbeitskollegen tragen Körperpuppen mit anonymen Großstadtmasken vor sich her – nur die Frau im GPS spricht noch mit ihm und sitzt irgendwann auch real flirtend im Auto: eine Alt-Herren-Geschichte über moderne Vereinzelung und eine recht langatmige, teuer produzierte Edelboulevard-Klamotte.
Harte Realitäten im Theater des Open Space Ensembles
Erneuerung spürt man eher bei weiteren Arbeiten von Mikhael Charkviani und David Khorbaladze (Open Space Ensemble). In "Crave" von Sarah Kane, zum ersten Mal in Georgien aufgeführt, schreien die vier Darsteller an einem blauen Wasserbassin ihre inneren Nöte heraus – ein Krankheitszustand der Jugend. In "Dead Cities" sitzen die Zuschauer um fünf schwarz gekleidete Darsteller auf der Bühne, in der Mitte ein Gewirr aus Neonröhren. Vom SS-Massaker in Oradour-sur-Glane oder von Tschernobyl wird erzählt, doch dann geht es in apokalyptischen Bildern um Poti am Schwarzen Meer, wo nachts verwaiste Kampfhunde die Menschen bedrohen, kein Nahverkehr geht, der Strand und die alten Gebäude verfallen.
"Warum sagt man uns ständig, dass alles gut wird? Warum tun die Reichen nichts, um der Stadt zu helfen? Warum gibt es so viele Hunde und so wenig für die Menschen?" Und mittendrin reißt die Drehbühne den Zuschauern den Boden unter den Füßen weg: Ein starkes Bild für den kapitalistischen Ausverkauf des Gemeinwesens, der, so Charkviani, in Georgien bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Man sieht das schon beim Stadtrundgang: Tiflis wirkt selbst wie ein Bühnenbild, eine eindimensionale Kulisse. Nur wenige Schritte neben den geschmackvoll renovierten, eisengittergeschwungenen Fassaden, auf denen oft Europa-Flaggen hängen, zerfallen die alten Gebäude in radikaler Ignoranz. Geschichtsaufarbeitung scheint hier gerade erst begonnen zu haben, doch das Theater positioniert sich schon mal.
Dorothea Marcus, Jahrgang 1969, studierte Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften in Berlin. Seit 1999 ist sie freie Kulturjournalistin für Print und Hörfunk in Köln und publiziert u.a. für DLF, WDR, Theater Heute, taz und nachtkritik.de. Sie ist derzeit Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens.
Von Data Tavadze besprach nachtkritik.de "Kriegsmutter", uraufgeführt am Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau im Februar 2015.
Nino Haratishwilis Roman "Das achte Leben (Für Brilka)" kam am Hamburger Thalia Theater in der Regie von Jette Steckel auf die Bühne.
Mehr Theaterbriefe aus der Bühnenwelt jenseits des deutschsprachigen Raumes finden Sie in der Rubrik "International".
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