Interessiert Euch!

30. April 2024. Queere Menschen und Menschen mit Behinderung müssen sich gleichermaßen in einer Welt behaupten, deren Mainstream-Matrix sie nicht entsprechen. So wundert es nicht, dass beide Gruppen in den performativen Künsten immer wieder ähnliche Strategien und Ästhetiken verfolgen.

Von Georg Kasch

30. April 2024. Was haben queere und behinderte Menschen gemeinsam? Eine Menge. "Sexuelle Minderheiten und Menschen mit Behinderungen teilen eine Geschichte der Ungerechtigkeit", schreibt Carrie Sandahl in ihrem 2003 erschienenen Aufsatz "Queering the crip or cripping the queer?": "Beide wurden von der Medizin pathologisiert, von der Religion verteufelt, bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen diskriminiert, in der Repräsentation stereotypisiert, von Hassgruppen zum Opfer gemacht und gesellschaftlich isoliert, oft in ihren Herkunftsfamilien."

An der Ordnung kratzen

Und beide müssen sich – gemeinsam übrigens mit People of Color – in einer Welt behaupten, die von der weißen, heterosexuellen, nicht-behinderten (abled-bodied) Matrix bestimmt wird, die "natürliche Ordnung der Dinge", wie Robert McRuer in "Crip Theory: Cultural Signs of Queerness and Disability" 2006 ausführt. Sowohl Queer als auch Disability Studies kratzen an dieser Ordnung – und können voneinander lernen, wie das am besten geht. Mit möglichen Folgen übrigens auch für die Theaterwissenschaft, wie Mirjam Kreuser 20023 in "Crip-queere Körper. Eine kritische Phänomenologie des Theaters" dargelegt hat.

So wundert es nicht, dass beide Gruppen in den performativen Künsten teils ähnliche Erzählstrategien und Ästhetiken verfolgen. Das haben die Sophiensæle mit ihrem von Noa Winter kuratierten Festival "Queering the Crip, Cripping the Queer" 2022 und die gleichnamige Ausstellung im Schwulen Museum Berlin gezeigt. Beide präsentierten zum Beispiel Werke der samoanischen Pākehā-Künstlerin Pelenakeke Brown.

Das Schwule Museum zeigte ihre Bilderserie "grasp + release", in der sie ihre Krankenakte so schwärzte, dass nur noch einzelne Worte übrigbleiben, die der kalten medizinischen Diagnose einen neuen, widerständigen Sinnzusammenhang abtrotzen. Die Sophiensäle präsentierten ihre reduzierte Solo-Performance "enter//return", die mit den beiden zentralen Funktionen einer Computertastatur indigene Auffassungen von Raum und Zeit beschreibt und vor knitternden Papierbahnen nach dem (digitalen) Raum für crippe, queere, indigene Körper sucht.

Das Märchen von der Normalität

Apropos Papier: Der ebenfalls eingeladene Sindri Runudde baute in "A Sensoral Lecture" aus Sprachnachrichten und einer knisternden Papierdecke derart kunstvoll und komisch eine Stop-Motion-Choreografie zusammen, dass man dem stundenlang hätte zuschauen mögen. Außerdem dabei: die blinden Drag-Performer*innen von Quiplash.
Drag gehört ja – neben Voguing – zu den einzigartigen Hervorbringungen queerer Kultur und Ästhetik, die unter anderem dank RuPauls "DragRace" einen Platz im Mainstream gefunden hat. In London gibt es das hinreißende Kollektiv "Drag Syndrome", bei dessen Auftritten sich Menschen mit Trisomie 21 in Kostüme und Posen werfen. Drag spielt auch in mehreren Abenden von Theater HORA (etwa "Es war keinmal oder das Märchen von der Normalität" 2021) oder Theater Thikwa ("OZ, OZ, Oz!" 2019) eine Rolle.

Zudem ist die Liste von Menschen mit Behinderung, die sich als queer definieren, ziemlich lang. Dass das erst allmählich gesehen wird, hat auch damit zu tun, dass sich lange Zeit weite Teile der Mehrheitsgesellschaft nicht vorstellen konnten oder wollten, dass behinderte Menschen eine Sexualität besitzen, während Queerness – und noch viel mehr Begriffe wie Homo-, Bi-, Trans-"Sexualität" – schon immer mehr mit Sex als mit Identität assoziiert wurde (eine der vielen Vorteile des Queer-Begriffs liegt gerade darin, dass er den Identitätsaspekt betont und nicht, wer mit wem schläft). Auch wenn Diskussionen zum Beispiel um Sexualassistenzen für Menschen mit Behinderung mitunter immer noch ziemlich paternalistisch geführt werden, ist man heute weiter.

Recht auf Liebe

Entsprechend verhandeln queere behinderte Künstler*innen ihre Queerness auf der Bühne. Pete Edwards erzählte in "FAT" von einer nächtlichen Cruisingtour am Flussufer. Dan Dawn lässt sich in "The Dan Dawn Show" von Christopher Owen in einem Spiel von Dominanz und Unterwerfung beherrschen – zu seinen eigenen Bedingungen. Verklausulierter, aber nicht minder wild thematisiert Anajara Amarante theys Genderqueerness in "Butching Cowboys", das ebenfalls bei "Queering the Crip, Cripping the Queer" lief.

Und es gibt Abende wie die polnische Produktion "Libido Romantico", in der das Teatr 21 aus Warschau aus Gedichten des polnischen Nationalpoeten Adam Mickiewicz einen Garten der Lüste und Sehnsüchte entwirft. Dass da auch Männer Männer und Frauen Frauen begehren und aneinander scheitern, passt gut in die hier so lässig wie poetisch vorgebrachte Forderung nach einem Recht auf Liebe und Sexualität auch für Menschen mit Behinderung.

Keine gesellschaftliche Fußnote

Eine Botschaft bei alledem: Interessiert Euch! Denn natürlich gibt es Menschen mit Behinderung (und Menschen, die in der Betreuung arbeiten), die beim Thema Queerness nur mit den Augen rollen. Und natürlich gibt es queere Menschen (und noch mehr unter jenen, die sich ausdrücklich als schwul, lesbisch, bi definieren), die Behinderung für eine gesellschaftliche Fußnote halten (die sie nicht ist: die meisten Menschen werden einmal behindert werden, spätestens wenn der Rollator vor der Tür steht).

Ein bisschen mehr intersektionale Aufmerksamkeit und Empathie für die Marginalisierungen und die Herausforderungen der Anderen könnte bestenfalls dazu führen, dass Behinderung ebenso als Bereicherung empfunden wird, wie es bei Queerness oft heute schon der Fall ist.

Kolumne: Queer Royal

Georg Kasch

Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.

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