Aus Widersprüchen schöpfen

6. Februar 2024. Das Stück über das sogenannte Potsdamer Geheimtreffen hat mit dazu beigetragen, die Correctiv-Recherche zu verbreiten und Hunderttausende zum Demonstrieren zu bewegen. Geht da noch mehr? Personal mit Potential für widersprüchliche Dramenfiguren bietet das rechte Lager nämlich reichlich. 

Von Georg Kasch

6. Februar 2024. Draußen wird demonstriert, zu Hunderttausenden. Für ein "Nie wieder", gegen die rassistischen Pläne der AfD. Der Auslöser? Das so genannte Potsdamer Geheimtreffen von Identitären, Mitgliedern von AfD und Werteunion sowie eines vorgestrigen Bürgertums. Zur Verbreitung der Rechercheergebnisse hat aber auch das Theater beigetragen. Die szenische Lesung im Berliner Ensemble bot merkwürdige Typen, die die Republik von rechts überholen wollen.

In diesem Lager aber gibt's noch ganz andere, viel widersprüchlichere Charaktere, aus denen man Dramen von Shakespeare'schem Format machen könnte. Alice Weidel zum Beispiel. Sie lebt, was die Partei, deren Chefin sie ist, ablehnt: In einer eingetragenen Lebenspartnerschaft mit einer Frau, die aus Sri Lanka stammt und mit der sie zwei Söhne großzieht – im Ausland. In Stichworten: lesbisch, Regenbogenfamilie, international. Wer ergründet, wie sich solche Widersprüche in einem Charakter reiben und Sätze ergeben wie "Ich bin nicht queer, sondern ich bin mit einer Frau verheiratet, die ich seit 20 Jahren kenne."? Und zwar nicht als Witznummer, sondern als Facetten einer Persönlichkeit, die zu entschlüsseln vielleicht etwas über die Korrumpierbarkeit durch Macht, vielleicht aber auch etwas über Emotionen erzählen würde.

Biografien mit doppeltem Boden

Oder, ähnlich rätselhaft: der schwule Berliner CDU-Politiker Peter Kurth, von 1999 bis 2001 Finanzsenator der Stadt, Fan der doppelten Staatsbürgerschaft und Vordenker schwarz-grüner Koalitionen. Als Kölner OB-Wahlkandidat setzte er sich 2009 dafür ein, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die CDU aufzunehmen. Später lebt ein syrischer Flüchtling bei ihm, auch eine Ukrainerin mit ihrem Kind.

Jetzt ergaben Spiegel-Recherchen, dass er einem Treffen Rechtsextremer seine Wohnung zur Verfügung stellte. Offenbar hat er auch Geld an die identitäre Bewegung und die AfD gespendet und ist in einer rechten Burschenschaft aktiv. Wie diese Widersprüche zusammenpassen, was das mit Enttäuschungen zu tun hat, welche Rolle seine Herkunft und sein Katholizismus spielen, hat der Tagesspiegel zusammengetragen – ideales Dramenfutter.

Oder, um nicht nur an Deutschland zu kleben: der schwule US-Republikaner Georges Santos. Die Liste seiner mutmaßlichen Vergehen ist lang: Geldwäsche, Diebstahl von öffentlichen Mitteln, Falschaussagen, zudem war sein Lebenslauf weitestgehend erfunden. Erst im Dezember fand sich im US-Repräsentantenhaus eine Zweidrittelmehrheit, die ihn seines Amtes enthob. Wenn das vielleicht nicht nach Shakespeare riecht, dann doch zumindest nach doppelbödigem Musical.

Der Haken

Bevor jetzt die Dramatiker:innen da draußen an ihre Schreibtische eilen: Es gibt leider einen großen Haken. Man kann Biografien von Menschen, die das Potential haben, unsere Demokratie eine totalitäre Gesellschaft zu verwandeln, erst verarbeiten, wenn sie zu Ende sind (Shakespeare wusste schon, warum er über Könige schrieb, die lange tot waren).

Anderes gilt übrigens von politischen Charakteren aus dem Herzen der Demokratie. Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher lebten noch, als 2003 Michael Frayns "Demokratie" über Willy Brandts Kanzlerschaft seien Uraufführung erlebte. Und Angela Merkels lange Regierungszeit stand noch in den Sternen, als 2002 die Neuköllner Oper im damaligen Rohbau der U-Bahn-Station Bundestag "Angela. Eine Nationaloper" von Frank Schwemmer und Michael Frowin herausbrachte. Das Musiktheater schilderte Merkels politischen Aufstieg bis zum Duell mit Edmund Stoiber um die Kanzlerkandidatur – ein sehr witziger, mitunter auch hellsichtiger Abend über politische Mechanismen. Dass Merkels Niederlage sich am Ende als politischer Etappensieg erweisen sollte, war damals noch nicht abzusehen. Dem Abend erwuchsen daraus keine Konsequenzen – weil in einer Demokratie Staat und Gesellschaft größer sind als die Menschen, die uns regieren.

Neu positionieren jetzt

Wenn es aber noch zu früh ist, die großen Dramen zu schreiben, was können wir tun, jenseits von Demos, um den Aufstieg dieser widersprüchlichen Charaktere aufzuhalten? Wenn ich selbst nach Brandenburg führe, um dort am Gartenzaun politisch zu diskutieren, würde das vermutlich das Gegenteil bewirken. Wenn sich aber Menschen äußern würden, die nicht im Verdacht stehen, der Regierung oder dem sogenannten Mainstream das Wort zu reden? Menschen zum Beispiel, die während der Pandemie gegen #allesdichtmachen polemisierten? Die als Impfskeptiker auffielen? Die zum "Man weiß gar nicht mehr, was man noch sagen darf"-Lager gehören?

Wenn die sich jetzt hinstellten und sagten, dass Regierungskritik notwendig ist, die Leute sich mit der AfD aber ins eigne Knie schießen, dann würde das eine andere Wucht entfalten. Vielleicht kennt jemand von den hier Lesenden Schauspieler wie Volker Bruch und Til Schweiger? TV-Gesichter wie Thomas Gottschalk, Markus Lanz, Richard David Precht? Sprecht mit ihnen! Damit irgendwann die nach uns Lebenden die großen Dramen von Aufstieg und Niedergang widersprüchlicher Charaktere wie Weidel, Kurth und Santos schreiben können – zur Mahnung und zur Freude eines Publikums, das noch einmal davongekommen ist.

Kolumne: Queer Royal

Georg Kasch

Georg Kasch, Jahrgang 1979, ist Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Kulturjournalismus in Berlin und München. In seiner Kolumne "Queer Royal" blickt er jenseits heteronormativer Grenzen auf Theater und Welt.

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