Kolumne: Straßentheater - Antisemitismus auf der Documenta 15
Ein Lehrstück
21. Juni 2022. Auf der soeben eröffneneten Kunstschau Documenta in Kassel wurde ein Bild schon wieder verhängt. Der Grund: klar antisemitische Darstellungen. Sie – und der Umgang damit – zeigen, dass mit der Einladung von Perspektiven aus dem Globalen Süden der bisherige Referenzrahmen dessen, was darstellbar ist, erschüttert wird.
Von Janis El-Bira
21. Juni 2022. Ein zynischer Geist würde wohl sagen, dass sich das Kurator:innenkollektiv Ruangrupa den für die eigene Arbeit zentralen Begriff des gemeinsamen Abhängens sicher nicht so vorgestellt hatte. Seitdem der lange vage gebliebene, auch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede wiederholte Antisemitismus-Vorwurf gegenüber der Documenta in einem Werk der indonesischen Gruppe Taring Padi einen konkreten Gegenstand bekommen hat, hängt man jedenfalls vorerst nicht mehr zusammen, sondern stattdessen lieber das betreffende Kunstwerk ab. Oder genauer: Man verhängt es, wie gestern beschlossen wurde. Denn das im haushohen Banner "People's Justice" Gezeigte überschreitet selbst die weiten Grenzen der Kunstfreiheit. Also wurde nun eine Plane über dem Riesengemälde entrollt, man hat es gleichsam geschwärzt. Eine Erklärtafel, liest man, soll auch noch angebracht werden. Erklärung für das Unerklärliche.
Klassischer Karikaturen-Antisemitismus
Um es ohne Umschweife zu sagen: Natürlich ist dieses Werk in Teilen seiner Darstellungen antisemitisch. Darüber wird es kaum zwei Meinungen geben. Hier geht es auch nicht um die Frage, ob und inwiefern eine Kritik an der Politik des Staates Israel durch die Wahl der Mittel antisemitische Anstriche bekommt. Dieser Fall liegt viel eindeutiger. Zu sehen ist klassischer Karikaturen-Antisemitismus in trauriger, langer Traditionslinie. Dass er auf der Documenta seinen Auftritt hat, kann nur beschämend genannt werden.
Dennoch scheint interessant, dass man sich offenbar dagegen entschieden hat, das Bild als Ganzes zu entfernen und es stattdessen einzuhüllen. Mehr noch, dass zunächst auch erwogen worden war, es überhaupt nur an den betreffenden Stellen zu verhängen.
Sexistisch, rassistisch, blasphemisch
Die Überlegung lag womöglich auch deshalb nahe, weil auf diesem nicht gerade mit dem feinsten Pinsel im Köcher gemalten Wimmelbild des Schreckens doch auch allerhand sonst zu sehen ist. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Das Bannergemälde von Taring Padi ist in seinen Darstellungsmitteln nicht allein antisemitisch, es ist auch sexistisch, rassistisch, ein bisschen pornographisch, ganz bestimmt blasphemisch und angesichts der Überfülle seiner grotesken Zuspitzungen sowieso zu Gefühlsverletzungen unterschiedlichster Zielgruppen angetan. Für die Wirkung seiner zornigen Holzhämmerei wären ein paar antisemitische Karikaturen indes komplett entbehrlich gewesen. Man müsste sie, wie alles hier, ohnehin suchen, wüsste man nicht inzwischen genau, wo sie zu finden sind.
Dass sie trotzdem in diese Hieronymus-Bosch-hafte Apokalypse-Fantasie hineingewürfelt wurden, erzählt vielleicht auch davon, wie sehr mit der Einladung von Perspektiven aus dem Globalen Süden ein anderer Referenzrahmen, ein anderer Katalog an Sensibilitäten und Bildtabus und teilweise auch ein anderes Verhältnis von Zeigen und Meinen die größte Kunstschau in Deutschland überrumpelt haben. Selbst Auschwitz – als exterminatorischer Zielpunkt des Antisemitismus – bedeutet in Indonesien zwangsläufig etwas anderes als im Land der Täter. Als Chiffre für den Zivilisationsbruch lässt es sich wahrnehmungsgerecht womöglich nur dort noch für universell setzen, wo das Universelle schon immer den Westen oder den Globalen Norden meinte.
Ein Denkmal der Trauer?
Wenn Taring Padi die Verhüllung ihrer Arbeit nun also zu einem "Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs" hochstilisieren, dann ist das gleichermaßen uneinsichtig und vielsagend. Ihr Bild steht in der Wahrnehmung des Kollektivs nämlich gerade nicht außerhalb des Zeigbaren und Diskutablen, dessen Grenzen in Deutschland im Verweis auf den Holocaust als geteiltem Bezugspunkt gezogen werden. Indonesien dagegen hat seine jüdische Bevölkerung nicht systematisch ermordet. Es hat andere auf dem und im Gewissen. Gleichzeitig bleibt Antisemitismus immer und überall genau das – Antisemitismus. Die Documenta wird dessen Schatten nun nicht mehr los. Unfreiwillig schickt sie sich aber gerade an, immerhin noch ein Lehrstück zu werden.
Kolumne: Straßentheater
Janis El-Bira
Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.
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Es "Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs" zu nennen, ist keine Einsicht, sondern Zynismus.
Ich möchte mal die Kommentarspalte sehen, wenn ein NSU 3.0 - Künstlerkollektiv auf einer solchen Veranstaltung rassistische Propaganda verbereitet. Ob dann Kunstfreiheit, die andere Grundrechte verletzt, genauso viel gilt? Der Schluss liegt nahe, dass Antisemitismus irgendwie halt unangenehm ist, aber man soll sich doch bitte nicht so anstellen. Oder wie kann man das verstehen?
Antisemitismus ist überall gleich schlimm - da kann man noch so oft den kulturrelativistischen Leerbegriff wie den "Globalen Süden" anführen. In der Auseinandersetzung wird klar: wir sollten in Deutschland mal nicht so tun, als wäre der Umgang I diesem "globalen Süden" so viel anders. Wir sind hierzulande schon auch ganz schön abgeklärt.
(Der Kommentar wurde um eine Passage gekürzt, die wir nicht verifizieren konnten. Mit besten Grüßen: die Redaktion)
ich würde euch bitten, den folgenden Artikel zu lesen:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-palaestinenser-israel-terror-1.5605731
Reicht das zur Verifizierung? Durch die Kürzung meines Kommentars macht der Beitrag sonst wenig Sinn, denn dieser Teil der Ausstellung ist für den Punkt, den ich gemacht habe, absolut zentral.
Vielleicht lässt sich die Kürzung damit auch rückgängig machen.
MfG
Ein wenig kommt mir die Diskussion (besserAnsage) gerade vor. Deshalb bin ich dem Kommentator Thomas Rothschild auch dankbar, der an die Komplexität der Positionen erinnert.
In der Kolumne wird alles gesagt, “nicht gerade mit dem feinsten Pinsel im Köcher gemalte(s) Wimmelbild”, “ es ist auch sexistisch, rassistisch, ein bisschen pornographisch, ganz bestimmt blasphemisch und angesichts der Überfülle seiner grotesken Zuspitzungen sowieso zu Gefühlsverletzungen unterschiedlichster Zielgruppen angetan”. Es provoziert und regt zu einem Dialog an, aber bitte auf Augenhöhe. Deutschzentristische Hysterie, ist hier völlig unangebracht.