Kolumne: Als ob! - Über die soziale und dramaturgische Bedeutung der Pause
Ich brauche eine Pause!
Theater kann nur dann ein soziales Erlebnis sein, wenn es auch die Gelegenheit gibt, sich jenseits des Kunstgenusses zu begegnen. Zum Beispiel in der Pause. Aber die wird immer rarer. Ein Plädoyer für die Unterbrechung.
Von Michael Wolf
30. Mai 2023. Philipp Stölzls Münchner Inszenierung "Das Vermächtnis" motiviert allerlei Vergleiche mit Netflix, wegen des psychologischen Spiels, wegen der seriellen Struktur und nicht zuletzt wegen der Länge. Das sei Theater zum Wegbingen, heißt es immer wieder. Ein Aspekt an Streaming-Diensten und deren marathonesker Nutzung ist dabei untergegangen. Selbst bei der spannendsten Serie steht es den Zuschauern frei, kurz das Badezimmer aufzusuchen, den Inhalt des Kühlschranks zu prüfen, mit dem Lebens- oder Sofapartner das Gesehene einzuordnen oder, wie es das Konzept "Netflix and Chill" sogar explizit vorsieht, engagierte Zärtlichkeiten auszutauschen.
Soziale Bühnenkunst?
Nicht alle, doch immerhin die meisten der genannten Bedürfnisse hatte Stölzl bei seiner Inszenierung auf dem Schirm. Seine Aufführung ist sieben Stunden lang, doch dabei von so vielen Pausen unterbrochen, dass auch körperliche und zwischenmenschliche Wünsche nicht zu kurz kommen. Auch deshalb ist diese Produktion bemerkenswert, denn mein Eindruck ist, dass die Pause derzeit nur gering geschätzt wird.
Selbst bei Inszenierungen mit einer Dauer von drei Stunden kann man nicht sicher von einer Unterbrechung ausgehen. Das ist erstaunlich, da Intendanten und Bühnenvereinsfunktionäre ständig von der sozialen Qualität der Bühnenkunst schwärmen. Theater seien Orte, an dem die Stadtgesellschaft zusammenkomme, Räume der Diskussion und des Austauschs über Milieus hinweg. Man fragt sich nur, wann all das stattfinden soll. Vor der Aufführung mag noch Zeit sein, doch danach muss ein nicht geringer Teil dieser Stadtgesellschaft zügig nach Hause, weil der Babysitter quengelt, der nächste Arbeitstag bedrohlich naht oder schlicht die Energie fehlt.
Entlastet das Sitzfleisch!
Hinzukommt, dass Theater auch die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie beachten sollten. Jüngere Zuschauer wachsen mit TikTok, Smartphones und Second Screens auf. Sie sind nicht ohne Weiteres dazu bereit, ausdauernd starr nach vorne zu gucken. Für das ältere Publikum, das den größten Anteil der Plätze besetzt, gilt das übrigens meiner Beobachtung nach genauso.
Wer schon einmal eine sehr lange Aufführung besucht hat, wird sich an den speziellen Applaus an deren Ende erinnern. Stolz auf das eigene Sitzfleisch und Erleichterung über das Ende entladen sich in euphorischem Jubel. Muss man sein Publikum so quälen? Jedenfalls nicht unter allen Umständen.
Selbstverständlich gibt es Arbeiten, in denen Länge und auch Längen eine ästhetisch notwendige Wirkung entfalten. Andere Produktionen beweisen allerdings nur ihre dramaturgischen Mängel, wenn sie keinen Wert auf Pausen legen. Denn diese strukturieren auch eine Aufführung, sind teilweise zentrale Regie-Entscheidungen.
Die Pause als dramaturgische Setzung
Ich weiß nicht, wie oft mir von Einar Schleefs "Salome"-Inszenierung aus dem Jahr 1997 vorgeschwärmt wurde, in der die Schauspieler zehn Minuten bewegungslos verharrten, bevor sich der eiserne Vorhang senkte. Nie habe ich erfahren, wie es in der zweiten Hälfte weiterging, diese Pause dagegen ist legendär. Mir selbst ist Romeo Castelluccis Arbeit Hyperion. Briefe eines Terroristen in bester Erinnerung, in der zu Beginn eine Polizeieinheit das liebevoll gestaltete Bühnenbild komplett verwüstete und das Publikum aus dem Saal scheuchte.
Solche Unterbrechungen dienen der Rhythmisierung, der gezielten Setzung von Atmosphären und Botschaften. Daher vorm Sommerloch mein Appell an die Regie und Dramaturgie: Wer von Ihnen die Pause als notwendiges Übel versteht, das den eigentlichen Sinn des Theaters zugunsten von Brezeln und Weißweinschorlen verzögert, möge doch in den Ferien einmal in sich gehen.
Kolumne: Als ob!
Michael Wolf
Michael Wolf hat Medienwissenschaft und Literarisches Schreiben in Potsdam, Hildesheim und Wien studiert. Er ist freier Literatur- und Theaterkritiker und gehört seit 2016 der Redaktion von nachtkritik.de an.
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Vor allem post-Corona sind viele Theater zu ungastlicheren Orten geworden, nach dem Schlussapplaus findet man sich schnell auf der Straße wieder. Das gerade zu Ende gegangene Theatertreffen hat das Problem ja auch wieder gezeigt.
Theater müssen aber auch gute Gastgeber sein.
Noch 'ne legendäre Schleef-Pause: Berliner Ensemble, "Wessis in Weimar". Vorstellung läuft zwanzig Minuten - ein den gesamten Portalausschnitt schließender (sehr grobmaschiger) Netzvorhang senkt sich aus dem Schnürboden herab. Eine Mann*schaft aus höchstens 12-/13-jährigen Kids entert fussballspielend die Bühne. Licht im Saal geht an, Saaltüren öffnen sich. 25 Minuten Pause. Danach ging es dann dreieinhalb Stunden durch.
Ausnahmen: Unisex-Toiletten in der Volksbühne (zu wenige, aber die Last des Anstehens ist wenigstens gleichmäßig verteilt), die Toiletten im neuen Anbau des BE mit Kabinen für alle und Urinalen zusätzlich hinter einer Schwingtür...
Mainz wird ab der neuen Spielzeit all-inclusive: im Ticketpreis sind Garderobe, Getränke und Programmheft enthalten...
1. Der empirische Blick aufs Publikum zeigt doch schon längst: Neben dem Kunstgenuss ist der soziale Charakter des Theaterbesuchs mindestens gleich bedeutsam. Und da man ja während der Vorstellung immer still sein muss, bleibt dafür nur die Pause. Die Missachtung von Publikumsbedürfnissen zu Gunsten einer vermeintlichen künstlerischen Qualität war und ist schon lange ziemlich frech.
2. Ausgehend von einem recht hohen Anteil von Menschen mit chronischen Krankheiten ist ein pausenloses Spiel schlicht diskriminierend. Die altersbedingte schwache Blase, die Notwendigkeit regelmäßiger Bewegung zur Prävention von Durchblutungsstörungen oder vielleicht auch die beschränkte psychische Aufnahmefähigkeit ist mit dreistündigem Kunstgenuss am laufenden Band leider nicht vereinbar.
Aber auch das Gegenteil, wenn meine Erinnerung richtig ist: Claus Peymanns vierstündige Inszenierung von "Nathan der Weise in Bochum - die Pause war nach zweieinhalb Stunden, ein Aufatmen ging durch den Raum, dass man sich bewegen und Notwendiges erledigen konnte. Nach der Pause ging es dann genauso konzentriert auf der Bühne und im Saal weiter. Und danach gab es noch im oberen Foyer ein Gesprach mit Regisseur und Darstellern. Ich weiß nicht mehr, wann dieses Gespräch endete - aber es war ein langer, großer Abend für alle.
Auf dem Grünen Hügel gibt's die legendäre 60min-Pause nach jedem Akt. Ein Genuss, kann ich aus Erfahrung berichten! Der Akt wirkt nach, Luft, Bewegung, Verpflegung, Gespräch verdauen das Gesehene und Gehörte. Und dann kommt der Hunger auf den nächsten Akt.
Auch Sebastian Hartmann (war es sein "Alexanderplatz" am DT?) hatte in nicht extrem langen Inszenierungen sogar zwei Pausen, die dem Abend guttaten. @7: Natürlich wird es Abende geben, wo es sehr schwer wird, eine Pause zu setzen, aber soo schwer, wie es derzeit scheint, kann es nicht sein.
Und @1: Wer keine Brezel und Sekt möchte, muss sich ja nicht der Lobby hingeben.
Zuletzt: Vegard Vinge und Ida Müller haben auch tolle Pausen eingebaut in ihre Inszenierungen. Siegen lernen.
Insofern schließe ich mich den hiesigen Plädoyers an.