meldung
nachtkritik.de-Mitgründer Dirk Pilz verstorben
Erweiterung der Weltsicht
Berlin, 2. November 2018. Der Kulturjournalist und Mitgründer von nachtkritik.de Dirk Pilz ist vergangene Nacht im Berliner Charité-Krankenhaus an einer Krebserkrankung verstorben. Er wurde 46 Jahre alt.
Dirk Pilz. 1972-2018
© Thomas AurinDirk Pilz, geboren 1972 im vogtländischen Rodewisch, studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie in Potsdam, Berlin (FU) und Kopenhagen und promovierte 2005 mit einer Arbeit zur Ästhetiktheorie (Krisengeschöpfe. Zur Theorie und Methodologie der Objektiven Hermeneutik, Springer Verlag 2007). Von 2003 bis 2007 war er Redakteur beim Fachblatt Theater der Zeit. Gemeinsam mit Petra Kohse, Esther Slevogt, Konrad von Homeyer und Nikolaus Merck gründete Dirk Pilz 2007 das Onlineportal für Theaterkritik und Theaterberichterstattung nachtkritik.de, dessen Gesellschafterkreis und Redaktion er bis zuletzt angehörte. Seine regelmäßige Kolumne "Experte des Monats" auf nachtkritik.de war kulturpolitischen und politischen Fragestellungen im Ausgang vom Gegenwartstheater gewidmet. Als Theater-, Literatur- und Sachbuchkritiker war er auch für die Berliner Zeitung, die Frankfurter Rundschau und die Neue Zürcher Zeitung aktiv.
Neben Theater- und Literaturkritik lag einer seiner Arbeitsschwerpunkte auf der Theorie und Geschichte der Religionen. 2014 kuratierte Dirk Pilz für die Kulturstiftung des Bundes die mehrtägige interreligiöse Konferenz "Ihr aber glaubet" in Köln. 2016 wurde er Mitglied des Stiftungsrats des interreligiösen Projektes "House of One" am Petriplatz in Berlin-Mitte.
Auf nachtkritik.de veröffentlichte er zu diesem Themenkreis den Essay Bühnenglauben – Warum das Theater mit Gläubigen kaum etwas anzufangen weiß. Darin diagnostizierte er am Gegenwartstheater einen fehlenden "Kontakt mit Andersgläubigen, mit Menschen und Ideen jenseits der eigenen Kantinenwelt, es fehlt an der Vorstellungskraft, dass man von anderen tatsächlich etwas lernen, die eigene Weltsicht Erweiterndes erfahren könnte." Um diese Erweiterung der Weltsicht kreiste seine Arbeit.
Dirk Pilz übte Lehrtätigkeiten an diversen Hochschulen aus. Zehn Jahre lang betreute er als Mentor die Festivalzeitung (später den Theatertreffen-Blog) beim Berliner Theatertreffen. Seit 2015 war er Gastprofessor am Berlin Career College der Universität der Künste und leitete dort den Masterstudiengang Kulturjournalismus akademisch. 2012 erhielt Dirk Pilz den Marie-Zimmermann-Preis für Theaterkritik (verbunden mit einem Aufenthalt an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart). Dirk Pilz verstarb am 2. November 2018 in Berlin. Er hinterlässt seine Frau und zwei Kinder.
(chr)
Weil vielfach nach einer Spendenadresse gefragt worden ist - wer spenden möchte, möge dies bitte für das House of One tun:
Spendenkonto
Kontoinhaber: Stiftung House of One – Bet- und Lehrhaus Berlin
Bank: Bank für Sozialwirtschaft AG
IBAN: DE60 1002 0500 0001 5050 02
Für EUR Beträge
BIC: BFSWDE33BER
Wenn Sie für Spenden über 200 Euro eine steuerlich absetzbare Spendenquittung benötigen, geben Sie bitte unter Verwendungszweck Name und Anschrift an.
An die Freundschaft und die Zusammenarbeit mit Dirk Pilz erinnern sich Nikolaus Merck, Esther Slevogt und Christian Rakow.
Presseschau und Stimmen
"Dirks freundliche Zugewandtheit war mindestens so unerschöpflich wie sein Wissen. Dirk machte mir Mut, indem er da und ansprechbar war. Oft half er mir aus der Patsche. Zum Beispiel, wenn ein Nachruf zu schreiben war. Es ist nicht zu fassen." In einem großen persönlichen Nachruf gedenkt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 2.11.2018) seines Freundes und Kollegen Dirk Pilz.
Im Berliner Stadtmagazin Zitty (online 2.11.2018) würdigt Theaterredakteur Friedhelm Teicke seinen langjährigen Autor: "Dirk Pilz war ein feiner Mensch. Nicht in dem Sinne, dass er sich für irgendetwas zu fein gewesen wäre, überhaupt nicht, aber er war ein feinsinniger Autor, ein blitzgescheiter, stets höflicher, rundum ein äußerst angenehmer Kollege."
Für das interreligiöse House of One – Bet- und Lehrhaus Berlin würdigt Roland Stolte auf der Website (4.11.2018) das Stiftungsratsmitglied und den "Rat- und Ideengeber" Dirk Pilz für seine "existentielle, religiöse und intellektuelle Tapferkeit, die ich nicht vergessen werde; eine Haltung, die auch der weiteren Entfaltung des House of One unendlich gut getan hätte."
An Dirk Pilz' Anfänge als Germanistikstudent beim "Unidram"-Festival in Potsdam erinnert sich seine ehemaliger Kollege Frank Starke in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (4.11.2018). "Über Unidram kam er zum Schreiben, verfasste erste Rezensionen. In den Folgejahren war er eine feste Größe im Feuilleton der Märkischen Allgemeinen, als Theaterkritiker, aber auch als Spezialist für Sachbücher. Keiner konnte sich in der Redaktion so kompetent wie er mit theologischen Fragen auseinandersetzen."
"Sich angreifbar machen. Für Dirk hieß das, einen Gedanken luzide und selbstbewusst zu vertreten, immer im Bewusstsein darum, dass er potenziell relativ bliebe, dass es irgendwo da draußen eine Möglichkeit geben könnte, die Dinge aus ähnlich guten Gründen ganz anders zu sehen", schreibt Janis El-Bira auf dem Blog des Berliner Theatertreffens (6.11.2018). "Sein Misstrauen gegenüber den eigenen Vorurteilen und Geschmäcklereien, der eingehegten Bequemlichkeit saturierten Denkens, war grenzenlos."
"Dirk Pilz nötigte einem sein Wissen nicht auf (...). Er stellte es Interessenten beinahe selbstlos und beiläufig zur Verfügung", schreibt Raoul Löbbert aus der "Christ und Welt"-Redaktion in der Zeit (9.11.2018).
"Sein früher Tod hat mich betroffen gemacht, aber auch nachdenklich," schreibt Jan Küveler in der Tageszeitung Die Welt (14.11.2018). "Es wäre übertrieben und deshalb eben gar nicht in seinem Sinne, das Ende einer Ära zu beklagen. In einen Satz gepresst, mit einem Subjekt, das keinen Zweifel kennt, und einem Prädikat, das einen Vorgang im Brustton der Überzeugung behauptet, klingt es zu apodiktisch – aber etwas ist doch dran, auf tastende, flüsternde Weise, wenn man sagt, dass die Figur des Theaterkritikers historisch wird. Vieles deutet darauf hin, dass ihre Zeit zu Ende geht. Es muss keine Katastrophe sein; vielleicht verpuppt sie sich nur und entsteht in neuer Form wieder. Vielleicht hat sie längst damit angefangen."
mehr meldungen
meldungen >
- 01. Dezember 2023 Franz Rogowski gewinnt US-Filmkritikerpreis
- 01. Dezember 2023 Mäzen und Ex-DB-Chef Heinz Dürr verstorben
- 01. Dezember 2023 Wien: Burgtheater verklagt Florian Teichtmeister
- 30. November 2023 Hebbel-Preis 2024 für Dramatikerin Caren Jeß
- 30. November 2023 Goecke-Verfahren zur Hundekot-Attacke eingestellt
- 28. November 2023 Neue Leitung für Digitalsparte am Staatstheater Augsburg
- 28. November 2023 Direktor des Deutschen Theaters Berlin entlassen
- 27. November 2023 AfD-Verbotsaktion des Zentrum für politische Schönheit
Er fehlt schon jetzt
Klug und neugierig, bedächtig kundig zugewandt, herzlich gebildet, sorgfältig begeistert, spitz und witzig, scharf entschieden auch, einladend feinsinnig und unermüdlich offen und
Heute ist für mich ein Trauertag. Ich denke an seine Familie, die ihm so wichtig war, die kleinen Kinder, seine Frau. Und kondoliere von Herzen.
Shermin Langhoff im Namen des Maxim Gorki Theaters
Ein großer Verlust.
Bei aller Belesenheit und Bildung, blickte er immer auch mit dem Herzen auf diese flüchtige Kunst.
War klar ohne verletzen zu wollen und begeistert ohne die Absicht neue Hirarchien zu bilden.
In tiefer Traurigkeit!
Meine Anteilnahme gilt ihrer Familie und ihren Freunden.
Sie waren tatsächlich einzigartig, denn Sie haben nicht nur aus dem Fundus: mein Geschmack, mein Denken, meine Kunst-und Ästhetikvorlieben geschrieben , wenn Sie ein Aufführung besucht haben, und sie dann beschrieben und bewerteten; Sie schauten weiter, mehr, ambivalenter, denn Sie waren wirklich neugierig, offen und überraschbar. Sie konnten Ihre eigenen Denk-und Empfindungsgrenzen , die ja Jede/r hat, überwinden, was ja sauschwer ist, und drüber hinauskucken und weitersuchen.
Wenn man wissen wollte, wie vielleicht Aufführung X oder Y geworden sei, musste man Pilz lesen. Denn da war kein Bescheidwisser am Werk, sondern ein Sucher und Neugieriger, der nicht schon vor Beginn des Abends wusste, wie er werden würde. Was für ein toller Mensch.
Das Theater wird Sie sehr vermissen.
Ulrich Khuon im Namen des Deutschen Theater Berlin
Ich wünsche vor allem seiner Familie Kraft und Hoffnung in diesem schmerzhaften Verlust. Ich hätte diesen außergewöhnlichen Menschen sehr gerne kennengelernt.
Es kommt alles wieder, aber keiner bleibt sich gleich. Wie tröstlich, und wie erschreckend."
nichts gibt es hinzuzufügen- und ich dachte wir reden nochmal....
dann auf der andren seite
Sebastian*(Hartmann)
es fällt mir unendlich schwer, etwas zu schreiben. Denn alles, was ich jetzt schreibe, hätte ich Dir sagen wollen. Und manches habe ich Dir hoffentlich auch gesagt.
Als wir uns kennenlernten, waren wir beide bei "Theater der Zeit". Es war eine Zeit, in der ich sehr, sehr viel von Dir gelernt habe - gar nicht mal so sehr übers Theater (da hatten wir oft einen recht ähnlichen Blick), aber über die Unerbittlichkeit in der analytischen Auseinandersetzung mit demselben. "Unerbittlich" klingt ein wenig hart, aber Du warst das oft, doch immer im Sinne einer Suche nach Wahrheit. Um deren Relativität wissend, hast Du wie kaum ein anderer dabei auch die Rolle des Kritikers mitreflektiert: Bei Deiner Suche standest Du immer selbst mit auf dem Spiel. Deswegen warst Du in Deinem Urteil zwar mitunter scharf, aber - so wie ich es sehe - nie arrogant. Deine Texte waren argumentreich, aber nie abweisend oder hermetisch: Sie luden zu Gegenargumenten ein.
Bei unseren zahlreichen Zusammentreffen, ob auf Redaktionssitzungen oder privat, habe ich Dich ganz ähnlich erlebt. Durchaus sehr bestimmt, wenn es darum ging, Grundsätzliches zu verteidigen, aber dabei immer freundlich, zuhörend, abwägend und vor allem auch - hilfreich und hilfsbereit. Ich habe ja nicht bei Dir studiert, aber ich bin mir sicher, dass alle, die Deine Förderung erfahren durften, in Dir einen Mentor hatten, dem es immer um die Sache und nie um persönliche Machtspielchen oder was auch immer ging. Einen Förderer, wie man sich ihn nur wünschen kann.
Viele Geschichten, die Du mir erzählt hast (einiges Schöne und Kuriose haben wir auch gemeinsam erlebt), sind Teil meines Anekdotenschatzes geworden und damit Teil meines Lebens. Wie gerne, ach wie gerne würde ich noch einmal einen Rotwein mit Dir trinken. Ich setze mich mit Tränen nieder. Ruhe sanfte, sanfte ruh!
Auf bald! Wolfgang
Matthias Schmidt
Seine Arbeit und sein Engagement waren von unschätzbarem Wert – eine Leerstelle, die man nicht leicht füllen können wird. Das Theatertreffen und die ganze Theaterwelt verlieren mit ihm eine Persönlichkeit, dessen Wissen und Blick, dessen Integrität und Neugier einzigartig waren.
Unsere Gedanken sind bei Anne Peter und den Kindern, der Familie, den Freund*innen und Kolleg*innen.
Yvonne Büdenhölzer im Namen des Berliner Theatertreffens
Mit Dirk durch das Theater hindurch über die Welt zu sprechen war herausfordernd beglückend. Er misstraute der Hoffnung, dass die Kunst all die Transzendenz in unser hochtouriges Stadtleben bringen könne, die nötig wäre, um die wirklich großen Themen anzupacken. Gleichzeitig erinnerte er uns dadurch an die wesentlichen Fragen jenseits dieses Lebens. Wie schmerzhaft ist sein Tod.
Mein Mitgefühl gilt Anne Peter und allen, die ihm nah sind.
Ruhe in Frieden.
Mein Beileid gilt besonders seiner Familie. Solch ein früher Tod macht sehr nachdenklich.
- Es ist einfach nur schrecklich ....“
als wir uns zum ersten Mal begegneten, im Rahmen des Theatertreffen-Blogs 2015, da warst du mein „Mentor“. Ich hatte einen Text geschrieben, vollauf überzeugt, er sei etwas Besonderes. In einem deiner unter TT-Blogger*innen berühmt-berüchtigten Redigate in großer Runde, die aus Texten Explosionszeichnungen machten, hast du ihn so freundlich wie gnadenlos zerpflückt. Als wir später im Garten beisammen saßen, sagtest du mir einen deiner typischen, unheimlich stärkenden Sätze: „Mir ist ja klar, dass du weißt, was du tust.“ Erst später begriff ich, dass das überhaupt deine Grundüberzeugung war – dass Menschen Gründe haben, so zu sprechen, zu schreiben und zu denken, wie sie es tun. Immer wolltest du diese Gründe kennenlernen, verstehen, gerade auch dort, wo du nicht einverstanden warst. Du hast jeden deiner Gegenüber radikal ernst genommen, stets bereit, selbst verunsichert zu werden. Nicht nur darin warst du eine Ausnahme.
Dreimal arbeiteten wir danach zusammen an diesem schönen Ding, dem Theatertreffen-Blog, das dir so am Herzen lag. Wann immer es Schwierigkeiten gab, war mein erster Gedanke: Dirk fragen. Denn du wusstest Rat. Dazwischen trafen wir uns oft in den letzten, kurzen drei Jahren und sprachen über viel mehr als nur Theater. Bald auch über deine Krankheit, deren fürchterliches Ende unsere Freundschaft nun verändert, aber nicht beendet hat. Denn nichts von dem, was du für mich und so viele andere warst, wird vergehen.
„Also, auf bald“, würdest du jetzt schreiben. Ich auch.
Janis
Dein Tod erschüttert mich. Es schmerzt, die Nachrufe zu lesen, gleichzeitig sind die guten Worte ein Trost; und eine Ermutigung, auch eine Facette beizutragen zu dem Bild, das jetzt noch einmal von Dir entsteht.
Wir haben einander 2002 kennengelernt, und als sich 2003 in der Redaktion von Theater der Zeit ein Vakuum auftat, sprangen wir rein und bildeten, zuerst mit Anja Dürrschmidt, später mit Wolfgang Behrens, für vier Jahre die Redaktion (Nikolaus Merck als guter Geist und inspirierender Gesprächspartner begleitete unser Tun). Kein anderer Kollege hat mich so viel gelehrt über die kritische und produktive Begleitung des Theaters. Während wir anderen in den Redaktionsräumen in der Klosterstraße arbeiteten, arbeitetest Du von Deiner Friedrichshainer Wohnung zu. Zur wöchentlichen Redaktionssitzung kamst Du mit dem Rad nach Mitte geradelt, auf dem Rücken einen großen, grauen Rucksack, gerade so als kämst Du frisch von einer Wanderung. Darin verstautest Du die jüngst erschienenen Bücher des Verlags oder auch andere, die Du rezensieren wolltest. Wie oft konntest Du, als sei es nichts, schnell einen Text einreichen, eine Rezension, einen Kommentar, wenn etwas fehlte, fülltest Du die Lücke. Du hattest Dein ästhetisches Grundhandwerk aus Deiner theoretischen Auseinandersetzung immer dabei, und stelltest es uns anderen in der Diskussion zur Verfügung, genau wie Dein theaterhistorisches, literarisches, philosophisches, umfassend theologisches Wissen. Das erste Buch, das ich von Dir bekam, waren Gedichte von Inger Christensen, am Ende unserer Zusammenarbeit lernte ich über Dich die Schriften Deines Freundes Christian Lehnert kennen.
Nichts war Dir selbstverständlich, scheinbare Wahrheiten versahst Du mit einem „ja, aber warum ist das denn so?“. Du warst auf der Suche nach dem Grundsätzlichen, nach übergeordneten Kategorien. Es wäre sicherlich erhellend, Deine gesammelten Kritiken, Kommentare, die zahlreichen Gespräche chronologisch zu lesen, Deiner gedanklichen Spur auf diese Weise noch einmal zu folgen. Wir wollten Debatten anstoßen, neugierig sein, kulturpolitisch das begleiten, was sich als Veränderung abzeichnete, die Fusionen im Osten, die ästhetischen Bewegungen der Freien Szene, das erforschen und begleiten, was man so schnell „politisches Theater“ nennen kann. Wir waren jung und die Begriffe groß. Auch vergesse ich Dein Lachen nicht, das Absurditäten, Dünkel kommentierte und entlarvte. Nicht Deine (wie mir schien, ostdeutsche) Bescheidenheit, Deinen Respekt anderen gegenüber, Deine Neugierde. Unvergessen die Reisen zu Premieren, da der Etat bei TdZ begrenzt war, mit dem Auto hin und, wenn möglich, nachts zurück, Hamburg, Leipzig, Hannover. Du warst ein vorsichtiger Autofahrer.
2001, zum Ende meines Studiums, veranstalteten meine Freundin Anna Poeschel und ich im Institut für Theaterwissenschaft ein Projekttutorium zum Thema „Theaterkritik“. Im Seminar saß eine zurückhaltende, kluge Studentin, die die besten Texte schrieb, Anne, Deine spätere Frau. Anne war wenige Jahre später Praktikantin bei Theater der Zeit, und ich erinnere mich an die Blicke bei Eurem Kennenlernen. In meinen Gedanken und meiner Trauer bin ich bei ihr und Euren Kindern.
Deine Nina
In tiefem Mitgefühl für seine Frau, Familie und Freunde -
Franziska Werner und das Team der Sophiensaele
Die zwei Jahre unseres Studiums waren durchzogen gewesen von Meldungen, dass er krank sei, waren von seinen wiederkehrenden Abwesenheiten ebenso geprägt, wie von aufgeschobenen Terminen - doch letztlich war er immer wieder gekommen. Und so meinten wir auch diesmal, dass er bald wieder durch die Tür kommen würde: Mit seinem zugewandten, einladenden Wesen; bereit, mit uns über Kultur, Kunst, Theater und Literatur zu sprechen und wie man darüber schreiben kann.
Er hätte, wie immer zu Beginn seiner Seminare, seine Armbanduhr abgenommen und sie sorgfältig an den Rand des Tisches gelegt, ganz so, als ob er die Zeit beiseitelegen wollte um Raum für das Denken zu schaffen. Dann hätte er konzentriert über die Seiten des Textes gestrichen den wir besprechen wollten, hätte dabei so ein bisschen vor sich hin geschmunzelt, als ob es da was zu lachen gäbe, hätte uns dann seinen offenen Blick geschenkt, auf den Text gezeigt und gefragt: „Was ist das?“.
Doch dieses Mal, an diesem schrecklichen Tag, ist er nicht mehr durch die Tür gekommen und nun stehen wir da, unter Schock, fühlen uns sehr verlassen und wie mit leeren Händen.
Bei Dirk zu lernen bedeutete, sich selbst immer wieder auf Anfang zu setzen, die Gewissheiten über Bord zu werfen und die Fragen stets von vorne beginnend zu stellen. Dieses „Was ist das?“. Was ist das, zum Beispiel, eine Erfahrung zu machen? Darüber sprachen wir wochenlang. Und dann, davon ausgehend: Was ist das überhaupt, eine ästhetische Erfahrung in der Kunst zu machen? Dirk liebte und forderte das genaue Hinterfragen, vor allem der eigenen Seh- und Denkgewohnheiten. Zu denken und zu schreiben, hieß für ihn deshalb selbstkritisch zu sein, sich selbst ständig zu beobachten in den eigenen Wertemaßstäben, Haltungen, Überzeugungen. Wie oft kamen wir aus den Seminaren und hatten überraschend wieder etwas neu verstanden, wieder etwas (zuvor Selbstverständliches) neu entdeckt. Dirks Neugier schien grenzenlos, fast kindlich. In der Arbeit mit unseren oder anderen, literarischen Texten konnte er jedes Wort wie einen Stein umdrehen und schauen, was sich dahinter oder darunter verbarg. Häufig kamen wir dabei über die ersten fünf Sätze nicht hinaus. Mit Dirk reiste man nicht weit, aber tief.
Das alles war manchmal auch beschwerlich. Wie anstrengend kann einem die Forderung nach Genauigkeit sein, wie verunsichernd der permanente Aufruf nach Selbstbefragung. Nicht selten demontierte er in der Besprechung unserer Rezensionen die hübsch gezimmerten Selbstbilder einer nachwachsenden Journalismus-Avantgarde. Nicht jedem gefiel das. Nicht jeder verstand, was er eigentlich wollte. Und vielleicht liegt hierin seine persönlichste Leistung als Lehrer, dass er den Mut und das Risiko auf sich nahm, seinen Studenten unbequem zu werden.
Was für ein unaussprechlich großes Glück wir doch hatten, ihn erleben, ihn kennen zu dürfen. Es ist nun an uns, seine Impulse weiterzutragen, sie lebendig zu halten. Wie hätte ihm das gefallen: Dass wir uns schreibend aufs offene Meer wagen; uns weiterhin nicht sicher sind; dass wir uns mit unseren Texten „angreifbar machen“, wie sein Credo lautete; dass wir jetzt tatsächlich einmal alle Verben aus Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ herausschreiben, um unseren Wortschatz zu erweitern; dass die Welt in der wir leben uns etwas angeht und wir uns um sie sorgen; dass wir freudig in die Kunst eintauchen; dass wir mit unseren Texten scheitern und erneut mutig beginnen.
Voller Schmerz nehmen wir Abschied und sind dankbar für die Zeit.
Eva Marburg
Mit dem Studiengang „Kulturjournalismus“ an der Universität der Künste, Berlin
Weil vielfach nach einer Spendenadresse gefragt worden ist – wer spenden möchte, möge dies bitte für das House of One tun: house-of-one.org/de/spenden
Spendenkonto
Kontoinhaber:
Stiftung House of One – Bet- und Lehrhaus Berlin
Bank: Bank für Sozialwirtschaft AG
IBAN:
DE60 1002 0500 0001 5050 02
Für EUR Beträge
BIC: BFSWDE33BER
Wenn Sie für Spenden über 200 Euro eine steuerlich absetzbare Spendenquittung benötigen, geben Sie bitte unter Verwendungszweck Name und Anschrift an.
Ihrigen wünsche ich in diesen traurigen und durch Ihren viel zu frühen Tod erschütterten Zeiten alles erdenklich Gute, Freundinnen und Freunde zur rechten Zeit wie Stille und Besinnung zu ihren jeweiligen Zeiten !
Ich empfinde, obschon ich Sie nur selten sehen, noch seltener erleben
durfte (wie seinerzeit bei der Podiumsdiskussion im Hamburger Schauspielhaus, welche ich auf NK ein wenig nachzuzeichnen suchte), ein wenig häufiger immerhin lesen, eine große Dankbarkeit.
Ihre Arbeit ua. daran und dafür , das Publikum , die einzelne Zuschauerin, den einzelnen Zuschauer, zu aktivieren und ebenso für die Produktionsbedingungen des auf der Bühne Erlebten zu sensibilisieren wie einen Raum zu eröffnen für KommentatorInnenrückhall zu allerlei Aspekten des Theaterlebens kann -meineserachtens- in ihrem Wert kaum überschätzt werden ! Dafür wollte ich an dieser Stelle mich noch einmal persönlich bedanken, meinen ursprünglichen Text hier ein wenig kürzend, einmal mit meinem sogenannten "Klarnamen" zeichnend !.
In Dankbarkeit Ihr Mario Kläve