Orpheus und Eurydike - Theater Freiburg
Urlaub fürs Gehirn
18. Dezember 2021. Choreographin Erna Ómarsdóttir bringt isländische Tänzer:innen mit dem Ensemble des Theater Freiburg zusammen. Sie will Ovids Stoff um "Orpheus + Eurydike" in ein Borderline-Musical verwandeln. Es kommt aber eher ein Trashical dabei heraus. Und das macht richtig Spaß!
Von Jürgen Reuß
Freiburg, 18. Dezember 2021. Für ihre Zusammenarbeit mit dem Theater Freiburg gab die isländische Regisseurin, Choreographin und Tänzerin Erna Ómarsdóttir der Dramaturgin Tamina Theiß den Rat: "You have to put your brain away." So wie dieser Satz schon eher nach dem Titel eines Popsongs klingt, bei dem man lieber dem Sound als dem Inhalt trauen sollte, funktioniert dann auch das Ergebnis der Zusammenarbeit, "Orpheus + Eurydike", das im Kleinen Haus des Theater Freiburg Premiere hatte.
Das Produktionsteam um Ómarsdóttir nennt diese Begegnung von sechs Mitgliedern des Freiburger Schauspielensembles und vieren der Island Dance Company ein "Borderline-Musical". Auch dieses Label muss man nicht wirklich ergründen, sondern eher als Hinweis lesen, welchen Teil des Hirns man in den folgenden knapp zweieinhalb Stunden denn beiseite legen sollte. Auf jeden Fall den, der bei der Besetzung Schauspiel und/oder Tanz erwartet. Auf der Bühne wird es eher so funktionieren wie bei Puddingpulver und Milch – am Ende hat man kein Zusammenspiel von Pulver und Flüssigkeit, sondern eben Pudding. Und der ist, wenn man sich drauf einlässt, zumindest in der ersten Hälfte so etwas wie ein Ohrwurm für die Zunge, der es in die Charts schafft, prima mundet, aber weniger die Geschmacksknospen folgender Generationen prägen wird.
Der Abend beginnt mit leichtem Bodennebel, in den die Akteure nach und nach ihre Zutaten für einen zünftigen Mythos rühren. Anfangs versucht man ihnen noch zu folgen, was sie über Götter und Helden erzählen, aber je mehr sich die Stimmen überlagern, erkennt man, dass es eher ums Wabern als um distinkte Aussagen geht, um Positionen und Formen. Wer am Mikro steht ist Allmighty oder orphischer Popstar, später auch schwermetallender Herrscher der Unterwelt. Die vorherrschende Form ist der Kreis. Elf kleine, multifunktionale Trampoline, die mal zum schildbewehrten Schiffsrumpf, mal zum Wehrturm formiert werden, auf denen aber auch bisweilen gehüpft wird. Auch die Bewegungsmuster der Akteure sind ein ewiges Rühren, das mal in einen Reigen um das große Mysterientrampolin mündet, mal in gewirbelten Gymnastikbändchen züngelt.
Wunderbar albern!
Aus dieser Gemengelage tauchen immer wieder Einzelbilder auf, die sich wie tolle Hooklines oder markante Riffs ins beiseite gelegte Hirn fräsen. Etwa wenn Eurydike das zum goldenen Meer gespannte Vlies jesusmäßig überschreitet, während Orpheus mit den von den Mitspielenden aufgeworfenen Fluten kämpft. Oder wenn Eurydike dann von eben jenem Vlies wie von einem Strudel in die Unterwelt gesogen wird. Mit einem Gespür für den Wunsch des Publikums nach erkennbarer Story werden auch geschickt einzelne Abenteuer choreographisch ausgekostet. Etwa die Flucht der Argonauten auf hoher See, ein wunderbar albern-erhabenes Auf und Ab im schildbewehrten Boot, mit Mann und Frau über Bord, was dann den Tänzer*innen die Gelegenheit gibt, etwas von ihrer Virtuosität hineinzuschlängeln.
Und dann die Rettung auf eine Insel, auf der die Recken im Mysterienspiel um Demeter, Persephone und Hades gleich mal im Kleinen durchspielen dürfen, was dem isländischen Produktionsteam vielleicht auch für die Gesamtinszenierung vorschwebte – wie das wäre, wenn man einfach mal wieder in den mystischen Reigen einer zyklischen Lebensauffassung eintauchen könnte, so wie später Persephone wieder und wieder kopfüber in den zum Höllentor gewordenen goldenen Vliesvulkan eintaucht, um dann als Frühlingsnymphe wieder aufzutauchen. Ein berückendes Spektakel zwischen Burning Man und Mittsommerfest.
Ach ja, eine Story gibts ja auch, zumindest in Ansätzen. Nachdem ein bisschen über Mythen geplaudert wurde, macht Jason sich mit seinen Argonauten, darunter Orpheus, auf den Weg des Goldene Vlies zu erobern. Irgendwie ist auch Eurydike dabei. Vor Ort nehmen sie neben dem Vlies auch Medea mit, die sich fortan den Künstlerinnennamen Medusa gibt. Auf der Flucht stranden sie auf einer Insel und landen im kultischen Gefeier schon mal spielerisch bei Hades. Dann ist Pause.
Nach der Pause wird es rätselhafter. Orpheus versucht nach seinem Goldnen-Vlies-Hit ein Comeback im Vagus-Kult, bleibt aber offenbar ein One-Hit-Wonder, verliert Eurydike durch Schlangenbiss, darf seine Verzweiflung über den doppelten Verlust von Liebe und Erfolg dann nackig auf dem großen Trampolin heraushüpfen, bevor ihn die Megären bildstark mit Gartengeräten zerfleischen. Irgendwie soll das Stück auf der intellektuellen Ebene auch den Gegensatz von Kunst und Landwirtschaft erzählen, aber der Rezensent ist der Regieanweisung gefolgt, das Hirn beiseite zu legen und hat das nicht weiter mitbekommen.
Das große Wühlen
Ist aber nicht schlimm, denn der Pudding hat zumindest in der ersten Hälfte prima gemundet. Auf den Begriff gebracht, wäre die erste Assoziation allerdings weniger Boderline-Musical als Trashical. Bei Borderline, denkt man eher an Grenzkonflikte und existenzielle Bewältigungsprobleme, doch die Stärke der Inszenierung liegt im lustvollen Zusammenrühren und Herumwühlen, allein schon dadurch, wie sich die Tänzer*innen in ihrem Können zurücknehmen und die Schauspieler*innen der Wortmacht beraubt werden, und dadurch den Gedanken einer unüberwindlichen Borderline – etwa zwischen Schauspiel und Tanz – ins Nichtige veralbern. Die Möglichkeit der Begegnung liegt jenseits der Ernsthaftigkeit – auch eine witzige Utopie.
Orpheus + Eurydike
nach Ovid
Regie und Choreografie: Erna Ómarsdóttir, Ausstattung und Kostüme: Gabríela Friðriksdóttir, Komposition und Arrangements: Valdimar Jóhannsson, Skúli Sverrisson Videodesign Valdimar Jóhannsson, Text und Übersetzung: Bjarni Jónsson, Dramaturgie: Tamina Theiß.
Mit Felix Urbina Alejandre, Una Björg Bjarnadóttir, Thieß Brammer, Victor Calero, Janna Horstmann, Henry Meyer, Stefanie Mrachacz, Ho-Ching Charmene Pang, Saga Sigurðardóttir, Michael Witte
Premiere am 17. Dezember 2021.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause
https://theater.freiburg.de
"Es gibt betörende Bilder in dieser Produktion, die auf dem schmalen Grat zwischen Trash und Pathos wandert", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (20.12.2021). "Aber es gibt auch Szenen von lähmender Länge. Wie ernst es Erna Ómarsdóttir mit ihrem 'Borderline-Musical' ist, lässt sich schwer ausmachen."
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