"Ihr wollt, dass ich über Hass rede!"

23. Juni 2023. Hermann Hesses Steppenwolf ist so vielschichtig und oszillierend wie die Suche nach Identität, war Kultbuch für Hippies, Kapitalismuskritiker, schizoide Außenseiter mit Hang zum Elitismus, libertäre Querdenker und viele mehr. Wiktor Baginski alias Ahmad Ali macht eine Befragung unserer rassistisch grundierten Gesellschaft daraus.

Von Reingart Sauppe

"Steppenwolf" nach Herrmann Hesse am Theater Freiburg © Rainer Muranyi

23. Juni 2023. Sie trägt eine weibliche Schafsmaske und sprüht Raumduft in das puristisch cleane Gästezimmer mit schwarzem Bett, schwarzem Schreibtisch und Stuhl. Er, mit Widderkopf, kontrolliert einen wackligen Barhocker an der weiß-goldenen Theke, auf der eine weiße Goethe-Büste und ein schwarzes Radiogerät stehen: ausgesuchte Requisiten des bürgerlich-aufgeräumten Alltags dieses modernen Paares. Ein paar Grünpflanzen im Hintergrund ergänzen die Schöner-Wohnen-Idylle.

Schaf 1 und Schaf 2 (bei Hermann Hesse Vermieterin und ihr Neffe) sind die Spießbürger des 21. Jahrhunderts: Alles soll perfekt sein für den Untermieter, den sie erwarten. Schließlich klingelt es an der Tür. Und dort steht der Steppenwolf: Schlank, hochgewachsen, brauner Anzug, braune Sonnenbrille, stumm. Langes undurchsichtiges Schweigen. Warum sagt der Fremde nichts? Er hat doch geklingelt. Anspannung auf beiden Seiten, bis das weibliche Schaf schließlich den ersten Schritt unternimmt und den Stummen anspricht.

Gesellschaft im Spiegel

Schon diese kurze Szene entwickelt das Thema, das sich durch diese Inszenierung zieht: Eine PoC als Fremder in der weißen Mittelschichtsgesellschaft. Dass die Rollen klar verteilt sind und wir die Bewohner solcher aufgeräumten Designerbuden, wird uns sinnbildlich vor Augen geführt: Das mehrheitlich weiße Publikum, das im Zuschauerraum sitzt, kann sich in verspiegelten Wänden des Bühnenbilds erkennen.

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Diese populärphilosophische Frage hat in seinem 1927 erschienenen Roman auch schon Hermann Hesse gestellt, der als Sproß pietistischer Zugezogener ins Schwäbische noch eine vergleichsweise stringente Identität vorweisen konnte. Bei Regisseur Wiktor Baginski ist das komplexer: Als Nicht-Weißer im katholisch-weißen Polen aufgewachsen, wurde er zuerst Fußballprofi, studierte dann Philosophie, absolvierte eine Ausbildung als Schauspieler, feierte Erfolge als Theaterregisseur und trennte sich schließlich von seinem polnischen Namen. Aus Baginski wurde Ahmad Ali. Mit seiner Inszenierung am Theater Freiburg stellt er sich zum ersten Mal an einer deutschen Bühne vor.

Der Steppenwolf1 Rainer MuranyiJana Horstmann, Moses Leo und Martin Hohner © Rainer Muranyi

In seiner Inszenierung ist der moderne Steppenwolf, dem der Schauspieler Moses Leo auch wortlos eine ungeheuer starke Bühnenpräsenz verleiht, nichts weniger als ein verdruckst-neurotischer, schwäbischer Intellektueller: Attraktiv, sanft, sympathisch, zurückhaltend kommt er daher und zeigt eine glatte Oberfläche mit verschlossenem Innenleben, das die Neugier der Mittelschichtsbürger anheizt. Als die Vermieterin und ihr Neffe die Schafsköpfe ablegen, stehen da zwei verbürgerlichte Vertreter der Generation Steppenwolf, Zielgruppe SWR3 Hörer. Er langhaarig und ein bisschen schludrig, sie adrett mit Fönfrisur. Aus dem Radio schallt Popmusik, zu der die beiden den Alltagstrott wegtanzen. Umso spannender ist dieser neue, geheimnisvolle Untermieter, den man gerne neugierig ausspionieren möchte….

Born to be confused

Der Abend könnte ein ironisches Gesellschaftsstück werden über den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit denen, die sie als "Fremde" markiert, wenn da nicht der Text und die Sprache von Hermann Hesse wäre: Mal wird das Vorwort des Originals im Schnelldurchgang ordentlich deklamiert, mal wirkt die Unterhaltung des Steppenwolfs mit Goethe wie ein verstaubtes Zitat aus der Mottenkiste. Hesses Lebensweisheiten tröpfeln nebenbei wie gut verdauliches Öl aus dem Mund von Moses Leo.

Wer den Original-Hesse noch im Kopf hat, ist schon bald verloren. Denn die Inszenierung mixt Rollen, fragmentiert Textstücke, vermischt Buch und Rezeptionsgeschichte in atemberaubendem Tempo. Willkommen im magischen Theater des Regisseurs und seines Ensembles, das in kurzen Szenen, mit Videoüberblendungen auf transparenten Leinwänden, verspiegeltem Hintergrund, durch den man trotzdem hindurchsehen kann, einem Musikmix von Mozart über Elvis bis zu psychedelischen Elektrosounds ein verfremdetes Steppenwolf-Fragmentarium um die Ohren haut. So viel wird dabei immerhin klar: Dem Regisseur geht es nicht um den Konflikt zwischen Geist und Trieb, der noch den schwäbischen Pietisten Hesse beutelte, sondern um das Gefühl von Fremdheit und Ausgeschlossensein.

Der Steppenwolf3 Rainer MuranyiMit Goldrandbrille und schwäbischem Akzent: Sherona Gallmann © Rainer Muranyi

"Ist das ein Stück über Rassismus? Oder über weiße Kulturinstitutionen?" fragt Baginskis Steppenwolf plötzlich. "Ihr wollt, dass ich über Hass rede", bricht es aus dem sanften Leo Moses heraus. Ein kurzer, leidenschaftlicher Monolog über die Erwartungshaltung an einen nicht-weißen Regisseur? Ali/Baginski dreht den Spieß lustvoll um: In seiner Inszenierung werden wir, das weiße bildunsgbürgerliche Publikum, zu Fremden und Außenseitern.

Symbolisch schießt der Steppenwolf auf Goethe, dem ein blutrotes Rinnsal aus den Augen läuft. Oder: Wie in einem schlechten Heimatfilm sehen wir im Schwarz-Weiß-Video, wie der Steppenwolf durch den Schwarzwald hetzt, ein Beil in der Hand (mit dem er Hermine erschlagen hat?), das er im rauschenden Bach säubert. Aber Hermine lebt: Liegt entspannt im Bett und liest. Es folgt Händel: Concerto Grosso, Steppenwolf tippt die nächste Geschichte des magischen Theaters in seinen Laptop.

Multimediales Gesamtkunstwerk

Zum Schluss erklärt die junge Schauspielerin Sherona Gallmann – mit Goldrandbrille und schwäbischem Akzent wie die verkörperte Nachlassverwalterin aus dem Marbacher Literaturarchiv –, dass Hesse ein Gläubiger gewesen sei, der trotz aller Krisen an eine größere unvergängliche Welt geglaubt habe. Dann dröhnt noch einmal Steppenwolfs "Born to be wild" über die Bühne.

Der Freiburger Steppenwolf: Das ist Hesse verfremdet, inszeniert als multimediales Gesamtkunstwerk mit drei glänzenden Schauspielern, die das Tempo der Inszenierung und die abrupten Rollenwechsel bewundernswert meistern. Doch selten bin ich so ratlos aus dem Theater gegangen. Aber vielleicht ist das die Absicht der Inszenierung.

Der Steppenwolf
von Wiktor Baginski alias Ahmad Ali nach Herrmann Hesse
Übersetzungen aus dem Polnischen: Antje Ritter-Miller
Regie: Ahmad Ali/Wiktor Baginski, Bühne und Kostüme: Stefania Chiarelli-Myslinska, Licht und Video: Antoni Gralek, Komposition: Ifi Ude, Choreografie: Graham Smith, Dramaturgie Tamina Theiß.
Mit: Moses Leo, Sherona Gallmann, Janna Horstmann, Martin Hohner.
Premiere am 22. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

theater.freiburg.de


Kritikenrundschau

"Die Inszenierung konzentriert sich auf Schlüsselszenen und schreitet zügig und klug gekürzt voran", schreibt Annette Hoffmann in der Badischen Zeitung (24.6.2023). "Mitunter hat sie poetisch-komische Elemente", anderes wirke eher unfreiwillig komisch. "Am Ende fasert die Inszenierung ganz in Beliebigkeit aus."

Kommentare  
Steppenwolf, Freiburg: Anspruchsverdichtung.
Weniger Lärm und Körpergeflattere wäre mehr gewesen.
Videosequenzen mit Schwarzwälder Kirschtorte und Frühstücksbrötchen auf dem Tisch in schrecklich banaler Werbefilmästhetik und ein Bühnenbild, das dem Publikum als ambulante Wirklichkeitsaura vermittelt wird, wirken als ein Ort realer Fremdheitserfahrungen nicht überzeugend.
Vielmehr verheddern sich die Akteure in innovationsversessenen Höhenflügen, deren Flügel schnell schmilzen.
Zudem setzt die Aufführung zuviel semantische Kontrapunkte, die den Themenschwerpunkt: die kritische Überlegenheit der Weltanschauung - tilgen.
Der Steppenwolf im Windschatten einer ideologischen Strukturdiskussion ist zwar eine angemessene, aber am Freiburger Theater eher verfehlte Zugriffsvariante.

Aber, Kreativität ist eben, wenn man es trotzdem macht - den Zeitgeist in eine originelle Form zu bringen, verlangt nun mal nach kompromissloser Anspruchsverdichtung.
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