The Black Forest Chainsaw Opera - Am Theater Freiburg malt Stef Lernous von Abattoir fermé sich Horrorstories im Schwarzwald aus
Ich weiß, was du letzte Nacht geträumt hast
von Jürgen Reuss
Freiburg, 5. Mai 2018. Am Anfang steht ein Fräulein alleine vor einem Waldvorhang, als Purpur hat sie einen Bollenhut an, der Rest ist die passende Tracht dazu. Ein sehr bleich geschminktes Rotkäppchen (Tine Van den Wyngaert) goes Schwarzwald und singt dabei einsam, vom Pianisten (Mihai Grigoriu) am Bühnenrand begleitet, "In Dreams" von Roy Orbison. Dann schreit sie wie am Spieß, wird samt Waldvorhang in eine geöffnete Bodenluke gezerrt, aus der die Schreie noch eine Weile nachhallen. Die Luke gehört zum Interieur einer trashig heimatmuseigen Blockhütte, die hinter dem eingesaugten Vorhang zum Vorschein kommt und den Blick des Publikums auf den vorderen Teil der großen Bühne des Theater Freiburg fast schon klaustrophobisch einengt.
Spätestens als dann die ersten Kettensägen angeschmissen werden und ein Reigen schräger Horrorgestalten eine makabre Polonäse zu Abbas "Knowing me, knowing you" tanzt, dürfte jedem Zuschauer und jeder Zuschauerin klar sein, dass diese Uraufführung von Stef Lernous' "The Black Forest Chainsaw Opera" keine konventionelle Oper werden wird. Ein paar vereinzelte Leute erwischt diese Erkenntnis offenbar doch so kalt, dass sie den Saal verlassen. Der Rest versucht sich tapfer einen Reim auf das folgende Bühnengeschehen zu machen und dürfte sich am Ende in grob zwei Gruppen teilen: diejenigen, die das einen Schmarrn finden, weil sie keinen roten Faden erkennen können, und diejenigen, denen das egal ist und die sich dem Vergnügen an einer losen Folge lustvoll arrangierter Alptraumbilder hingeben können.
Die große Horrorfilmpersonal-Convention
Wer Spaß an assoziativen Bildsprüngen durch Märchen, Mythen und Horrorfilme hat, wird gut bedient. Da wird mal voll auf die Pauke gehauen, wenn ein Psychopath in Anzug und mit Metzgerschürze (Holger Kunkel) mit der Motorsäge eine Bikinischönheit (Janna Horstmann) auf der Matratze zersägt und üppig Kunstblut spritzt. Gleichzeitig wabert der Nebel des Grauens, aus dem sich endzeitliche Gruselgestalten in die Hütte manifestieren, und während man noch mit dem Geschehen im Vordergrund beschäftigt ist, wird hinten ein Kopf durch die Scheibe geschlagen.
Dann gibt es wieder intensive ruhige Momente, wenn Opernsängerin Inga Schäfer medeenhaft einen irgendwie nachgeburtigen Klumpen in die Bodenluke wirft, der dann zu einem Wiegenlied von Dvořák der künftige Fleischer des Grauens entsteigt. Gern werden Logiker auch in eine Falle gelockt. Ist das Bühnengeschehen vielleicht nur der Traum der Rucksacktouristin, die sich in die Hütte verirrt? Oder gibt es einen historischen Hintergrund, wenn nach einem slapstickhaften Paarduell der schießwütige Mann (Roberto Gionfriddo) die Naziuniform anlegt?
Nein, gibt es nicht. Alles nur freies Spiel der Assoziationen. Da taucht plötzlich ein wunderbar zartes Affenkostüm auf, wie von einem eigenen Planeten oder aus einer Odyssee im Weltall, und streichelt die Haut der Schwarzwaldschönheitskönigin. Kurz darauf haben die streichelnden Hände Trauben zwischen den Fingern, und das Bild der Liebkosung kippt in das quellender Gedärme. Das Ganze muss man sich durchaus sehr lustig vorstellen, etwa wenn ein kurzbehoster Burschenschaftler Teufelsbeschwörungen vollführt und dabei unabsichtlich "Shaun das Schaf" und seine Brüder herbeiruft. Und dann kippt die Szene – in eine "Wiederkehr des toten Motorradfahrers", der zu einem Lied von Purcell ewig weitersterben darf. Wer einmal am Wochenende im Schwarzwald war, weiß, wie kurz der Weg von Easy-Rider-Phantasien zu Schrotflinten und Todeswunsch ist.
Heimkehr in den Wald
So schön die einzelnen Szenen sind, so sehr Bühne und Lichtdesign von Sven Van Kuijk überzeugen, macht sich doch nach einer gewissen Zeit eine gewisse Erschöpfung bemerkbar – normales Risiko einer Inszenierung, die auf einen (erkennbaren) dramaturgischen Bogen verzichtet. Doch kurz bevor es langweilig wird, wird der Hüttenrahmen aufgesägt, und zur bekannten Melodie der zwei Königskinder der Bühnenraum in die Tiefe geöffnet. Gerade im rechten Moment: Zuvor waren noch zwei Nackte (Lukas Hupfeld, Kirsten Pieters) in einen Glaskasten gesperrt worden, für einen Hüpfer in eine Laborassoziation, der nun doch schwer mitzumachen war. Aber die Frage nach dem Warum verflüchtigt sich beim Betrachten des schönen Schlussbildes, das die Weite des Raums nutzt und auch den Wald wieder zurückbringt.
Wer etwas fürs Trashige, Sprunghafte, Bildgewaltige übrig hat und nicht zu verbissen nach Sinn sucht, für den ist diese sehr spezielle Oper eine sehr unterhaltsame Sache.
The Black Forest Chainsaw Opera
Regie + Kreation: Stef Lernous, Bühne und Lichtdesign: Sven van Kuijk, Musik: Jef De Smet, Ton: Benedikt Kohlmann, Dramaturgie: Rüdiger Bering.
Mit: Roberto Gionfriddo, Janna Horstmann, Lukas Hupfeld, Holger Kunkel, Kirsten Pieters, Inga Schäfer, Chiel van Berkel, Tine Van den Wyngaert, Statisterie des Theater Freiburg, Mihai Grigoriu (am Klavier).
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.theater.freiburg.de
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