Hauptsache weiterleben

21. März 2024. "Die Reise des G. Mastorna" ist eigentlich ein Drehbuch von Federico Fellini, eine große Geschichte vom Leben und vom Tod. Bernadette Sonnenbichler erzählt sie am Theater Heidelberg als infernalische, raumsprengende Alptraum-Fantasie.

Von Michael Laages

"Die Reise des G. Mastorna" am Theater Heidelberg © Susanne Reichardt

21. März 2024. Nicht nur der Raum spielt an diesem Abend die Hauptrolle, sondern im Grunde das Theater selbst; und zwar dieses ganz spezielle Haus mitten in der Heidelberger Altstadt. Denn als die baufällige Bühne, 2006 geschlossen, vor ziemlich genau fünfzehn Jahren rundum renoviert und im Grunde neu gebaut wurde, gelang dem Darmstädter Architekturbüro Waechter und Waechter eine ziemlich einzigartige Verbindung der zwei Hauptbühnen des Theaters. Der historische "Alte Saal" steht nämlich im rechten Winkel zum damals neu gebauten "Marguerre-Saal", benannt nach dem Haupt- und Großspender Wolfgang Marguerre, der allein ein Viertel der Gesamtkosten getragen hatte; der Spielraum der alten, kleinen Bühne ist praktisch die linke Seitenbühne des neuen, großen Saales. Gelegentlich haben Gastspiele beim "Heidelberger Stückemarkt", dem seit Ende der 70er Jahre immer Ende April stattfindenden Festival des Theaters, das Neben- und Miteinander beider Bühnen-Räume kenntlich werden lassen. Aber noch nie wurden beide Spielorte so effektiv zusammengefügt wie jetzt für "Die Reise des G. Mastorna", vom Team um Regisseurin Bernadette Sonnenbichler und Raum-Erfinder Sebastian Hannak kreiert nach einem Drehbuch von Federico Fellini, das der 1993 gestorbene Filmregisseur nie hatte realisieren können.

Hat Mastorno sein Leben vergeudet?

Spielort für Fellinis alptraumhaften Höllentrip ist in Heidelberg nun der Bühnenraum vom Marguerre-Saal, umstanden von Sitzreihen fürs Publikum; auch auf der Drehbühne selbst und drumherum sind Tische und Stühle platziert, wie im Cafehaus oder Cabaret. An zwei Seiten werden Haus-Fassaden wie in einer italienischen Kleinstadt imaginiert, das Portal zum Marguerre-Saal hin wird zur raumfüllenden Projektionsfläche (und am Ende geöffnet); und von der Seite her kommt auch der Bühnenraum vom "Alten Saal" ins Spiel – hier wird (zunächst noch hinter verschlossenem Rolltor und per Live-Video) die erste Szene beschworen: eine Notlandung per Flugzeug.

Das war Fellinis zentrale Idee für den Film, der nie zustande kam: Giuseppe Mastorna, Cellist in einem bedeutenden Orchester, reist zu Proben und Konzerten nach Florenz; er kommt aus Hamburg, verspätet und mit dem Flugzeug, weil er sich mit einer Geliebten vertändelt hat. Zunächst wird nach der Notlandung die Illusion eines kurzen Aufenthaltes beschworen – eine Nacht im Hotel, auf Kosten der Fluggesellschaft. Tatsächlich aber scheint der Künstler Mastorna ums Leben gekommen zu sein – das Cello und die Hose sind ihm im Hotel entwendet worden; erniedrigt und in Unterhosen durchlebt er von nun an eine Art privaten Exorzismus. Nicht mal sein Pass wird noch anerkannt. Immer deutlicher und drastischer wird er zudem bezichtigt, das eigene Leben vergeudet und vertan zu haben, lebenslang untreu und unzuverlässig gewesen zu sein; zu retten sei er nur, so wird ihm auf unterschiedlichste Weise vermittelt, wenn er in der Erinnerung einen der wenigen Momente zu fassen bekomme, in dem er ganz und gar er selber und mit sich im Reinen gewesen sei.

Mastorna 079 SusanneReichardtSchattenfiguren: Lisa Förster, Marco Albrecht, Andreas Seifert © Susanne Reichardt

Wie in der Begegnung von Ibsens Peer Gynt mit dem Tod, der sich als Knopfgießer tarnt – wer nie wirklich ein richtiges "Ich" gewesen ist, kann eingeschmolzen und vergessen werden. Genau diese fundamentale Abrechnung durchlebt Giuseppe Mastorna.

Raus ins Nichts

In einer abstrusen Preisverleihungs-Zeremonie, entfernt der beim "Oscar" nachempfunden, wird Mastorna schließlich "freigesprochen"; der Moment, in dem er "ganz er selbst" war, wird (wie bei Peer Gynts Zwiebelspiel) gefunden; Mastorna ist vielleicht doch noch nicht verloren und verdammt. Aber wie wunderbar blöd und banal ist dieser Augenblick - Mastorna bellt ratlos zurück, als ihn ein Hund grundlos ankläfft. Da also war er "ganz er selbst" … Jetzt leiten ihn zwei magische Stewardessen zwar zum Flug Nummer 52, dessen einziger Passagier er ist. Aber wohin es gehen wird, ist immer noch nicht klar: Hauptsache weiterleben, mit welchem Zweck und Ziel auch immer. Das große Portal zum großen Theatersaal öffnet sich, und Mastorna, verloren und gerettet zugleich, tritt in den Nebel hinaus, ins Nichts und ins Nirgendwo.

Das ist in etwa der Rahmen, wie ihn Bernadette Sonnenbichler und Dramaturgin Lene Grösch aus Fellinis Film-Skript herausdestilliert haben. In Hannaks furiosem Raum-Theater entfesselt die Regisseurin mit kleinem Ensemble und großer Statisterie ein zauberhaft verstörendes Pandämonium aus Erinnerung, Alptraum und Traum – eine religiös verzückte Prozession driftet durch den Raum und um die Cafehaus-Tischchen herum; Mastorna sieht sich den alten Ausbildern beim Militär genau so gegenüber wie alten Freunden, die längst tot sind; das zugemüllte einstige Liebes- und Lotterbett rollt eine frühere holländische Geliebte mit monströsem Kunst-Busen herein, und im Bett ist noch eine jüngere Frau versteckt, umwickelt von einer monströsen Schlangen-Attrappe. Aus dem Schnürboden rauscht ein verkokelter Flugzeug-Sitz herab: Ist Mastorna im Flugzeug verbrannt?

Überwältigende Bilder-Fluten

Einer nur, der wirre Armandinho, ist ihm wohlgesonnen in diesem ganz persönlichen Inferno – aber welche Hilfe auch immer der Freund beschwört, immer geht’s schief. Ein höllisch alberner Magier aus dem Jenseits versucht ihm eine Telefon-Verbindung mit der geliebten Frau zu vermitteln – aber auch das ist nur Mummenschanz der wirren Sorte. Wenn Mastorna selber telefoniert, spricht er erst mit sich selber und dann mit den Nachmietern, die eingezogen sind nach seinem Unfall …

Mastorna 177 SusanneReichardtDer Raum ist der Star: Katharina Quast, Lisa Förster, Steffen Gangloff © Susanne Reichardt

Die zwei Stunden Spiel sind voll von solchen Fantasien und bietet kaum Chancen zum Atemholen. Um Steffen Gangloff in der Rolle des sich immer mehr abhandenkommenden Titelhelden herum wirbeln sechs Ensemble-Mitglieder und nochmal so viele Statistinnen und Statisten in rasend schnellem Wechsel der Profile und in Tanja Krambergers detailverliebten Kostümen. Jacob Suske steuert live Musik und Sound bei, Stefano di Buduo hat markante Videos in schwarz-weißen Kontrasten kreiert, und Elisa Svensson bleibt allen Spielerinnen und Spielerinnen mit der Live-Kamera auf den Fersen, rückt ihnen hart auf die Pelle.

Und immer wieder zaubert Hannak neuen Raum – etwa in Form eines Rechtecks aus Vorhängen, das von Beginn an unter der Decke hängt. Kommt dieser Raum herunter, wird er zur "Bühne in der Bühne" und Szenen aus Mastornas Leben werden hier von Maskenwesen nachgestellt; auch die Szene mit dem kläffenden Hund. Wer von Fellinis überwältigenden Bilder-Fluten erzählen will, fand oft schon im Kino kein Ende – an diesem mitreißenden Abend im Heidelberger Theater ist das kein bisschen anders. Natürlich muss er des enormen Aufwands wegen en suite gespielt werden – hoffentlich noch oft.

Die Reise des G. Mastorna
nach Federico Fellini
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Bühnenfassung: Bernadette Sonnenbichler
Regie: Bernadette Sonnenbichler, Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Tanja Kramberger, Komposition/Sounddesign/Live-Musik: Jacob Suske, Video: Stefan di Buduo, Live-Kamera: Lisa Svensson, Choreographie: Adrián Castelló, Licht-Design: Ralf Kabrhel, Dramaturgie: Lene Grösch
Mit: Marco Albrecht, Marie Dziomber, Lisa Förster, Steffen Gangloff, Katharina Quast, Andreas Seifert, Friedrich Witte & Statisterie.
Premiere am 20. März 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

Kritikenrundschau

"Die Karten für diese Lebensreise, die nach dem Tod auf bizarre Weise weitergeht, dürften weggehen wie die Blue Chips an der Börse", mutmaßt ein begeisterter Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (22.3.24, €). Bernadette Sonnenbichler habe die kauzigen Fellini-Charaktere offensichtlich gründlich studiert und außerdem "einen Narren an allem Kauzigen" gefressen. Steffen Gangloff in der Titelrolle sei "ein Glücksfall".

Kommentare  
Die Reise des G. Mastorna, Heidelberg: Weltniveau
Die Premiere: einmalig Großes (Fellini-)Theater, das Heidelberger Theater auf Weltniveau!
Reise des G. Mastorna, Heidelberg: Faszinierend
Bernadette Sonnenbichler fasziniert mich in ihrer Klugheit, Kreativität und ihren feinen Art mit Macht umzugehen.
Reise des G. Mastorna, Heidelberg: Bildgewaltig
Ein ungewöhnlicher und bildgewaltiger Theaterabend mit einem tollen Schauspielensemble.
Das Heidelberger Theater spielt mit dieser Aufführung in der ersten Liga.
Reise des G. Mastorna, Heidelberg: Wahnsinn
Lange keinen so bildgewaltigen und intensiven Theaterabend erlebt. Gratulation ans gesamte Ensemble!
Reise des G. Mastorna, Heidelberg: Hinweis
https://tdz.de/artikel/86fd7b49-69df-411b-acc5-db7577f8b9e5?fbclid=IwAR0nuzQCdrYjd86389bEp3BwFku0whdDjWj2_XucXejcDCfldEBIngVyhcU
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