Wo die Schmerzwellen herkommen

von Steffen Becker

Heidelberg, 20. April 2018. Die Altstadt strahlt in der Abendsonne, der Sekt knallt rein, es herrscht "Alle sind sie da und lieben es, da zu sein"-Stimmung bei der Eröffnung des Heidelberger Stückemarkts. Aber sind die Anwesenden bereit für eine Geschichte von Folter, Traumata und wie diese sich über die Generationen fortpflanzen? Der Intendant des Theaters Heidelberg, Holger Schultze, versucht in seiner Eröffnungsrede eine launige Überleitung, ruft überraschend die Autorin Maryam Zaree ans Pult, sagt ein paar gönnerhaft-nette Sachen und endet mit "Aber erzähl doch mal selbst". Überrumpelt fällt sie in die Mädchenrolle und sagt irgendwas, das nicht zum Bild passt, das sie als Gewinnerin des Autorenpreises 2017 vermittelt hat.

Die spontane Situation spiegelt sich in der Inszenierung von Zarees Text: Auch Regisseurin Isabel Osthues macht die Hauptfigur Tara zum Mädchen. Auch auf der Bühne wirkt es erzwungen. Eine Top-Anwältin für Asylrecht rastet schier aus, weil ihr Online-Date nicht antwortet auf die Frage, wessen Tod in seiner Familie am ehesten verkraftet wird. Später wird sie sich für ein doch noch geplantes Treffen in verschiedene Glitzerfummel werfen, als würde ein Teenie das erste Date planen.

Leben als Tetris-Stress

Im Text wird zwar klar, wozu die Posse dient: Kontrast wie auch Überlagerung der unausgesprochenen Leid-Erfahrungen der Mutter. Die saß im Iran im Gefängnis, in dem der Vater starb, und floh nach Deutschland (das Stück basiert auf Zarees eigener Biografie, wie ihre Protagonistin wurde sie in einem iranischen Gefängnis geboren). Auf der Bühne in Heidelberg geraten das Spiel von Sophie Melbinger als Tara und die Inszenierung von Osthues jedoch zu schrill und überkandidelt. Die Übertragung von Traumata; die innere Auseinandersetzung mit der Verlustangst beim Daten, die doch eigentlich vom Verlust des Vaters erzählt – sie wird überdeckt durch atemloses Umherschwirren der Hauptfigur.

Kluge Gefuehle P 0142 560 Sebastian Buehler uTochter und Mutter: Sophie Melbinger, Beatrix Doderer © Sebastian Bühler

Zusätzlich begräbt die Bühne Zwischentöne unter einer Tetris-Kaskade. Das Leben von Tara ist ein ständig neu zusammengesetztes Bühnen-Universum aus grünen Klötzen. Entsprechend der Stimmungslage der Protagonistin wirft sie das äußere Zeugnis ihrer Seelenwelt recht rabiat um. Das ist "in your face"-Symbolik – und macht vor allem Lärm.

Auflösung der Sprachlosigkeit

Auch die Zeichnung der Mutter gerät anfangs holzschnittartig. Beatrix Doderer verkörpert das Klischee einer zugeknöpften Mutter, die ihre Gefühle eingeschlossen hat. Strenges Haar, hochgeschlossenes Kostüm, herrisches Bemuttern der Tochter, die mit 35 doch mal endlich einen Mann finden möge. Dann aber entschwindet sie, um erstmals vor einem zivilgesellschaftlichen Tribunal zu staatlichen Verbrechen im Iran der 80er zu sprechen. Die Aussage im Lichtkegel bringt das Stück zur Ruhe. Im sachlichen Ton schildert die Mutter Foltermethoden, die Scham der Gefangenschaft, die Angst um ihr Ungeborenes angesichts der Lust der Wärter, ihr in den Bauch zu treten, wenn ein Haar unter dem Schleier hervorlugt …

Im Anschluss treffen Mutter und Tochter aufeinander. Die eine hatte immer auf Fragen gehofft, um die Blockade zu lösen, die andere sich nie zu fragen getraut. Die Spannung löst sich in einer Erzählung über Sex, der nie so gut war wie unter dem Eindruck, dass es der letzte sein könnte. Hier funktioniert dann die humoristische Ebene des Stücks auch auf der Bühne. Das letzte Date lässt die Tochter denn auch entspannt platzen und sucht lieber inneren Frieden beim Spaziergang im Grünen.

Trotzdem hätte man die Autorin Maryam Zaree danach gerne gefragt, ob sie die Sprachlosigkeit ihrer Figuren auf der Bühne nachgefühlt hat. Ob sie die mädchenhaft angelegte Rolle passend findet, da es um die Perspektive einer Tochter geht, oder ob dies das Thema Trauma-Vererbung verniedlicht … Andererseits will man die Sektlaune eines lauschigen Festivaleröffnungsabends nicht stören.

Kluge Gefühle
Von Maryam Zaree
Uraufführung
Regie: Isabel Osthues, Bühne: Jeremias Böttcher, Kostüme: Mascha Schubert, Dramaturgie: Lene Grösch.
Mit: Sophie Melbinger, Beatrix Doderer, Roland Bayer, Maria Magdalena Wardzinska, Hendrik Richter.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 


Kritikenrundschau

Zaree biete erzählendes (autobiografisch grundiertes) Theater, nach dem sich Bühnen und Publikum sehnen, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (30.4.2018). "Kluge Gefühle" sei eine triftige Geschicht. "Gleichwohl leidet die zentrale Eigenproduktion des diesjährigen Stückemarkts unter einer gewissen im Text bereits angelegten, in der Inszenierung von Isabel Osthues erst recht zutage tretenden Offensichtlich- und Überschaubarkeit". Regisseurin Osthues und Schauspielerin Sophie Melbinger versuchen, mit einer körperbetonten Hyperaktivität ihrer Figur nahe zu kommen. "Aber es ist auch eine Hektik, die den Blick verstellt."

"Keine Wohlfühlkost zum Start des 35. Stückemarkts" hat Heribert Vogt gesehen und schreibt in der Rhein-Neckar-Zeitung (23.4.2018): "Regisseurin Isabel Osthues arrangiert die Aufführung (…) mit schnellen harten Schnitten, entsprechend den Brüchen in Taras Biographie. Dabei werden erst nach und nach die physischen und psychischen Verwundungen freigelegt, bis schließlich der ganze Schrecken vor Augen steht." Sophie Melbinger spiele die Anwältin "in einer Weise, die an die junge Ulrike Folkerts erinnert: mit maskulinen Zügen, herausfordernd und stets im Vorwärtsgang." Jedoch wirke Melbinger "einen Tick überdrehter".

In der Allgemeinen Zeitung (24.4.2018) lob Jens Frederiksen die politische Kraft des Stücks: Angesichts "knallharter Spurensuche stellt sich die Frage nach der Qualität des Stücktextes, nach Aufbau, Dramaturgie, psychologischer Glaubhaftigkeit keinen Augenblick lang wirklich. Ob die Form des kleinen realistischen Alltagsstücks geeignet ist, ein so großes Thema zu transportieren; ob auch der Hinweis auf die Beziehungsschwierigkeiten der Tochter als Spätfolge der mütterlichen Leidensgeschichte nicht fast ein bisschen läppisch wirkt – alles egal. Es ist eine kleine große Geschichte, die da in Heidelberg präsentiert wird."

 

Kommentare  
Kluge Gefühle, Heidelberg: Erinnerung an "Denial"
Maryam Zaree hat dieses Thema auch schon 2016 in "Denial" von Yael Ronen am Gorki Theater bearbeitet.

Sie schilderte damals auf der Bühne ihre Angst, dass ihre Mutter im Publikum sitzen könnte und damit alte Wunden aus der Zeit des iranischen Mullah-Regimes aufbrechen könnten. Ronen und ihr Ensemble hielten geschickt in der Schwebe, wie viel Autobiographisches in diesem Abend steckte. Reales mischt sich mit Fiktivem.

https://daskulturblog.com/2016/09/14/denial-yael-ronen-lotet-am-gorki-die-verdraengungsmechanismen-aus/
Kluge Gefühle, Heidelberg: wie in der Kronenzeitung
Die Kritik, dass im Stück die Protagonistin in die "Mädchenrolle" gepresst werde, steht dem Kritiker zu. Hier aber die Parallele zu seinem Eindruck von der Autorin bei der Eröffnungsfeier zu ziehen, sie sei "überrumpelt in die Mädchenrolle" gefallen, ist eine unverschämte Anmaßung, er presst die Autorin damit in ein abwertendes Klischee, anstatt sie ernstzunehmen. Ich wundere mich nicht, wenn ich dergleichen in der Kronenzeitung lese, bei Nachtkritik schon.
Kluge Gefühle, Heidelberg: Schade
leider fehlte der Inszenierung die Tiefe, es war, wie wennder Regie eine Art von Empathie für die Figuren fehlte, so dass alles nicht real spürbar für die Zuschauer wurde, sondern im Comic und irrealen "keine Angst, es ist nur Theater" steckenblieb. Schade, der Text hätte so unter die Haut gehen können. Leider durch Oberflächlichkeit verpasst. Die Autorin hätte etws Anderes verdient..
Kommentar schreiben