Effingers - Staatstheater Karlsruhe
Das Dunkel im Hintergrund
29. März 2024. Die soziale Frage, Frauenrechte, wirtschaftliche Krisen, Antisemitismus, Nationalsozialismus und Krieg: all das verhandelt Gabriele Tergit in ihrem Familienepos "Effingers" exemplarisch an vier Generationen zwischen 1878 bis 1942. Nach Jan Bosse hat jetzt Ronny Jakubaschk das Opus Magnum auf die Bühne gebracht.
Von Steffen Becker
29. März 2024. Erinnerungskultur sei "Versöhnungstheater“ mit Juden in der Nebenrolle, sagt der Publizist Max Czollek. Es gehe eigentlich um die Aussöhnung der deutschen Gesellschaft mit sich selbst und das Narrativ, aus dem Holocaust gelernt zu haben. Die Geschichten von Juden erlangten ausschließlich in diesem Kontext Aufmerksamkeit, abseits der Opferrolle seien diese für die Mehrheitsgesellschaft nicht relevant.
Eine aktuelle These, die allerdings durchaus taugt, auch den anfänglichen Misserfolg von Gabriele Tergits Roman "Effingers“ zu erklären, der zuerst Anfang der 1950er erschien, aber erst nach seiner Wiederentdeckung 2019 die verdiente Aufmerksamkeit fand: Ein Roman über das Schicksal einer Bankiers- und Fabrikanten-Familie über vier Generationen, 900 Seiten lang. Der Name Hitler fällt erst nach zwei Dritteln. Davor geht es um Industrialisierung, bürgerliche Moralvorstellungen oder die Emanzipation der Frau. Erst der Nationalsozialismus macht aus dieser deutschen Familiengeschichte dann eine jüdische.
Wo das Böse lauert
Auch im Staatstheater Karlsruhe sitzt man erst einmal fragend da. Der Antisemitismus im Deutschland der letzten Jahrhundertwende spielt zunächst nur eine Nebenrolle. Etwa wenn sich der feingeistige Onkel fragt, ob er zum Christentum konvertieren soll, um seine Chancen auf eine Position als Professor zu erhöhen. Aber selbst dieser Monolog dreht sich nicht in erster Linie um Diskriminierung, sondern ist eher als Reflexion über das Verhältnis von Religion und Obrigkeit angelegt.
Dass das an "Versöhnungstheater“ gewöhnte Auge hier eventuell bewusst hinters Licht geführt werden soll, könnte man auch aus Gestaltung und Verwendung der Bühnen schließen. Im ersten Teil bespielen die Schauspieler nur den vorderen Teil (leer, bis auf ein einige auf dem Boden verteilte Kronleuchter). Immer wieder sucht der Blick das Dunkel im Hintergrund, in dem doch das Böse lauern und sich zeigen muss. Aber es dient nur als Auflauffläche für die Großfamilie, um dann im Vordergrund Börsencrashs der 1870er, Weizenpreise, Geschäftsideen und die Chancen der Töcher auf dem Heiratsmarkt zu besprechen. Das Dunkel weicht schließlich einfach einem Leinwand-Idyll: einer Ferienlandschaft, die als Hintergrund für ein Familienfoto dient.
Im zweiten Teil des Abends wird die Bühne von einem sich drehenden Gerüst mit Neonröhren dominiert. Auf der Zeitschiene der Erzählung ist nun die Industrialisierung im vollen Gange. Die Effingers spielen ganz vorne mit, nun aber nicht mehr wie zuvor in bunter, individueller Kleidung. Stattdessen treten sie im grauen Einheitslook auf.
Alls Akteurin in der Industrialisierung hat die Familie eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Maschinerie mit in Gang gesetzt, die nicht nur Massenware produzierte, sondern auch die Menschenmassen zu Klassen normierte – und deren Mechanismen bald darauf schon von Nazis gegen sie gewendet werden. "Das gerade, dass wir alle mehr oder weniger seit 1914 gelebt worden sind, dass wir nicht mehr Herr und Meister unseres Schicksals waren, das soll einer der Charakteristiken der Schilderung sein“, schrieb die Autorin Gabriele Tergit dazu, 1894 in Berlin geboren und 1982 in der Londoner Emigration gestorben.
Komplexes Geflecht, rasche Szenenwechsel
Bühne und Ausstattung von Ronny Jakubaschks Inszenierung finden dafür die passenden Bilder. Und das richtige Ensemble. Das Stück unterläuft mit der Schwerpunktsetzung auf die individuellen (Liebes-)Lebensgeschichten der Protagonisten nicht nur die Erwartungshaltung des "Versöhnungstheaters“. Buch und Stück bieten auch nicht die klassischen Hauptfiguren. Drei Generationen bauen auf, verlieben sich, leiden an bürgerlichen Konventionen, begeistern sich für den Krieg.
Die Regie vermeidet eine Schwerpunktsetzung, setzt stattdessen auf ein eingespieltes Team, das den raschen Szenenwechsel, das komplexe Geflecht aus persönlichen Beziehungen und gesellschaftlichem Umfeld souverän meistert. Als Zuschauer folgt man dem Schicksal der aufbegehrenden Künstlertochter genauso intensiv wie der Erfolgsgeschichte des Volkswagens. Hier jemandem einzeln heraus zu greifen würde der Teamleistung nicht gerecht.
Was diese Leistung allerdings nicht überdecken kann, ist die Schwierigkeit, einen derart dicken Roman in eine bühnentaugliche Form zu bringen. Die Handlungsstränge durch eine Erzählstimme einführen und erläutern zu müssen, bringt die Inszenierung durch den Trick "Was du nicht verstecken kannst, das stelle ins Schaufenster“ noch gut rüber. Das Stakkato der Szenen spiegelt sich zusätzlich auch in diesen wieder, wenn die Schauspieler ihre Figur nicht nur spielen sondern in der dritten Person auch kommentieren.
Fordernder wie lohnender Abend
Aber auch Übertreibung und Zuspitzung vertreiben nicht das Gefühl, dass der Stoff zu umfangreich ist. Selbst mit diesen Erläuterungen braucht es viel Konzentration, sowie den Familienstammbaum aus dem Programmheft und einiges an Geschichtswissen, um die "Effingers“ zu fassen. Die Inszenierung fordert – und zwar mit über dreieinhalb Stunden Dauer auch zeitlich. Wer sich jedoch auf die "Effingers“ einlässt, wird belohnt mit einem deutschen Familienepos, das auch ein jüdisches ist. Was selbst über siebzig Jahre nach Ersterscheinen des Romans immer noch eine Besonderheit ist.
Effingers
nach dem Roman von Gabriele Tergit
Regie: Ronny Jakubaschk, Bühne: Marina Stefan, Co-Bühne: Jakob Baumgartner, Kostüme: Anne Buffetrille, Video: Isabel Robson, Musik: Jörg Kunze, Licht: Christoph Pöschko, Dramaturgie: Hauke Pockrandt
Mit: Lucie Emons, Claudia Hübschmann, Frida Österberg, Swana Rode, Lisa Schlegel, Heisam Abbas, Michel Brandt, Leonard Dick, Jannek Petri, Jannik Süselbeck, Timo Tank, André Wagner
Premiere am 28. März 2024
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater.karlsruhe.de
Kritikenrundschau
Regisseur Ronny Jakubaschk und Dramaturg Hauke Pockrandt "gehen die gewaltige Aufgabe, einen 900-Seiten-Roman in gut dreieinhalb Theaterstunden (inklusive Pause) zu fassen, mit spürbarem Respekt an," schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (2. April 2024). Das sei dem Sujet und der Vorlage angemessen, lasse aber wenig Raum für einen eigenständigen Spielansatz oder gar eine Interpretation. Wäre die Bühne nicht bis auf einige Kronleuchter leer, "man könnte sich in einem historischen ARD-Vierteiler zur Hauptsendezeit wähnen," so der Eindruck des Kritikers.Die inszenatorische Zurückhaltung allerdings bringe "das dezent-nuancierte Spiel des zehnköpfigen Ensembles" sehr gut zur Geltung.
Die Karlsruher Adaption des Romans tut aus Sicht von Rüdiger Krohn in der Tageszeitung Die Rheinpfalz (2.4.2024)."gut daran, den eigenwilligen Charakter der Vorlage zu bewahren." Das Werk habe sich "eine nachdrückliche Gültigkeit bewahrt, die der Karlsruher Einstudierung ein beeindruckendes Gewicht verleiht. Das zwölfköpfige Ensemble kommt mit den ehrgeizigen Anforderungen des Stückes souverän zurecht."Die Aufführung vermittele ihrem Publikum "eine heilsame Botschaft von Toleranz und Empathie – ganz ohne es mit dem erhobenen Zeigefinger zu belehren. Dem Karlsruher Staatstheater ist mit dieser so ehrgeizigen wie eindringlichen Produktion ein Lichtblick gelungen."
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faszinierender Gesamtleistung des Ensembles. Vielen Dank für den schönen Abend.