Einfache Leute - Theater Konstanz
Das Leben hinter Dir
13. Mai 2023. Den "Scheißhaufen hier", das heißt, das Heimatdorf hinter sich zu lassen, wünscht sich die junge Toni im Stück "Einfache Leute" von Anna Gschnitzer. Es geht um Milieu, Zugehörigkeit, Verwurzelung – und, vor allem – seelische Widerstandskraft. Kann man seiner Herkunft entkommen?
Von Christa Dietrich
13. Mai 2023. Kaum hat das Publikum Platz genommen, fallen die Türen krachend ins Schloss. Das Licht ist noch an, der Bühnenvorhang zu. "Das und nur das ist dein Platz. Wenn du lieber woanders sitzen würdest . . . Pech gehabt. Du wirst deinen Arsch hier so schnell nicht mehr hoch kriegen. Und wenn doch, dann nur unter ziemlich großen Anstrengungen", heißt es im Prolog der Platzanweiserinnen im Stück "Einfache Leute" von Anna Gschnitzer. Schwarz gewandet, die Brillen allesamt mit goldenen Kettchen versehen, umkreisen sie die Sitzreihen.
Kunsthalle und Friseurladen
"Solltest Du an einen besseren Platz gelangen, dann wird dich ein Leben lang das Gefühl begleiten, nicht das Recht dazu gehabt zu haben“, skandieren sie weiter. Mit spontanen Besucherreaktionen hat Regisseurin Franziska Autzen bei der Konzeption dieser Introduktion wohl nicht gerechnet. "Mir gefällt mein Platz gut", lässt ein junger Mann verlauten. Schön für ihn. Etwa 400 Sitze bietet der große Saal des Theaters Konstanz, wie es für alle anderen diesbezüglich am Premierenabend oder im Leben aussieht, das weiß keiner.
Dass Klassismus ein Thema ist, mit dem sich die Theater grundsätzlich zu beschäftigen haben, steht für die Autorin fest. Die Möglichkeit der kulturellen Teilhabe war für ihre Figur Alex vor 20 Jahren allerdings noch keine Selbstverständlichkeit. Während deren taffe Jugendfreundin Toni unumwunden erklärt, dass sie bei der ersten Gelegenheit "den Scheißhaufen hier" hinter sich lassen würde und dann doch im Friseurladen des Dorfes bleibt, schafft Alex die Aufnahme ins Gymnasium und absolviert ein Kunststudium. Ihre Arbeit als Ausstellungskuratorin ermöglicht ihr den Zutritt zu einem gesellschaftlichen Milieu, das im Kontrast zu ihrer Sozialisierung steht. Dass sie trotz ihrer Erfolge bei einer Chefpostenbesetzung übergangen wird, gibt ihr zu denken. Liegt es an der gläsernen Decke für weibliche Führungskräfte oder an ihrer Herkunft? Eine Grußkarte zu ihrem 40. Geburtstag von der lange nicht mehr gesehenen Toni erhöht die Bereitschaft zur Selbstreflexion.
Es zeigt sich rasch, mit "Einfache Leute", uraufgeführt im Juni 2021 im Stadttheater Mainz, zielt Anna Gschnitzer zwar auf die Gefahr von gesellschaftlichen Blasen und Echokammern, im Grunde fasst sie das Thema aber breit, es geht um Resilienz. Das Leben, das Alex früher führte, ist ihr fremd geworden, durch diese Entwurzelung fehlt ihr nun bei beruflichen Rückschlägen der Halt. Das ist nachvollziehbar, wären da nicht etwas viele Klischees, denen die Regie nur wenig entgegenzuhalten hat.
"Ihre Tochter müsste einiges nachholen"
So anstrengend kann der rasche Wechsel zwischen den Erzähl-, Spiel- und Zeitebenen nicht sein, für die die Autorin jeweils eine junge und eine ältere Alex und Toni vorgesehen hat, dass nicht einmal ironische Brechungen möglich sind. Während Jana Alexia Rödiger (Alex heute) und Ruby Ann Rawson (Alex früher) die jeweiligen Emotionen geschickt tarieren und damit als Figuren mit ihrem Konflikt gut greifbar werden, verkommen der Museumsleiter, der Chefkurator und der Lehrer zu Schablonen. Zu Wortspendern, die uns verdeutlichen wollen, dass Kunstliebhaber grundsätzlich versnobt sind und Pädagogen Kindern aus dem Arbeitermilieu eine geringere Auffassungsgabe unterstellen: "Ihre Tochter müsste einiges nachholen."
Feines Gestenvokabular
Dass nicht nur Burkhard Wolf und Julian Mantaj alle Männerrollen übernehmen, sondern dass auch Anna Eger (ältere Toni) und Luise Harder (jüngere Toni) noch Alex' Mutter, die Frau vom Arzt und weitere Personen zu verkörpern haben, bleibt insofern eine fragwürdige Entscheidung als es prägende Jugenderlebnisse von Alex verwässert. Während der Vater dem Stück mit einer Wutrede des Zukurzgekommenen weiteren politischen Gehalt gibt, bleibt etwa die Rolle der genügsamen Mutter so undeutlich wie die Scham, von der Alex beim Anblick ihrer Zurückhaltung spricht. Das ist nicht nur der Regiearbeit anzukreiden, denn diesem Aspekt widmet die Autorin merkwürdigerweise wenig Aufmerksamkeit.
Schwarze, höhenverschiebbare Podien hat Ausstatterin Eylien König entworfen. Ein plattes Oben und Unten wird gut vermieden. Die erhöhte Anzahl der Spielflächen entspricht dem Text, mit dem Anna Gschnitzer viel will. Das gelingt ihr weniger gut, wenn sie die Erläuterung kuratorischer Arbeit im Museum dazu nutzt, um den Erfolg populistischer Politiker zu interpretieren und dabei nur bekannte Analysen wiederholt. Aufschlussreich ist hingegen ihre Genderkompetenz. Man beachte die Namensgebung Alex und Toni und die sensible Andeutung der sexuellen Orientierung. Die Regie bringt sie im Gestenvokabular der beiden Frauen so oft mit feinem Humor zum Ausdruck, dass ein einmaliger kollektiver Empowerment-Taumel nichts überdeckt.
Einfache Leute
Von Anna Gschnitzer
Regie: Franziska Autzen, Bühne & Kostüme: Eylien König.
Mit: Jana Alexia Rödiger, Ruby Ann Rawson, Anna Eger, Luise Harder, Burkhard Wolf, Julian Mantaj.
Premiere 12. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theaterkonstanz.de
In "Einfache Leute" werde schon der Gang zum Sitzplatz zum Unterricht in Sachen Klassismus, schreibt Johannes Bruggaier im Südkurier (15.5.2023). Die Geschichte erfordere Konzentration, "Gschnitzer springt ständig und manchmal bruchlos zwischen den Zeiten". Großartig sei, wie präzise Gschnitzer mit ätzender Ironie mitten hinein treffe in die Doppelmoral einer Kulturszene. Regisseurin Franziska Autzen lasse die Szenen auf unterschiedlichen Ebenen spielen: "Ein höhenverstellbares Gerüst aus Podesten und Treppen macht es möglich, wobei stets die Frage offen bleibt, ob diese Treppen für Alex nach oben oder unten führen." Gerade diese Offenheit mache aber den Reiz eines Abends aus, der immer neue Fragen aufwerfe.
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