All right. Good night. - Theater Lindenhof Melchingen
Die Furie des Verschwindens
12. Mai 2024. Helgard Haugs gefeiertes Demenz-Stück "All right. Good night." war bisher nur in Haugs eigener Fassung zu sehen. Jetzt hat sich das kleine Theater Lindenhof in Melchingen die Aufführungsrechte gesichert – auch deshalb, weil Regisseurin Claudia Rüll Calame-Rosset überzeugende Argumente hatte. Mit bravourösem Ergebnis.
Von Susanne Greiner
12. Mai 2024. Einerseits ist da Helgard Haugs Stück, "All right. Good night.": erste Inszenierung von Haug selbst 2021 im Hebbel am Ufer Berlin, große Resonanz, Einladungen zum Berliner Theatertreffen und den Mülheimer Theatertagen folgen. Der Guardian hebt das Stück auf den Thron der zehn besten des Jahres 2023. Andererseits ist da das Theater Lindenhof in Melchingen, im idyllischen Nirgendwo der Schwäbischen Alb. Hier ist die zweite Inszenierung von "All right. Good night." zu sehen – ein kleiner Coup.
Persönliche Parallelen
So einfach sei es auch nicht gewesen, die Rechte zu bekommen, erzählt Pressesprecherin Simone Haug. Nach einer ersten Zusage habe Helgard Haug Bedenken angemeldet. Regisseurin Claudia Rüll Calame-Rosset traf sich daraufhin mit der Autorin. Und überzeugte – mit ihrem Konzept, aber auch mit dem "Dahinter": Rüll begleitete ihren eigenen Vater in der Demenz. Und ihr Mann ist Pilot. Rüll gelingt eine eindringliche Inszenierung, in der Haugs Worte den Zuschauer mit rhythmischer Leichtigkeit und emotionalem Gewicht treffen.
Haug stellt in "All right. Good night." das Verschwinden des Flugs MH370 und das Abgleiten ihres Vaters in die Demenz neben- und ineinander. Die Boing 777, "ein großes Ding", verschwindet im Jahr 2014. Theorien werden aufgestellt, bis hin zu geheimen Waffenlieferungen. Bis auf wenige Wrackteile bleibt "das Ding" weg. Im gleichen Jahr zeigen sich bei Haugs Vater Anzeichen einer Demenz. Der brillante Denker verliert seinen Geist: Er geht sich verloren. Haug fasst beide Verläufe in nüchterner Sprache zusammen – nicht mittels Eins-zu-Eins-Entsprechungen, sondern durch das beiden Ereignissen innewohnende Empfinden: Wie gehe ich mit dem Verschwinden um? Wie fasse ich etwas, das nicht mehr fassbar ist? Oder wie es der Philosoph Rüdiger Safranski formuliert: "Das Bewusstsein der Zeit entdeckt die Furie des Verschwindens."
Rasen ins Nichts
Im Gegensatz zu Haugs Inszenierung, in der der Text 'stumm' projiziert wird, lässt Rüll die Worte nahezu ungekürzt sprechen: von einem vierköpfigen Ensemble, die Kinder des Vaters, die als sachliche Referenten berichten, als Erinnernde erzählen, poetisieren oder singen, im Loop, als Chor unisono oder zeitversetzt. Ein Konzept, das den immanenten Rhythmus des Textes herausarbeitet. Ist die erste Hälfte noch mit weitreichenden Theoriedetails und Beschreibungen gespickt, rast der zweite Teil ins Nichts, reiht Vater-Ebene und MH370-Historie im Staccato hintereinander – im gnadenlosen Sog.
Das Timing der Schauspieler:innen ist fast perfekt. Vor allem Hannah Im Hof und Rino Hosennen überzeugen mit Wandungsfähigkeit in Stimme und Spiel zwischen Beobachtendem und Erlebendem. Linda Schlepps nimmt man die Rolle der Beobachterin nicht ganz ab, Luca Zahn fehlt ein wenig Präsenz. Bernhard Hurm als Vater und Carola Schwelien als dessen Lebensgefährtin tauchen in kurzen Videosequenzen oder als Stimmen vom Band auf. Dass Hurm leicht Dialekt spricht, macht ihn 'echt', er tritt aus dem Stück heraus – erhält dadurch Präsenz in seinem Verschwinden. Ein ähnliches Heraustreten schaffen die direkte Ansprache des Publikums (bei Saallicht) oder das Lesen-Lassen einzelner Sätze des Vaters von Zuschauer:innen.
Poetisches Wort-Skelett
Sounddesign und Musik von Thomas Unruh reichen von Geräuschkulisse – ein "Doppel-Ping" ähnlich dem Anschnallzeichen im Flugzeug oder aber ein Herzrhythmus – bis zum Lied, wobei die Schauspieler:innen sowohl Loop als auch Glockenspiel bedienen. Der Sound unterstützt den Textrhythmus und erzeugt Stimmungen beim Zuschauer: Beklemmung durch scharfe, laute Klangformen oder erleichterndes Lachen, wenn die Erholung des Vaters mit ausgelassenem Tanz gefeiert wird. Wobei Musik und Gestik bereits durch Übertreibung die kommende Bedrohung in sich tragen.
Rüll entwirft einen abstrakten Raum mit Cockpit-Zitaten: Pilotensitze, im Hintergrund die Flugzeug-Windschutzscheibe, die für Videos sowie Projektionen von Himmel und Meer dient. Überdacht wird das von einem Bogen aus Leuchtstoffröhren: Warm scheint hier selten etwas, meist dominiert kaltes Weißlicht. Auch sonst setzt Rüll auf Klarheit: Partyhütchen beim Fest oder Sandeimer für die Strandszene. Haugs Worte sind bildhaft genug, eine optische Ausmalung wäre abträglich – weshalb auch am Ende beim Tod des Vaters die große weiße Kerze (zum Glück) nur sprachlich angezündet wird.
"All right. Good night." des Theater Lindenhofs berührt. Das liegt an der Kraft von Haugs Sprache und am Vertrauen des Melchinger Teams auf diese Sprache – wodurch das poetische Wort-Skelett in seiner schlichten Prägnanz glänzen kann.
All right. Good night.
von Helgard Haug
Regie: Claudia Rüll Calame-Rosset, Bühne & Kostüme: Claudia Rüll Calame-Rosset, Musik: Thomas Unruh, Kamera: Thomas Wißmann, Regieassistenz: Beate Duvenhorst.
Es spielen: Linda Schlepps, Hannah Im Hof, Luca Zahn, Rino Hosennen / Auf Video: Carola Schwelien & Bernhard Hurm.
Premiere am 11. Mai 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause.
www.theater-lindenhof.de
Kritikenrundschau
Helgard Haugs Stück wandele sich im Lindenhof "zum Sprechtheater, deklamatorisch auch", schreibt Thomas Morawitzky für die Deutsche Bühne online (12.5.2024). Der Abend solle "bei den Zuschauern eigene Emotionen wachrufen. Und das tut er."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 11. September 2024 Regisseur und Theaterintendant Peter Eschberg gestorben
- 11. September 2024 Saša Stanišić erhält Wilhelm-Raabe-Literaturpreis
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
neueste kommentare >