Fräulein Julie - Barbara-David Brüesch modernisiert Strindberg
Abgrund der Klassengesellschaft
von Otto Paul Burkhardt
Stuttgart, 23. Februar 2008. Kein pittoresker Blick auf Springbrunnen, Amoretten und blühende Fliederbüsche: Die Mittsommernacht aus August Strindbergs "Fräulein Julie" findet am Staatsschauspiel Stuttgart auf einem riesigen, breiten, stählernen Laufsteg statt, der in den Zuschauerraum ragt (Bühne: Sabine Kohlstedt). Drumherum nur gähnend leerer, weiter, schwarzer Raum.
Barbara-David Brüesch holt Strindbergs naturalistisches Trauerspiel von 1889 ins coole, düstere, trostlose Heute. Zerrt es quasi auf den Präsentationsteller unserer Zeit, den Catwalk. Prompt schlendern im Heidi-Klum-Stil die Grafentochter Julie, der Diener Jean und (weit weniger routiniert) die Köchin Kristin gleich zu Beginn zu wummerndem Discopop hüftbetont aufs Publikum zu. Jeder der drei darf schon zu Beginn eine erst später im Original vorgesehene, zentrale Passage programmatisch äußern – gleichsam als erste kurze Selbstdarstellung.
Strindberg mit Windmaschinen
Julie erzählt von ihrem unbewussten Drang, in die Tiefe fallen zu wollen, und Jean gesteht, dass er oft träumt, in die höchsten Baumwipfel klettern zu wollen. Wir haben verstanden: Strindbergs Melange aus Sozialdiagnose und Tiefenpsychologie wird uns so etwas holzhammrig vorab eingebläut.
Und Kristin? Die hat keinen Traum, sucht nur einen Lappen. Denn sie wird nun auf Knien den Boden putzen, den Hintern dem Publikum zugewandt. In dieser Position wird sie einschlafen (textgetreu) und vernehmlich laut schnarchen (in freier Lesart des Textes). Wird hier "Fräulein Julie" verblödelt?
Nicht ganz, die Regie strafft, rafft und verdichtet aber. Streicht das ganze atmosphärische Gedöns mit schottischer Fiddlemusik und lustigem Ballett der Bauersleut'. Knallt statt dessen die zentrale Affäre zwischen Julie und Jean komprimiert und schnörkellos vor unseren Augen auf den Laufsteg. Brüesch übersetzt Julies unstandesgemäße sexuelle Begierde auf den Knecht Jean in heftiges, musikgestütztes Dirty Dancing. Und wenn die beiden im Off dann endlich übereinander herfallen, blasen Windmaschinen buntes Glitterkonfetti in die Luft.
Klassenloses Partyfeeling
Bis dahin wirkt die Regie (Brüesch sprang sechs Wochen vor der Premiere für Sandra Schüddekopf ein, die "aus persönlichen Gründen" abgesagt hatte) oft disparat, lärmend, effektsuchend und gewalttätig. Lisa Wildmann gibt eine bedenkenlos lebensgierige Julie, die, weil's ihr grad in ihr hormonelles Partyfeeling passt, eben mal beiläufig die klassenlose Gesellschaft aufruft ("Heute wollen wir ... feiern und jeden Rang ablegen."). Thomas Eisen skizziert seinen Jean als karrieregeilen Kaltblüter, der in dieser Julie nur eine attraktive Starthilfe für seinen Aufstieg sieht.
Psychologische Feinheiten haben in dieser eher lauten, immer wieder von Musik- und Tanzeinlagen unterbrochenen Laufsteg-Show keinen Platz. Die Regie lässt die Schauspieler vielmehr quasi im Zeitraffer durch den Text brettern. Eingestreute Brechungen – Bühnenhelfer reichen Requisiten – sind allenfalls erheiternd.
Dagegen wirkt die zweite Hälfte deutlich stärker. Wenn Jean und Julie nach dem Sex wieder vors Publikum treten, sehen sie aus wie aus dem Paradies gepurzelte Kinder, splitternackt wie Adam und Eva, übersät mit bunten Glitzerpapierfetzen. Ein sprechendes Bild: Das Konfetti blättert nach und nach ab – und parallel dazu wird den beiden klar, dass etwas Todernstes passiert ist.
Und dann: Konfusion statt Konfetti
Die Adelstochter Julie hat ihre Standesakzeptanz verspielt, der Diener Jean triumphiert ohne Gnade. Die Zeit der Nacktheit, der gegenseitigen Berührung, der standesübergreifenden Utopie-Momente ist vorbei. Die Regie zeigt das schlüssig: Julie und Jean kleiden sich wieder an, versuchen, wenn auch reichlich ramponiert, erneut in ihre Sozialrollen zu schlüpfen. Was bleibt, ist Konfusion.
Das Problem aktualisierender "Julie"-Inszenierungen ist ja dies: die (scheinbare) Unvergleichbarkeit heutiger Verhältnisse mit der Standesgesellschaft von damals. Brüesch findet eine Brücke. Sie zeigt kühl und unerbittlich, dass solche Geschlechterkämpfe auch in unseren vorgeblich permissiv-modernen Zeiten noch ähnlich enden können. Denn, von ein paar Prominenten abgesehen, gelten für die Frau von heute noch immer andere Verbote und Tabus als für den Mann von heute.
Ein ernüchterndes Fazit: Thomas Eisens Möchtegern-Aufsteiger Jean führt, nun in zeitgemäßer grauer Anzugkluft, weiter die Befehle seines Vorgesetzten aus und winkt scheinheilig ein letztes Mal seiner Kurzzeitgeliebten zu. Lisa Wildmanns sozial abgestürzte Julie bleibt allein an der Rampe stehen – wenn sich hinter ihr ein schwarzer Trennvorhang senkt, gibt sie sich die Kugel.
Fräulein Julie
von August Strindberg
Regie: Barbara-David Brüesch, Bühne: Sabine Kohlstedt, Kostüme: Adelheid Walter, Musik: <strøm> (Gaudenz Badrutt, Christian Müller).
Mit: Thomas Eisen, Susana Fernandes Genebra, Lisa Wildmann.
www.staatstheater.stuttgart.de
Kritikenrundschau
Fräulein Julie auf dem Laufsteg – das ist für Tim Schleider in der Stuttgarter Zeitung (25.2.) erst einmal eine Überraschung. "Von hinten aus der Bühnentiefe weit nach vorn in den Zuschauerraum erstreckt sich ein glänzender Catwalk (...) das Präsentierfeld der perfekt drapierten Oberfläche." Die Grafentochter, Diener und Köchin würden als "Endrundenteilnehmern einer Pro-Sieben-Modelshow taugen, von Bruce Darnell kurz vor der Premiere noch ganz perfekt im 'Baby, gib Gas'-Hüftschwung trainiert." Der Kritiker wähnte den Abend fast schon in trockenen Tüchern, "doch leider zu früh gefreut. Denn just an jener Stelle, wo es bei Strindberg erst richtig spannend wird, (...) geht dem Spiel plötzlich die Dichte und die Spannung verloren." "Schade. Man bedauert aufrichtig. Eigentlich ist ja alles vorhanden. Eine interessante Idee. Ein spannendes Bühnen- und Kostümkonzept." Aber, wendet der Kritiker milde ein, vielleicht "fehlte schlicht eine weitere Probenwoche".
In den Stuttgarter Nachrichten (25.2.) ahnt Armin Friedl ziemlich schnell, dass es mit der Grafentochter und dem Diener nichts werde. In der Inszenierung wird "mit all dem gearbeitet, was gerade so angesagt ist im modernen Regietheater." Auf dem Laufsteg ist "alles live, alles ist jederzeit einsehbar." Der Abend mache im gewissen Sinne klar: "junge Menschen definieren sich über äußere Werte." Sie, Julie, verfüge über gewisse Möglichkeiten wie "das geraubte Geld ihres Vaters", der Diener habe einige praktische Erfahrungen gesammelt, "als Sommelier in einem Hotel." "Der Machtkampf beider wird letztlich auf der Bühne auch ausgetragen: Wer kann sich durchsetzen - der Macher mit seiner Geschäftsidee oder die Frau mit Beziehungen?" Fazit: "Den Strindbergschen Kammerspielton hat Brüesch diesem Stück völlig ausgetrieben. Stattdessen zeigt sie zwei junge Menschen, die zueinanderfinden wollen, aber nicht zusammenkommen."
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