Grand ReporTERRE #4: DEADLINE - Schauspiel Stuttgart
Aufprall bei hoher Geschwindigkeit
13. November 2021. "Volle Energie voraus", fordert der moderne Manager-Prometheus und lässt sich relaxed die Leber erneuern. Das Citizen Kane Kollektiv und das Theatre du point du jour fragen am Schauspiel Stuttgart, warum wir, seit man uns das Feuer brachte, immer radikaler die Erde verfeuern.
von Steffen Becker
13. November 2021. Wir sehen eine Wand, wir rasen auf sie zu, im Radio erklärt eine Stimme der Wissenschaft, warum ein Frontalaufprall bei hoher Geschwindigkeit fast immer tödlich endet. Wir nehmen den Fuß nicht vom Gas, denn wir lieben die Energie. Am Schlusstag einer (wieder mal) ungenügend endenden Weltklimakonferenz gastieren das Citizen Kane Kollektiv und das Theatre du point du jour am Schauspiel Stuttgart – und fragen sich, warum wir die Welt vor die Wand fahren.
Frischzellenkur für Prometheus
"Deadline" lautet der passende Untertitel zum Stück "Grand ReporTERRE #4". Grundlage ist ein Essay der Journalistin Julia Lauter über unseren Hunger nach und die Versorgung mit Energie. Sie liest ihn aus dem Off, die Bühne gehört dafür einem Prometheus in Pödelwitz.
Julia Lauter hat in Frankreich zur Renaissance der Atomkraft, in Stuttgart zur Autoindustrie recherchiert – und in Pödelwitz darüber, wie die Braunkohle in Mitteldeutschland fast ein Dorf frisst. Die Inszenierung verknüpft das mit der antiken Figur des Titanen, der den Menschen das Feuer bringt. In "Grand ReporTERRE" ist es nicht Prometheus, der dafür büßen muss. Statt täglich seine Leber an einen hungrigen Adler zu verlieren, säuft er sie sich aus Langeweile im Exil kaputt und erhält jeden Tag aufs Neue eine Frischzellenkur.
Entsprechend gelassen kann sich Jürgen Kärcher in der Rolle auch in Pose werfen – Vorhang als Toga, vier Finger hinter den Kopf als Krone (der Schöpfung). Und herablassend die Frage stellen, wo eigentlich das Problem ist. Prometheus als Bergmann, Prometheus als Manager, Prometheus als Physiker gibt in allen Ausprägungen das gleiche Mantra von sich: Alles kein Problem, volle Energie auf dem bisherigen Kurs, das wird schon …
Ende Energiewende
Der Mensch, der seine (einzige) Welt verfeuert, hat es da schwerer als der Titan mit der täglich runderneuerten Leber. "Grand ReporTERRE" bringt das sinnbildlich auf die Bühne in Form einer Lichtquelle, die mit Pedal betrieben wird. Das ist so anstrengend, dass Maximilian Sprenger auf dem Bock der erste ist, der das von "Ende Gelände"-Demos bekannte Schutzanzug-Outfit ablegt, um Radlerhose und Schweiß zu präsentieren. Seine Mitspieler:innen schwitzen dafür (hinter dem Vorhang) an Instrumenten – Musik und Gesang nehmen neben den journalistischen Textpassagen und den kurzen schauspielerischen Interventionen einen großen Raum ein. Nicht unbedingt zum Vorteil der Inszenierung. Songs wie "Coal, Car, Nuclear" feiern theatralisch die Sucht am schädlichen Abfackeln von Energie und setzen eine klare Botschaft: Wer Autos mag, keinen frühzeitigen Kohleausstieg will oder Atomenergie für sinnvoll hält, ist nicht nur kurzsichtig, sondern lächerlich.
Ähnlich oberflächlich sind die Videos mit Interviews aus den untersuchten Regionen. Zu Atom, Verbrennermotor und Kohleabbau äußern sich Bürgermeister, Wissenschaftler und Klimaaktivist:innen. Und so sprechen sie auch. Als Funktionär:innen. Kein O-Ton von Menschen, deren Dorf dem Tagebau geopfert werden soll, kein Autobauer, der erklärt, warum ein Benzinmotor in der Mercedes-Stadt Stuttgart nicht nur irgendeine, sondern eine identitätsstiftende Technik ist. Letzteres wäre ein wichtiger Punkt gewesen einer wirklichen Analyse, warum Verkehr- und Energiewende gesellschaftlich kein Konsens sind. Es geht auch um Lebenswege und Traditionen, die von einer solchen Wende beseitigt werden (neben den Schadstoffen und Treibhausgasen).
Autos anzünden fürs Klima
"Grand ReporTERRE" tippt diese Aspekte nur kurz an – und schiebt sie zugunsten von Zahlen, Daten, Fakten und einer klaren Haltung in den Hintergrund. Ein paar Highlights gibt es trotzdem – etwa das Aufspießen der Lobby-Argumentation, dass nicht politische und wirtschaftliche Strukturen für die Klimamisere verantwortlich seien, sondern wir Individuen. Es gipfelt in absurden Bekenntnissen, was die Einzelnen für die Umwelt tun: "Weil alles auf dem Spiel steht, kaufe ich regionale Produkte und brüte meine Eier selbst aus. (…) Um Benzin zu sparen, zünde ich Autos an." Auch die Schluss- oder besser Schlussmachen-Szene gelingt als melancholisches Ausklingen.
Das Ensemble versammelt sich zu einer Art letztem Abendmahl. Die Elektrik dimmt, Kerzen werden angezündet und Simon Kubat hält eine Abschiedsrede auf das Leben unter Strom. So undramatisch und leise, dass es sich von den vielen Holzhammern und Zeigefingern des restlichen Abends stark abhebt – und darauf verweist, dass bei dieser Koproduktion die Einzelteile nicht so recht zusammenpassen. Einig war man sich vor allem in der Stoßrichtung: Das Richtige sagen mit und zu den richtigen Leuten. Im Sinne der Sache ist das zu wenig.
Grand ReporTERRE #4: DEADLINE
von Citizen Kane Kollektiv
Inszenierung: Heidi Becker-Babel, Jürgen Kärcher, Simon Kubat, Andrea Leonetti, Eric Massé, Christian Müller, Loïc Risser, Maximilian Sprenger, Video und Fotos: Christopher Bühler, Maëlys Meyer, David Simmons, Technik: Quentin Chambeaud, Reinhard Kopp, Produktion: Marion Bouchacourt.
Mit: Heidi Becker-Babel, Jürgen Kärcher, Simon Kubat, Andrea Leonetti, Eric Massé, Christian Müller, Loïc Risser, Maximilian Sprenger.
Uraufführung am 12. November 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
www.pointdujourtheatre.fr
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
- Grand ReporTERRE, Stuttgart: Ursachen diskutieren!
- #1
- Thomas Rothschild
meldungen >
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
- 29. September 2024 Schauspieler Klaus Manchen verstorben
- 28. September 2024 Schauspielerin Maggie Smith gestorben
- 26. September 2024 Nicolas Stemann wird 2027 Intendant in Bochum
- 26. September 2024 Berlin: Bühnenverein protestiert gegen drastische Sparauflagen
neueste kommentare >
-
Einsparungen 3sat Unterschreiben!
-
Spardiktat Berlin Nicht konstruktiv
-
Einsparungen 3sat Geschätzter Stil
-
Spardiktat Berlin Verklausuliert
-
Spardiktat Berlin Gagen
-
Faust, Frankfurt Video
-
Spardiktat Berlin Intransparente Bosse
-
Spardiktat Berlin Menschen wie Max Reinhardt
-
Augenblick mal Jurybegründung
-
Medienschau Peter Turrini In der DDR
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau