Fremd geworden

10. Juni 2023. "Istanbul", 2015 in Bremen uraufgeführt, vertauscht die Vorzeichen von Migration: Hier geht einer aus dem armen Deutschland in die reiche Türkei, um am Fließband zu arbeiten. Murat Yeginer hat den weitgereisten Abend mit Musik jetzt in Stuttgart inszeniert – und setzt auf Identifikation.

Von Thomas Rothschild

"Istanbul" an den Schauspielbühnen Stuttgart © Martin Sigmund

10. Juni 2023. Sezen Aksu ist eine in ihrer türkischen Heimat und darüber hinaus populäre, mittlerweile 68jährige Sängerin und Liedermacherin. Sie hat unter anderem für Schlagzeilen gesorgt, als sie vom Präsidenten Erdoğan wegen eines angeblich antiislamischen Textes frontal angegriffen wurde. Das Alte Schauspielhaus in Stuttgart, in dem das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Kleine Haus des Staatstheaters bis in die frühen sechziger Jahre Unterschlupf fand, das aber mit dem Schauspiel Stuttgart nichts zu tun hat, lenkt mit ihr zu einer Zeit, da die Theater sich, mit guten Gründen, in erster Linie für die Ukraine und ihre nach Deutschland geflüchteten Autor*innen und Regisseur*innen interessieren, die Aufmerksamkeit auf eine Weltgegend, die man darob nicht vergessen sollte.

Modell "verkehrte Welt"

Sezen Aksus Lieder bilden das musikalische Rückgrat für "Istanbul" von Autor Akın E. Şipal, Komponist Torsten Kindermann und Selen Kara, der Regisseurin der Bremer Uraufführung von 2015. Das Stück folgt dem Modell der "verkehrten Welt". Was, wenn nach 1945 nicht Deutschland, sondern die Türkei ein wirtschaftlich reiches Land geworden wäre und Deutsche als "Gastarbeiter" dorthin migriert wären?

Die erzieherische Bedeutung von "Istanbul", seine Funktion, Verständnis zu erzeugen für das Fremde und für die Situation eines Fremden, könnte leicht auf Kosten der theatralen Qualität gehen. Tut es aber nicht. Die Story ist zwar schlicht, ohne verwickelte Konflikte, aber umgesetzt in lebendige Dialoge und durch die Musik und die Darsteller*innen vor Durchhängern bewahrt. Die Probleme, die mit Migration verbunden sind, werden zwar angedeutet, aber nicht in einer Weise ausgewalzt, als würden sie sonst nirgends thematisiert.

Es gibt Tee und Raki fürs Publikum

Die Zuschauer werden nicht für dumm gehalten. Sie dürfen sich bei einem Spektakel, dessen Botschaft ihnen vertraut ist, unterhalten und erfreuen an der Differenz zwischen Theater und einem Leitartikel, vor allem aber an den Liedern, die von den offenbar zweisprachig aufgewachsenen Schauspieler*innen Selda Falke, Irfan Kars, Aykut Kayacik und, vom Publikum mit anerkennendem Applaus bedankt, von den deutschen Kolleg*innen Ursula Berlinghof und Reinhold Weiser im türkischen Original und, begleitet von vier Instrumentalisten, mit ebenso viel Temperament wie Musikalität vorgetragen werden.

Istanbul 2 MartinSigmund u"Pack das Leben an den Haaren": Vorn Reinhold Weiser als Klaus Gruber, hinten Mert Eylem Sezgin, Murat Bay, Benjamin Stein, Apostolos Naumis, Irfan Kars © Martin Sigmund

Das Stück verzichtet auf Lehrsätze, auf Agitation. Text und Inszenierung setzen auf identifikatorische Teilnahme. Die Darsteller verteilen Tee und Raki im Publikum und laden es zum Tanzen ein. Genremäßig erinnert "Istanbul" am ehesten an das Volkstheater eines Dario Fo, ohne dessen politische Radikalität und satirische Schärfe allerdings. Die Songs haben nicht unmittelbar mit der Handlung zu tun, allenfalls ein paar Stichwörter stellen einen Zusammenhang her. Bei den Zugaben geraten die Türken im Publikum aus dem Häuschen wie einst die Griechen bei Maria Farantouri.

Alpträume eines überforderten Fließbandarbeiters

Regie führt Murat Yeginer, der in der Türkei geboren wurde, in Deutschland aufgewachsen ist und 2008 bis 2014 Schauspieldirektor in Pforzheim war. Der Schauspieler, Regisseur und Autor kennt beide Hälften des Personals, die Türken und die Deutschen, aus unmittelbarer Erfahrung. Das ist zwar nicht Bedingung für solch eine Aufgabe, erweist sich aber als hilfreich.

Istanbul 3 MartinSigmund uKuschlig: Benjamin Stein, Selda Falke, Reinhold Weiser, Irfan Kars; hinten Murat Bay, Apostolos Naumis © Martin Sigmund

Das aufwändige realistische Bühnenbild von Beate Zoff zeigt eine Gasse in Istanbul mit einer offenen Bar zur Straße hin und Hockern, die Platz bieten für die Musiker. Die Witwe von Klaus Gruber will die Urne mit seiner Asche nach Stuttgart bringen. Der Tote steht von Anfang an im Hintergrund und schaut den um ihn Trauernden zu. Danach wird, in der für Stuttgart bearbeiteten Fassung, chronologisch seine Auswanderung aus Untertürkheim gezeigt, seine Ankunft in Istanbul. Er wird geplagt von den Alpträumen eines überforderten Fließbandarbeiters. Später kommt seine Frau Luise nach Istanbul nachgereist. Klaus hat mit der Türkin Ela geflirtet, eine eher harmlose Eifersuchtsgeschichte wird angedeutet.

Ohne Übergang ist der Sohn von Luise und Klaus plötzlich erwachsen. Deutschland – und darauf kommt es bei dieser Szene an – ist dem in der Türkei zur Welt Gekommenen fremd geworden.

Istanbul
von Selen Kara, Torsten Kindermann und Akın E. Şipal
Ein Theaterstück mit Musik von Sezen Aksu
Regie: Murat Yeginer, Musikalische Leitung: Torsten Kindermann, Bühne und Kostüme: Beate Zoff, Dramaturgie: Annette Weinmann.
Mit: Reinhold Weiser, Ursula Berlinghof, Aykut Kayacık, Selda Falke, Irfan Kars, Murat Bay, Apostolos Naumis, Mert Eylem Sezgin, Benjamin Stein.
Premiere am 9. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.schauspielbuehnen.de

 

Kritikenrundschau

Das Stück wecke Empathie und Verständnis füreinander, so Christoph B. Ströhle vom Reutlinger General-Anzeiger (12.6.2023) über einen "nachdenklichen, genussvollen und vor allem warmherzigen Theaterabend". Murat Yeginer finde wunderbar die Balance zwischen dem Ernsten und dem Heiteren, dem Tiefgründigen und dem Leichten. Auch der musikalische Leiter Torsten Kindermann habe ganze Arbeit geleistet. "Zwischen Melancholie und Lebensfreude wechseln die Stimmungen in den Liedern."

Die Idee des Stücks sei so simpel wie genial, schreibt Uta Reichardt von der Ludwigsburger Kreiszeitung (12.6.2023). “Zuwanderergeschichten aus allen Zeiten und Regionen werden hautnah erlebbar und lesbar als Plädoyer für Toleranz und Freundschaft in unruhigen politischen Zeiten.“ Und weiter: "Lachen, weinen, singen, tanzen – der Theatersaal im Alten Schauspiel- haus brodelt über vor Emotionen."

'Istanbul' sei eine erhellende Lektion in Sachen Empathie, die aber nie moralinsauer daherkomme. "Dafür ist das Stück zu unterhaltsam, ist das Mitwipp-Potenzial zu groß, wenn die vierköpfige deutsch-türkische Band aufspielt. Die Inszenierung von Murat Yeginer wird immer wieder zum Volksfest", schreibt Dorothee Schöpfer von der Stuttgarter Zeitung (12.6.2023).

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