Alles in Ordnung - Das neue Stück von Andreas Sauter und Bernhard Studlar in Stuttgart uraufgeführt
Lied von der sinnlosen Qual der Multioptionalität
von Christina Kirsch
Stuttgart, 18. Juni 2010. Stellen Sie sich vor, Sie fahren zur Arbeit. Und da sehen Sie mitten im Berufsverkehr eine Frau auf einem Brückengeländer stehen. Steht da und ... Ja was eigentlich? Gerd rennt hin und spricht die Frau an. "Alles in Ordnung?" Nichts ist in Ordnung in dem neuen Stück "Alles in Ordnung" von Andreas Sauter und Bernhard Studlar, das im Theater Rampe in Stuttgart uraufgeführt wurde.
Gerd (Kenneth Huber), der selbstlose Lebensretter, wird von der Frau spröde abgewiesen. "Kommen Sie da runter", befiehlt er mutig. "Nein", sagt sie. "Ich gehe Ihnen so lange auf die Nerven, bis Sie da runter steigen", versucht er es. "Ich will aber nicht", entgegnet sie. "Ich muss ins Büro, mein Auto steht auf der Überholspur", drängelt er. "Dann fahren Sie doch". Patt. Er möchte schon gehen. Langsam wird ihm das Hin und Her zu bunt. Da beginnt sie, an der Sache Gefallen zu finden. Beide üben sich in plänkelnder Unentschlossenheit. Zack, da rutscht sie aus und knallt die Brücke runter. Und steigt im nächsten Moment unverletzt aus dem Wasser. "Alles in Ordnung?" Ja, fast. Aus dem Schrecken wird ein Smalltalk. Man hätte ja so gern etwas miteinander angefangen, aber der Funke mag nicht überspringen.
Pulsierendes Leben zwischen Spreizdübeln
Der Schweizer Regisseur André Becker stellt seine Figuren in einen Bühnenzwickel, der an den Seiten von raumhohen Setzkastenwänden begrenzt ist. (Ausstattung Lucia Becker). Nach hinten wird es eng, aber es ist auch der einzige Weg, um aus der Szene zu verschwinden. Im Bühnenkasten befindet sich eine Bar mit Tresen und Warteraum auf das Leben in einem. Nebenan gibt es noch einen Lagerraum voller OBI-Faltkartons.
Denn was tut man, wenn einen akut die Sinnkrise erfasst? Man fährt in den Baumarkt. Dort fühlt Mann sich sicher, dort pulsiert das Leben zwischen Spreizdübeln und Badvorlegern. Auch in Susa (Marion Freundorfer) erwachen angesichts der Fülle die Konsumgeister. Sie packt ihrem Retter das Auto voll. Das Autorenduo Andreas Sauter und Bernhard Studlar macht auch im neuen Stück banale Orte zu Schauplätzen grotesker Alltagstragik.
Todessehnsüchtiger Lebenshunger
Auch das Motiv des Nicht-Gelebten ihres Einakters "A. ist eine Andere" findet nun seine Fortsetzung: in der Figur der Susa und ihrem Konflikt, festhalten am Alten oder den Sprung ins neue Leben wagen? Susa springt. Wenn auch nicht aus Todessehnsucht, wie sich bald heraus stellt, sondern aus Neugier. Aus einer undefinierten Lust am Neuen. Doch das vermeintlich Neue, das sie dann mit Gerd auf einer Fahrt ins Blaue sucht, endet im Alten. Die Sehnsucht nach Weite kann auch das Meer nicht befriedigen, zu dem die beiden aufgebrochen sind.
Das Autorenduo thematisiert mit assoziativen Elementen die letzten Endes sinnlose Qual postmoderner Multioptionalität. Als Gegenpol zu den Sinnsuchern ist Bongo (Fredrik Jan Hofmann) der etwas tapsige, verlässliche Freund, der sich kümmert und aufräumt. Bongo hat sich im Leben eingerichtet. Um kopfüber an einer Stange zu hängen, wie Gerd es einmal tut, ist er viel zu gemütvoll und schwerfällig. Bei ihm, der eine Bar betreibt, ist alles in bester Ordnung. Mit lebensklugen Abstrichen.
Die Lebensschleifen der Unentschlossenen
Und Gerd? Der erkennt durch seine Begegnung mit Susa, dass sein Leben alles andere als in Ordnung ist. Da gibt es Kratzer auf der Seele, die verschorft waren. Aus der Bahn und an den Meeresstrand geworfen, gerät er durch Susa in eine Lebenskrise. Kenneth Huber schreit es sich tobsüchtig aus dem Leib. So lange, bis er nackt und bloß, verloren und verlassen auf der Bühne steht. Aber immerhin mit beiden Beinen auf der Erde. Nach dem Ausbruch steigt er jedoch wieder in die alten Klamotten. Für ihn wie für Susa beginnt die Lebensschleife wieder von vorne.
"Alles in Ordnung" erzählt in stiller, fast sanfter Lakonie von den Entscheidungen im Leben. Die Schauspieler sind vor allem Erzähler und Moderatoren des Geschehens. Sie müssen keine Rolle entwickeln. Die Musik von Bo Wiget umtänzelt schmeichelnd die Unentschlossenen. Die Autoren haben nicht zu Extremen gegriffen und die Regie lässt die Figuren dort ankommen, wo sie auf die Lebenswirklichkeit der Zuschauer treffen. Es ist in 90 Minuten ohne Pause ein intensives Stück über ein Stück Leben. Entschließt Euch! Das Leben, so wie es ist, ist in Ordnung, scheint es uns sagen zu wollen. Dass man sich von den multiblen Optionen nicht verwirren lassen soll. Man geht besonnen heim. Denn alle neuen Wege führen zu einem selber zurück.
Alles in Ordnung (UA)
von Andreas Sauter und Bernhard Studlar
Inszenierung: André Becker, Austattung: Lucia Becker, Musik: Bo Wiget. Mit: Marion Freundorfer, Fredrik Jan Hofmann, Kenneth Huber.
www.theaterrampe.de
Das letzte Stück des Dramatiker-Duos Sauter/Studlar Geld – her damit wurde im November 2009 von K. D. Schmidt in Oldenburg uraufgeführt.
Akribisch beobachte "das fein gewebte Textkonstrukt aus Monologen und Kurzdialogen mit vielen Einwortaussagen die Sehnsucht" der drei Figuren aus Sauters und Studlars Stück "nach Veränderung und neuer Nähe", schreibt Horst Lohr in den Stuttgarter Nachrichten (21.6.2010). Die Machart von "Alles in Ordnung" lasse "dem Regisseur viel Freiraum für eigenwillige Interpretation", der von André Becker genutzt werde: "Die Zuschauer erleben ein Bühnengeschehen, das gerade wegen seiner ausgeprägten Handlungsarmut besonders spannend ist." Das liege "zum einen daran, dass der Regisseur die komischen Elemente des Stücks geschickt einfängt, indem er Textvorgaben ganz anders als vorgegeben spielen oder nur sprechen lässt; zum anderen erweisen sich die drei Schauspieler bei ihren gezielten Minimalaktionen als sehr ausdrucksstark."
Es sei "eine hemmungslos romantische Geschichte, die Andreas Sauter und Bernhard Studlar in 'Alles in Ordnung'" erzählten, meint Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (21.6.2010). "Es ist eine Liebesgeschichte, gespeist aus der Sehnsucht nach dem großen Glück, das aber ständig gefährdet wird durch die Kleinheit des Seins." Das Stück sei "keine Hollywoodromanze, die auf ein Happy End zusteuert, die beiden Autoren schicken ihre Protagonisten vielmehr auf emotionale Höhenflüge, um sie kurz darauf wieder in die Niederungen des Alltags abtauchen zu lassen." André Beckers Inszenierung wolle "keine glatte Illusion erzeugen, das Theater erschafft sich hier selbst und legt permanent seine Strategien offen." "Alles in Ordnung" sei "ganz und gar in der Gegenwart verankert" und verhandele "heutige Sehnsüchte und Nöte. Nicht verbissen, sondern mit leichter Hand wird dabei das Medium Theater ausgereizt und die Illusionsfabrik augenzwinkernd konterkariert. Den drei Akteuren gelingt die Gratwanderung zwischen direkter Kontaktaufnahme mit dem Publikum und Identifikation mit den Rollen."
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