Slash Patriarchy

30. April 2023. Mit beeindruckendem multimedialen Aufwand lässt diese Kombination aus Literatur- und Dokumentartheater Zeit- und Realitätsebenen verschwimmen und aus dem Leben gegriffene auf ausgedachte Figuren treffen. Und legt offen, wie das Patriarchat wirkt, von der Kleinfamilie bis zum Großstaat.

Von Willibald Spatz

Julius Kuhn, Katja Sieder, Klaus Müller & Statisterie © Jan-Pieter Fuhr

30. April 2023. Schon der Titel irritiert. Es geht doch in Tschechows "Drei Schwestern" darum, dass die Schwestern nach Moskau wollen und ihnen das aus diversen Gründen nicht gelingt. Wir haben es hier aber mit einer Hybrid-Aufführung zu tun, wo nicht allein Tschechows Stück gespielt wird, sondern auch noch ein realer Fall als Dokumentartheater verhandelt wird: Im Jahr 2018 haben drei Moskauer Schwestern ihren Vater brutal ermordet. Der hatte sie zuvor jahrelang missbraucht. Der Fall schlug nicht nur in Russland medial hohe Wellen. Außerdem gibt es noch eine künstlerische Intervention an dem Abend – aber davon später mehr.

Tschechow meets True Crime

Bis auf die drei Schwestern als Protagonistinnen haben die beiden Geschichten, die echte und die von Tschechow, vordergründig wenig miteinander gemeinsam. Und Regisseur Andreas Merz-Raykov versucht auch zunächst nicht, etwas nicht zueinander Passendes passend zu machen. Inszenatorisch baut er im ersten Teil die größtdenkbaren Gegensätze auf. Wenn Tschechow gespielt wird, ist die Bühne weiß, zahlreiche Türen bilden eine Flucht, die Kostüme sind weiß, die Gesichter sind weiß. Die Schauspieler drehen auf, spielen nah an der Groteske. Sätze werden buchstäblich herausgestoßen, danach folgt sekundenlange Stille. Türen fliegen auf und zu, Personen stolpern ineinander rein, Birken werden aus dem Bühnenbild gerissen und durch die Gegend geschwenkt. Kurz: Auf Gefühle und Innenleben der Figuren wird wenig Rücksicht genommen, alles muss grob, rasant und Komödie sein.

Schwester3 Jan Pieter Fuhr uDrei Schwestern und Moskauer Vatermörderinnen: Natalie Hünig, Joane Reimann, Katja Sieder © Jan-Pieter Fuhr

Umso brutaler dann der Stimmungsumschwung, als sich aus dem Hintergrund ein schwarzer Plexiglaswürfel nach vorne schiebt. In diesem wird der Schwestern-Vatermordfall vorgeführt. Über die ganze Bühne werden Original-Ausschnitte aus russischen Nachrichten- und Talksendungen projiziert. Oberhalb der weißen Tschechow-Wand ist ein Stacheldraht gespannt. Im Plexiglaskasten wird eine Talkshow nachgestellt, in der die Mutter der drei inhaftierten Schwestern interviewt werden soll. Wir sehen schaufensterpuppenhafte Darsteller, die mit verzerrter Stimme wohl den Originaltext der Sendung rezitieren. Ein erster extrem verstörender Moment.

Die abrupte Rückkehr in das muntere Tschechow-Treiben wirkt nun schon bizarr. Die wilden Slapstickeinlagen vom Anfang werden rarer. Auch scheint es, als würde der aktuelle Fall plötzlich auf den damaligen zugreifen: Immer wieder wird in der Tschechow-Welt ein grausamer Mord erwähnt, und Olga stürzt würgend nach draußen.

Einbruch der ukrainischen Kriegsrealität

Nach der Pause wird eine weitere Ebene in den Abend eingezogen – die künstlerische Intervention "Voices of Ukraine – Stimmen eines Landes, das nicht erobert wurde". Schwarzer Bühnenschnee fällt, und Yuliia Yermakova tritt auf die Bühne und berichtet von einer realen Vergewaltigungs- und Mordszene, die sich unlängst in ihrer Heimat ereignet hat. Sie verlässt nach dem Monolog die Bühne nicht, sondern wird von Olga als Hilfsbedürftige mit Jacken versorgt. In der Tschechowschen Realität ist eben ein Brand am Ort ausgebrochen und man muss den Obdachlosen helfen.

DreiSchwesternNEU 805 jan pieterfuhrKatja Sieder, Natalie Hünig, Joane Reimann, Klaus Müller und Yuliia Yermakova in "Voices of Ukraine" © Jan-Pieter Fuhr

Jetzt ist die Mauer zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefallen. Alles könnte überall und jederzeit spielen. Die munteren weißen Soldaten des ersten Teils sind nun prügelnde schwarzvermummte Polizisten. Der vergewaltigende Vater der Schwestern aus dem Jahr 2018 schaut Pavarotti im Fernsehen; Andrej, der Bruder der Tschechow-Schwestern, tritt als beleibter, bärtiger Tenor auf und singt die Arie zu Ende.

Patriarchale Strukturen im Großen und Kleinen

Durch das zunehmende Verschwimmen der Zeit- und Geschichtsebenen schält sich immer klarer der Kern des Abends heraus: All diese Ungeheuerlichkeiten, deren Zeugen wir hier werden, sind nur möglich durch ein tief verwurzeltes patriarchales System, das den einen eine nahezu unbegrenzte Macht über die anderen gibt. Diese Strukturen finden sich in kleinen Familien hinter verschlossenen Wohnungstüren genauso wie in riesigen Staaten. Andreas Merz Raykov arbeitet diese Aussage sehr konsequent heraus, aber das letzte Wort gehört nicht den Tätern.

Am Ende tritt Yuliia Yermakova noch mal auf für ein kurzes Schlusswort: "Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Aber eins weiß ich sicher – wir werden uns erinnern – bis auf die Knochen, bis aufs Blut. […] Diese Erinnerung sind jetzt wir. Und um sie zu bewahren, müssen wir ein neues Leben aufbauen. Und wir werden es aufbauen. Und darüber wird ein neuer Himmel sein." Und auch die drei Schwestern dürfen noch optimistische Worte sprechen. Mit der Stimme aus der Ukraine sind sie schon zu viert. Das darf einem ein bisschen Hoffnung machen.

Drei Schwestern in Moskau
Schauspiel nach Anton Tschechow und einem realen Verbrechen aus dem heutigen Russland
Inszenierung: Andreas Merz-Raykov, Bühne & Kostüme: Galya Solodovnikova, Text & Recherche: Ekaterina Raykova-Merz, Musik: Stefan Leibold, Licht: Günter Zaworka, Dramaturgie: Sabeth Braun.
Mit: Natalie Hünig, Katja Sieder, Joane Reimann, Julius Kuhn, Sarah Maria Grünig, Thomas Prazak, Klaus Müller, Sebastian Müller-Stahl, Kai Windhövel, Stefanie von Mende, Ammon Abt, Fabian Heißerer, Kristof Kastelec, Christoph Oebels, Hakan Uslu, Berislav Vranesic, Tobias Wagner.
Enthält die künstlerische Intervention: "Voices of Ukraine – Stimmen eines Landes, das nicht erobert wurde" nach Zeuginnen-Aussagen aus der Ukraine und einem Text von Andrii Bondarenko, mit Yuliia Yermakova
Premiere am 29. April 2023
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause 

https://staatstheater-augsburg.de 

 

Kritikenrundschau

Es scheine zunächst, als hätte Regisseur Andreas Merz Raykov einen Klischee-Tschechow inszeniert. Komisch überdreht allerdings, so Christoph Leibold im Bayrischen Rundfunk (30.4.2023). "Von Spieluhrklängen begleitet agiert das Ensemble streckenweise wie aufgezogen." Das sei wirklich lustig, "aber als sich der schwarze Schaukasten mit den Chatschaturjan-Schwestern aus dem Hintergrund nach vorne schiebt, bricht das Grauen in die Groteske ein." Der Zusammenhang, den die Inszenierung zwischen dem Fall Chatschaturjan und dem Ukraine-Krieg herstellt, leuchte ein. Tschechows "Drei Schwestern" indes fügen sich nicht gar so schlüssig ins Bild, "aber das schmälert den Erfolg nur geringfügig. Fazit: "Die Augsburger Aufführung schafft einen Resonanzraum für die Gegenwart. Richtig so."

Der künstlerische Blick auf Krieg und Gewalt gleiche einer Laborsituation, schreibt Richard Mayr von der Augsburger Allgemeinen (2.5.2023). "Es geht nicht um Anteilnahme, nicht um Sympathie, nicht um Mitfühlen und Läuterung, viel wichtiger ist das Verstehen." Geopfert würden im Angesicht des gedanklichen Überbaus allerdings Tschechows Charaktere. "Im Stil des dominierenden Schwarz-Weiß-Kontrasts erscheinen stark stilisierte Typen, deren Wohlergehen und Schicksal weder der Regie noch dem Publikum größer am Herzen liegen." Das Ensemble spiele das entschieden und konsequent. Trotz einiger Längen empfiehlt der Kritiker den Abend.

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