Der Vater – An den Münchner Kammerspielen lässt Nicolas Stemann zu Strindberg Geschlechterbilder changieren und packt das Patriarchat am Schlafittchen
Schnipp-schnapp und ab
von Michael Stadler
München, 29. April 2018. Im Wust der Debatten vermischt sich derzeit alles so ins Unübersichtliche, dass man gar nicht mehr weiß, wer stark und wer schwach ist, wer Opfer und wer Täter, wer überhaupt die Macht hat im sogenannten Geschlechterkampf. Wie beruhigend eindeutig es da ist, wenn in diesem Chaos eine Gruppe von Männern einfach richtig Mann ist, mit wild wuchernden Bärten und Holzfällerhemden. Dazu singen sie vielstimmig: "Ein Prosit der Gemütlichkeit". Und: "Olé, wir fahr'n in Puff nach Barcelona", was dann doch Unbehagen erzeugt. Eindeutig ist hier gleich: reaktionär.
Machoplage und Vodoo-Feminismus
Als Machoplage suchen sie Nicolas Stemanns Inszenierung von Strindbergs "Der Vater" in den Kammerspielen mittendrin heim, die "Jungs" des Chors der Camerata Vocale, und ähneln in ihrem Look der Hinterwäldlertruppe aus der US-amerikanischen Doku-Soap "Duck Dynasty". Wie darin ein millionenschwerer Familienclan gut gelaunt nach traditionellen Mustern lebt, die Frauen zu Hause, die Männer auf Entenjagd in den Sümpfen Louisianas, brachte in den USA Rekordeinschaltquoten. 2013 wurde der Spaß kurz getrübt, als Familienoberhaupt Phil Robertson wegen homophober und rassistischer Aussagen vorübergehend aus der Serie ausscheiden musste.
2017 lief die letzte Staffel in den USA, Donald Trump war da schon Präsident. Bei Stemann macht Julia Riedler hinten auf einer Treppe mit einer Kastrationsklemme schnipp-schnapp in die Luft, auf dass die Sänger vorne einer nach dem anderen in sich zusammensinken. Eine Voodoo-Entmannung, wie böse. Und ist sie nicht durchtrieben, Laura, die Frau des Rittmeisters in Strindbergs Stück von 1887? Während sie ihre siebzehnjährige Tochter Bertha zu Hause zur Künstlerin ausbilden lassen will, beharrt ihr Mann darauf, dass Bertha in die Stadt ziehen und Lehrerin werden soll. Der Vater denkt, er habe das Sagen und hat noch gar nicht begriffen, dass Laura sein Regiment längst unterwandert hat. Um ihren Willen durchzusetzen, streut sie überall Zweifel: daran, ob Bertha überhaupt vom Rittmeister stammt. Und ob ihr in die Forschung flüchtender Gatte noch alle Tassen im Schrank hat.
Strindberg hat diese Manipulatorin als Gegenmodell zu Ibsens wesentlich harmloser ausbrechenden "Nora" geschrieben. Aber Stemann, so ist im Programmheft zu lesen, entdeckt in Strindbergs Stück eine noch größere Emanzipationsgeschichte. Denn indem der Rittmeister zuletzt wegen der ganzen Aufregung einen tödlichen Schlaganfall erleidet, wird das Patriarchat symbolisch völlig ausgelöscht. Zudem bringt Strindberg Lauras Leiden am Unterjocht-Sein deutlich ans Tageslicht. In die Geschlechterverhältnisse ist eine Pathologie eingeschrieben, eine Radikalität der Positionen ohne Aussicht auf einen Kompromiss, was alle krank und verrückt macht.
Es wimmelt an Phallischem
Bei Stemann ist ja eh immer alles irgendwie ver-rückt, eben gar nicht eindeutig, sondern im steten Wechsel zwischen Ironie und Ernst, Schauspielersein und Rollenspiel, wobei sich die Darsteller*innen gerade an diesem Abend wunderbar klar und komisch, manchmal auch nervig in diesem Dazwischen aufhalten. Julia Riedler und Daniel Lommatzsch beginnen, Stemann-typisch, mit den Regieanweisungen: Szene eins kommt jetzt und so weiter. Aber so binär das optisch erstmal wirkt, hier die Frau, da der Mann, beide auf einem Sofa, so bald springen sie zwischen den Rollen, den Geschlechtern hin und her. Lommatzsch markiert eher den fahrigen, unsicheren Spieler, während Riedler deutlich die Hosen in diesem sich immer länger dehnenden Duett-Duell an hat.
Es wimmelt an Phallischem, die Machtpositionen werden demonstrativ umgedreht. Sie steckt ihm erst ein Mikro, später einen Finger in den Mund. Stemann lässt Szenen wiederholt durchspielen: Im Streit ums Finanzielle verteilt Riedler Watschn, Lommatzsch hingegen wirft sie mit Mannsgewalt auf den Boden. So unterschiedlich sieht das je nach Geschlecht aus. Auf giftig gelbgrünem Grund hat Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt ein paar ausfahrbare Stehlampen verteilt. Deren Lampenschirme zeigen trübe nach unten, so, wie manche männliche Lichtgestalt derzeit Kopf und Schwanz hängen lässt. Dabei will die Feministin von heute nichts von Männerbashing wissen. Was nicht immer so war.
Überall gespaltene Ichs
Stemann und Dramaturg Benjamin von Blomberg mixen dem Diskurs Auszüge aus Valerie Solanas "Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer" von 1967 bei, das in dieser Spielzeit auch sonst schon auf mancher Bühne auftauchte. Oder den "Anti-Ödipus", in dem das Duo Deleuze/Guattari Freuds Begriff des Neurotikers durch den des Schizophrenen ersetzte. Stemann inszeniert überall gespaltene Ichs. Benjamin Radjaipour und Zeynep Bozbay streiten sich im Regen flitternder Elementarteilchen mit der Leichtigkeit der Generation XY, werden gemeinsam zur Tochter Bertha, lesen demonstrativ aus dem Buchschatz feministischer Theorie vor. Mit ihrem Wissen über die Konstruiertheit der Geschlechter überfordert die Tochter dann den Daddy. Da spricht das Heute zum Gestern, Judith Butler zu August Strindberg, und Lommatzsch als zerbröckelnder Patriarch tut einem fast leid. Stemann verteilt die Sympathien insgesamt recht gleichmäßig. Seine Musiker Thomas Kürstner und Sebastian Vogel lassen dazu mit Geige, Theremin und Co. ernst klingende Melancholie schweben.
Gegen Ende stehen sich Riedler und Lommatzsch hinter einem durchsichtigen Vorhang gegenüber. Von Feindschaft kann nicht die Rede sein, meint Laura. "Ich bedaure nur, dass wir keine Freunde sein können". Auf dem Vorhang überlagern sich die projizierten Gesichter zu einem vibrierenden Antlitz. Dann ist da Wiebke Puls und vereint meisterlich Laura und den Rittmeister in ihrem Körper, spielt beide im Dialog, ein virtuoses Solo für zwei. Als Kind war der Rittmeister von seinen Eltern nicht gewollt, als Partner, der mit seiner Frau erstmals eine Einheit erlebt, war er deshalb von Grund auf der Unterlegene. Ein Auge von Puls ist dunkel geschminkt, sie selbst legt sich die Zwangsjacke an, die der Vater im Stück von den anderen verpasst bekommt, und geht brabbelnd in den Wahnsinn: Das Patriarchat zwängt beide Geschlechter ein und verpasst ihnen ein blaues Auge. Und es wird immer neue Formen finden.
Bei dieser Drohung belässt Stemann es nicht. Stattdessen gibt er den "Jungs" von Camerata Vocale das letzte religiöse Machtwort. So endet ein sich steigender Abend der gekonnt inszenierten rhythmischen Brüche und changierenden Haltungen. Aber vielleicht träumt Stemann ja ganz romantisch vom Eins-Sein im Menschsein. Weg mit der Schizophrenie, aber wie? Gespalten: die Reaktionen. Jubel für die Darsteller, ein paar Buhs für den Regisseur. So lebendig kann Theater sein.
Der Vater
von August Strindberg
Regie: Nicolas Steman, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Marysol del Castillo, Licht: Charlotte Marr, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Dramaturgie: Benjamin von Blomberg.
Mit: Zeynep Bozbay, Daniel Lommatzsch, Wiebke Puls, Benjamin Radjaipour, Julia Riedler
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
"'Der Vater' ist starker Geschlechterkampf-Tobak – alter Schwede!", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (2.5.2018). Steman hinterlasse mit seiner Abschiedsinszenierung als Hausregisseur der Münchner Kammerspiele "einen turbospaßigen, in Zügen albern-hysterischen, aber auch traurig-poetischen Beitrag zur aktuellen Debatte über Geschlechtergerechtigkeit, neuen Feminismus und neomännliche Gegenwehr". Ein Themenabend, "der mit Stemann-typischem Diskurseifer und genderpolitischer Beflissenheit die Problematik des Stücks herausarbeitet und spielerisch durchdiskutiert", und so die angetane Kritikerin: "Ein Abend, der sich beim Hineinsteigern in die Thematik aber auch steigert. Der besser wird, je weniger besserwisserisch er sich gibt; je mehr er Raum lässt für Aporien und für die Verzweiflung."
"Was August Strindberg einst im frauenfeindlichen Furor schrieb, wird hier nun mit sehr spielerischem Gestus auf seine Relevanz im Hier und Heute abgeklopft", findet Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (30.4.2018). Steman mache den Rollendruck im leise verdämmernden Patriarchat zum Thema, "der bei aller Machtposition auch Männer zu Opfern werden lässt". Mit einem ultimativen Auftritt bestreite Wiebke Puls das fulminantes Finale dieses Abends: "Sie hat den Konflikt gleichsam inkarniert, sie verkörpert die vermeintlich triumphierende Frau und den abdankenden Mann in einem. Und so macht sie bravourös auf der Klaviatur ihrer Nuancen spielend deutlich, wo wir heute – und das letztlich seit Strindbergs Zeiten – noch immer stehen: auf dem Scherbenhaufen eines Kampfes, den keiner gewinnen kann."
"Wer wen spielt, bleibt ziemlich egal", so Robert Braunmüller in der Abendzeitung (1.5.2018). "Und das ist gut so. Schon Strindberg hat bei aller Sympathie für den durch weibliche Niedertracht gestürzten Patriarchen die Macht- und Gewaltmittel dieses Ehekriegs einigermaßen gleich verteilt. Man zerrt – damals wie heute – am gemeinsamen Kind herum und streitet ums Geld." Allerdings löse sich der Geschlechterkampf "ein wenig zu glatt im Allgemein-Menschlich-Psychologischen auf".
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Die Familie hat sich derweilen auf einem Sofa versammelt und ihren Frieden gefunden. Die Tochter sei tatsächlich ihr gemeinsames Kind und alle Zweifel des Vaters unbegründet, versichert die Mutter. Zuletzt noch einmal lautstark der Chor der Camerata Vocale München auf dem Balkon in Holzfällerhemden. Alle Schauspieler verlassen angesichts des „männlichen“ machtvollen Auftretens irritiert blickend die Bühne.
Eine tolle Inszenierung mit hohem Anregungsgehalt für lange Gespräche im „Blauen Haus“. Sehr sehenswert.
Der Patriarch der Familie fällt in sich zusammen, bis Daniel Lommatzsch nur noch ein Häufchen Elend im Schlafrock ist. Dumpfes Macho-Gehabe wird karikiert, Benjamin Radjaipour schließt eine Mario Barth-Parodie mit Frank Castorfs Alt-Herren-Provokationen über Frauen-Fußball kurz, die er in seinem SZ-Interview im Sommer 2018, also erst einige Monate nach der Premiere, von sich gab.
Der Schluss gehört Wiebke Puls: in ihrem Solo spricht sie die Texte beider Ehepartner, bäumt sich zu einem letzten sinnlosen Wutanfall auf und liegt am Ende in der Zwangsjacke am Boden. Von den Balkonen hat der Camerata Vocale München-Chor einen letzten Auftritt. In ihren Holzfällerhemden und mit langen Bärten mischten sie schon davor, als der Patriarch noch Oberwasser zu haben schien, mit bierseligen „Olé, wir fahren in den Puff nach Barcelona“-Gröl-Gesängen die Szene auf. Mit einem vielstimmigen ironischen „Amen“ besiegeln sie nun den Untergang des Familienvaters, das entkräftet und gescheitert am Boden liegt.
Die Dauerironie des Abends nervt zuweilen, erst in der zweiten Hälfte wird „Der Vater“ stärker und interessanter. Das Konzept, den mehr als ein Jahrhundert alten Stoff auf aktuelle Diskurs- und Theorie-Schnipsel prallen zu lassen, geht nur zum Teil auf.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/03/der-vater-munchner-kammerspiele-theater-kritik/