Es duftet nach Rosen

24. März 2024. Verschwörungstheorien gab's auch gestern schon: In ihrer Kurzgeschichte erzählt Shirley Jackson von einer Verfasserin anonymer Briefe, die eine Kleinstadtidylle vergiften. Marie Schleef macht daraus eindrückliches Bildertheater in Zeitlupe.

Von Leonard Freitag

"Die Möglichkeit des Bösen" an den Münchner Kammerspielen © Gabriela Neeb

24. März 2024. Adela Strangeworth strahlt vor Würde und Anstand. Die makellose Welt, in der die alte Dame lebt, ist die frisch gemähte US-Kleinstadt der 1950er und -60er Jahre voller Sonnenschein und affektiertem Lachen. Man hat Jim Carrey in der "Truman Show" vor Augen, wenn Strangeworth noch zu Beginn des Stücks ihre Zeitung ins Haus holt und dabei für einen tiefen, wohligen Atemzug innehält: Ist das herrlich alles! Ihr dunkles Geheimnis kündigt sich in ihrer überaus großen Neugier an. Was sie nicht weiß, vermutet sie. Mittels anonymer Briefe sät sie Misstrauen und Zwietracht. Ist der Arzt, der eine Nachbarin operieren soll, wirklich kompetent? "Poison-pen-letters" nennt man das im englischsprachigen Raum.

Der Ur-Troll?

Autorin Shirley Jackson ist in diesem Sprachraum Schullektüre geworden und gilt als eine der einflussreichsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Ihre postum veröffentlichte Kurzgeschichte "The Possibility of Evil", die 1966 mit dem Edgar Allen Poe Award ausgezeichnet wurde, inszeniert Marie Schleef an den Münchner Kammerspielen als Kommentar auf die heute undeutlicher werdende Trennung von Wahrheit und Meinung.

Dafür hat sie den Text auf wenige Sätze heruntergebrochen. Die Zwischenräume überlässt sie der Bühne, für die sie Assoziationen zu ähnlichen Nachkriegs-Kleinstadt-Idyllen und Überwachungsmotiven aufruft: Greta Gerwigs "Barbie"-Film, die Augsburger Puppenkiste, George Orwells "1984". Es dürfte kein Zufall sein, dass die Hauptfigur verdächtige Ähnlichkeit zur makellosen, auf Zucht und Ordnung bedachten und dabei so hinterhältigen Dolores Umbridge aus dem Harry-Potter-Universum aufweist.

Die Moeglichkeit des Boesen 01 1200 Gabriela Neeb uAlptraum in Pink: Anna Gesa-Raija Lappe, Johanna Eiworth © Gabriela Neeb

Wie unschuldig Strangeworth' Warnhinweise gemeint sind, zeigt ihr diabolisches Lachen und die manisch gekrümmte Haltung über dem Schreibtisch, während sie ihre heimlichen Briefe schreibt. Es ist nicht schwer, sie sich über einen Laptop gebeugt vorzustellen, wie sie auf X (ehemals Twitter) unter falschem Accountnamen ihr Unwesen treibt und Verschwörungstheorien in die Öffentlichkeit haut. Ob die Trolle dort auch so ausgezeichnet finster lachen können wie Johanna Eiworth? Falls nicht, sollten sie sich das unbedingt abschauen.

Entschleunigung und ihre Möglichkeiten

Dieses Lachen ist übrigens einer der wenigen menschlichen Laute, die man während des gesamten Stückes hört. Gesprochen wird nicht. Mal dringt ein Keuchen oder ein lautes Aufatmen zwischen dem synthetisierten Vogelgezwitscher von Sounddesigner Jan Godde an die Ohren. Worte liest man nur als Übertitel auf der Bühne, wo lediglich die nötigsten erzählerischen Informationen eingeblendet werden. Der Rest ergibt sich aus dem detailreichen, präzisen Spiel des Ensembles.

Durch die extreme Verlangsamung gibt es hier viel Raum für sonst fast unmerkliche Signale durch Blicke und winzige Bewegungen, deren Bedeutung wächst, je langsamer und stiller es ist. Ein über mehrere Sekunden ausgedehntes Zögern in der Bewegung könnte nur ein Zögern sein. Oder ein Hinweis darauf, dass Strangeworth gerade enttarnt wurde. Wenn sich die Mutter mit ihrem Kinderwagen (Anna Gesa-Raija Lappe) dazu entscheidet, der alten Frau zu winken und sich in der gleichen Bewegung durch die blond toupierten Haare streicht – ist das eine Botschaft? Oder wenn Linda Stewart (Edith Saldanha) schluchzend aus dem Haus kommt mit dem Harris-Jungen (Frangiskos Kakoulakis) – sind die beiden dann ein zerstrittenes Liebespaar, wie es Strangeworth vermutet? Natürlich lädt das zu Spekulationen ein.

In der Puppen-Welt

Diese ungewöhnlich langsame und leise Form des Spiels, die dem Abend ein eigenes Tempo verleiht, ohne je langweilig zu werden, kontrastiert mit Ji Hyung Nams kreischend pinkem und neongrünem Bühnenbild. Strangeworths Schreibtisch ist fest an einer Aufklappwand des stilisierten Hauses befestigt, das das Zentrum der Bühne einnimmt. Auf der anderen Klappwand gegenüber – beide ergeben zusammen ein Tor – klebt die Spüle der alten Dame. In seiner absurden Mischung aus 2D- und 3D-Elementen erinnert das an Barbies Dreamhouse.

Die Moeglichkeit des Boesen 03 1200 Gabriela Neeb uWer hat hier wen im Blick? Johanna Eiworth, Edith Saldanha © Gabriela Neeb

Zur Puppen-Ästhetik passt auch der Postbote (Walter Hess), der aussieht, als sei er gerade aus dem Lummerland ausgebrochen. Schmunzelnd schaut man ihm dabei zu, wie er sich zu Beginn vergnügt pfeifend Zentimeter für Zentimeter über die Bühne schiebt, um eine Zeitung auf den angedeuteten Rasen vor Strangeworths Haus zu legen. Am Ende trägt er erneut die Zeitung aus. Mit dabei: ein Brief, pink wie jene Briefe, die Strangeworth selbst schreibt, als Zeichen dafür, dass ihre Machenschaften aufgeflogen sind. Das hatte sich bereits zuvor angedeutet, nachdem das Auge in der riesigen Rose über der Bühne sich zu dröhnend wabernden Sounds geöffnet hatte. Und plötzlich riecht es nach Rosen.

 

Die Möglichkeit des Bösen
nach einer Kurzgeschichte von Shirley Jackson
Übersetzung von Martin Ruf
Regie: Marie Schleef, Bühne: Ji Hyung Nam, Kostüme: Teresa Vergho, Sound & Musik: Jan Godde, Video: Lillian Canright, Media-Operator/Übertitelung: Ruben Müller, Künstlerische Beratung Hannah Schünemann, Dramaturgie Olivia Ebert.
Mit: Johanna Eiworth, Walter Hess, Frangiskos Kakoulakis, Anna Gesa-Raija Lappe, Edith Saldanha, Statist*in: Jolanda Pusch, Martha Kamenisch, Jakob Waldow; Im Video: Stefan Merki, Leoni Schulz, Katze Lilli.
Premiere am 23. März 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Marie Schleef erschaffe in Zusammenarbeit mit Bühnenbildnerin Ji Hyung Nam "den langsamsten und zugleich kurzweiligsten Theaterabend, den man sich vorstellen kann", heißt es im Donaukurier (25.3.2024) über "einen auf allen Ebenen hervorragenden Theaterabend". "Jede kleine Bewegung erlangt Bedeutung, wird zum Erlebnis. Das wird nur möglich durch die extreme Körperbeherrschung und Konzentration der Schauspielerinnen und Schauspieler. Durch die Bank auf den Punkt besetzt!"

"Die Regisseurin Marie Schleef schafft mit diesem knapp 90-minütigen Abend etwas, das gleichzeitig Reizüberflutung und Stillstand ist, das beinahe alle Sinne triggert", schreibt Anne Fritsch von der Süddeutschen Zeitung (24.3.2024). "Sie erzählt nicht nach, sondern übersetzt die Atmosphäre der Geschichte in Bewegung, Ton und Geruch. Auch wenn sich ihre Spielereien stellenweise in enervierender Wiederholung immer gleicher Details verlieren: Am Ende ist die Halle erfüllt mit einer Atmosphäre von Grusel."

Der vermeintlich sozialkritische Plot verströme den gleichen betulichen Mief wie die 50er-Jahre-Welt, die er skizziere. "Und leider gilt Ähnliches teilweise für das berühmt-berüchtigte Zeitlupentheater von Marie Schleef, die den Text ausgegraben und inszeniert hat", so Alexander Altmann vom Münchner Merkur (26.3.2024). "Insgesamt will dieser Verfremdungseffekt nie so richtig zünden – schon gar nicht im Vergleich zu Arbeiten der deutschen Regisseurin Susanne Kennedy, die hier erkennbar als Vorbild fungiert."

"Die Möglichkeit des Bösen" ist "so konsequent wie bestechend", schreibt Sabine Leucht in der taz (8.4.2024). Alles sei minutiös durchchoreografiert bis hin zum Zücken des Schweißtuches. "Ein unheimlicher Soundtrack voller Wetter-, Atem- und schabender Schreibgeräusche und einige spektakuläre Transformationen von ­Eiworths Rosenkleidern (Kostüme: Teresa Vergho) machen den latenten Grusel komplett und kreieren eine erhebliche Spannung, obwohl höchstens ein Dutzend Wörter gesprochen werden." Nur die Geschichte halte nicht ganz, was diese Spannung verspreche.

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