Ein irrealer Betrugsfall

20. November 2023. Autorin Anka Herbut und Regisseur Łukasz Twarkowski mischen in München ein Recherchestück über den Wirecard-Betrug mit grandioser Videoarbeit und einer Rahmenhandlung, die mit virtuellen Realitäten und Fassbinder-Zitaten jongliert.

Von Martin Jost

"WoW – Word on Wirecard" an den Münchner Kammerspielen © Gabriela Neeb

20. November 2023. 1964 schrieb Daniel F. Galouye den Science-Fiction-Roman "Simulacron-3" über eine Computersimulation, die eine komplette Stadt abbildet. Die Schöpfer der Simulation können nicht nur ihr Bewusstsein in die Simulation laden und die Illusion einer völlig echten Welt erleben, die simulierten Figuren im Computer besitzen ein je eigenes Bewusstsein und ahnen nicht, dass sie keine echten Menschen sind. Galouye schrieb über virtuelle Realität und künstliche Intelligenz, bevor das Wort "Computer" seine heutige Bedeutung hatte.

So verrückt, als wäre sie erfunden

1973 hat Rainer Werner Fassbinder "Simulacron-3" unter dem Titel "Welt am Draht" verfilmt. Wie in der Vorlage streiten sich in dem TV-Zweiteiler die Wissenschaftler und die Investoren darum, ob die Computersimulation für reine Wissenschaft oder für geldwerte Marktforschung genutzt werden soll. In Anka Herbuts Stück "WoW – Word on Wirecard", das als Auftragswerk für die Münchner Kammerspiele entstand, simuliert das "Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung" eine virtuelle Firma namens Wirecard mitsamt 5.800 Angestellten und den Vorstandsmitgliedern Dr. Markus Braun (Stefan Merki) und Jan Marsalek (Martin Weigel).

Und die Wirecard-Geschichte ist ja wirklich so verrückt, als wäre sie zu gut erfunden. Wir erleben die letzten Stunden vor der Insolvenz des Zahlungsdienstleisters, der seinen Hauptsitz vor den Toren Münchens hatte. Wirecard war an der Börse zeitweise höher bewertet als die Deutsche Bank, dabei hat die Firma jahrelang wohl mehr erfundenes Geld bewegt als echtes.

Auf Fabien Lédés Bühne in der Therese-Giese-Halle agiert Wirecard in piefigen Großraumbüros, hinter deren Holzvertäfelung man Asbest erwartet. Während das Publikum seine Plätze einnimmt und einem Podcast über Wirecard lauschen darf, wird im Büro schon gearbeitet – oder vielmehr geratscht. Denn Wirecard ist drei Tage vom Zusammenbruch entfernt und die Angestellten machen sich so ihre Gedanken, wie es mit der Firma und mit ihren Arbeitsplätzen weitergeht.

Ohrenbetäubend, kinoreif

Einer der Mitarbeiter ist nicht von hier: Hal Stiller (Elias Krischke) ist einer der Schöpfer der Simulation und kann nach Belieben in die reale Welt zurückkehren. Das passiert mit einem Knall, worauf Stiller sich, etwas benommen, in der eigenen Realität wiederfindet. Die sieht eigentlich genau so aus wie die künstliche. Kulissen und Gesichter sind dieselben, denn das Kybernetik-Institut hat seine "Wirecard"-Simulation als Ebenbild der eigenen Firma angelegt.

Neben dem Großraumbüro, das das Zentrum der Bühne bildet, sehen wir durch Glasscheiben in abgetrennte weitere Räume. Durch einen Fahrstuhl geht es in einen Flur, der für uns nicht direkt einsehbar ist. Über der Bühne befindet sich eine Videowand, genau so hoch und vor allem so breit wie der bespielte Raum darunter. Zwei Kamerafrauen (Johanna Seggelke und Paula Tschira) produzieren laufend Live-Bilder und viele Szenen aus den uneinsehbaren Teilen der Bühne können wir überhaupt nur im Video sehen. Fast immer sind alle elf Darsteller:innen präsent und unsere Augen wandern ständig zwischen gleichzeitigem Geschehen umher.

WOW 2 Gabriela NeebNerdige Typen: Sebastian Brandes, Stefan Merki, Daniel Wagner © Gabriela Neeb

Regisseur Łukasz Twarkowski, der in München zuletzt den immersiven Abend Respublika zeigte, findet kinoreife Bilder in der Verbindung aus Schauspiel, Live-Video, Licht (Maximilian Kraußmüller) und der elektronischen Musik von Lubomir Grzelak. Der Soundtrack ist ohrenbetäubend, lässt den Boden beben (Gehörschutz gibt es kostenlos am Einlass) und hätte auch der "Matrix"-Trilogie gut gestanden.

Simulation in der Simulation

In der Realität – dem Kybernetik-Institut – widerfahren Hal Stiller merkwürdige Dinge. Die Tochter seines ehemaligen Chefs (Alina Sokhna M’baye) taucht auf und glaubt nicht an seinen Unfalltod. Die Sicherheitschefin des Instituts, Carrie Lynch (Annette Paulmann), verschwindet mitten in einer Unterhaltung mit Hal, und zwar auch aus der Erinnerung aller anderen Figuren und sogar von Fotos. Markus Braun kann kurzfristig aus der Wirecard-Simulation entkommen, indem er den Geist eines Hiesigen kapert. Doch Braun wähnt sich noch nicht am Ziel, denn diese "Realität" sei bloß eine weitere Simulation, die in einem höheren Computer läuft.

Anka Herbut fügt gegenüber der Vorlage noch eine Metaebene ein: Beim Dreh des Fernsehfilms "Welt am Draht" stellt ein TV-Funktionär die Produktion infrage, weil der Film völlig unverständlich sei. Diese zusätzliche Rahmenhandlung hat für das Stück aber keine Konsequenz.

Übrigens auch nicht für die Verständlichkeit des Plots von "WoW". Wichtige Wendungen wie Lynchs Verschwinden oder Brauns Ausbruch aus der Simulation gehen im Gebrabbel über dem dauerpräsenten Musikbett unter. Stiller, der Held der Erzählung, ist eine recht passive Figur. Elias Krischke spielt ihn als grüblerischen jungen Mann und nicht als kybernetische Koryphäe, die gerade ein weltbewegendes Forschungsprojekt geerbt hat.

Passiert da noch was?

Nach der Pause, in der das Publikum auf die Bühne eingeladen wird und an den Schreibtischen der Figuren Platz nehmen kann, verlieren wir auch noch die Orientierung über die aktuelle Örtlichkeit und Erzählebene. Stillers Suche nach der Realität wird nicht zu Ende erzählt. Die damit verbundenen philosophischen Fragen interessieren das Stück nicht weiter.

WOW 3 Gabriela NeebWas ist real, was Simulation? © Gabriela Neeb

Oder sie werden nur noch symbolisch behandelt. Wir sehen mehrere in Zeitlupe bewegte Figuren-Dioramen ohne Dialog (Choreografie: Paweł Sakowicz), dafür mit wuchtiger Musik und Live-Video, gemischt mit vorproduzierten Filmsequenzen. Wir genießen die kongeniale Ästhetik und fragen uns nach einer Weile: Schön, aber passiert auch noch was?

Die "Wirecard"-Ebene ist die am stärksten ausgearbeitete im Text. Unter anderem erläutert uns die aktivistische Spekulantin Fahmi Quadir (Alina Sokhna M’baye), wie Shortseller Wirecard in die Knie gezwungen haben. Das Programmheft dankt einem anonymen ehemaligen Wirecard-Mitarbeiter, der wohl für die Authentizität der Szenen aus den letzten Stunden des Unternehmens 2020 bürgt. Im Kern ist "WoW – Word on Wirecard" ein Recherchestück über den Wirecard-Skandal, eingebettet in fulminante Musikvideos und in eine Rahmenhandlung, die durch grobe Verkürzung leider völlig unverständlich bleibt.

 

WoW – Word on Wirecard
von Anka Herbut
Regie: Łukasz Twarkowski, Bühne: Fabien Lédé, Kostüme: Svenja Gassen, Musik: Lubomir Grzelak, Live-Kamera: Johanna Seggelke, Paula Tschira, Videodesign: Jakub Lech, Dramaturgie: Anka Herbut, Caroline Schlockwerder, Choreografie: Paweł Sakowicz.
Mit: Sebastian Brandes, Tanya Kargaeva, Elias Krischke, Anna Gesa-Raija Lappe, Alina Sokhna M‘Baye, Stefan Merki, Annette Paulmann, Leoni Schulz, Daniel Wagner, Walter Hess, Martin Weigel.
Premiere am 19. November 2023
Dauer: 3 Stunden, 1 Pause

muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Der Finanzskandal um Wirecard sei nur das Sprungbrett, von dem die Inszenierung abheben wolle in die Welt der Simulation und Simulacren, so Sven Ricklefs im Bayerischen Rundfunk (20.11.2023). "Und damit wird es kompliziert": die Figuren aus Fassbinders Film und Galouyes Buch. Man müsse "ein wahrer Cineast und Fassbinderkenner sein, um sich noch durchzufinden durch das Figurenarsenal und durch das Spiel auf den verschiedensten Ebenen, das Łukasz Twarkowski … in der Zeitlupenchoreografie und im Hardcoresound und damit in einer virtuosen Überwältigungsästhetik anrichtet". Sichtlich selbstverliebt genüge diese Ästhetik sich selbst, der Erkenntnisgewinn bleibt Ricklefs zufolge gering.

"Alles groß, alles auch irgendwie toll", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (20.11.2023). Es gäbe "eine Fülle schauspielerischer Preziosen" zu bewundern und wo "WoW" Theater werde, "wird es wow". Doch der Abend bleibe "die Simulation einer Teilnahme", die "Simulation eines Theaterabends". All die Mittel könnten "nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Abend keineswegs reich an Ereignissen ist, solchen intellektueller Art schon gar nicht", so der Kritiker.

Mathias Hejny von der Abendzeitung (20.11.2023) schreibt: "Twarkowskis Überwältigung durch tönende Bilder verführt dazu, die vielen offenen Enden der multipel verschachtelten Geschichten auf den unterschiedlichen Ebenen von Zeiten und Räumen, die nach drei Stunden noch immer herumliegen, zu akzeptieren. Wer bereit ist, das Spiel mitzuspielen, erlebt ein seltenes Theaterabenteuer in einer Zukunft der virtuellen Welten ohne zuverlässige Orientierung, die schon begonnen hat."

Der Abend setze nicht alles auf die Karte Wirecard, sondern sei auch eine saftige Retro-Show im Stil der Siebzigerjahre, so Andreas Altmann im Münchner Merkur (21.11.2023). Das Idyll währt aber nicht lange, die Soundkulisse wechsle auf volle Dröhnung. Die anstrengende Multimedia-Performance habe dem Titel zum Trotz nur zum Teil zu tun mit dem Wirecard-Skandal. "Wow" erzähle stattdessen wie 1973 ein Film gedreht werde über ein fiktives Forschungsinstitut, das die Zukunft erkunden wolle. Innerhalb der Simulation ereigne sich der Crash.  

 

Kommentare  
WoW Wirecard, München: Simulacron-3 / Welt am Draht
Es gibt die Simulationshypothese gemäß Nick Bostrom, der Bezug ist der Roman Simulacron-3 aus dem Jahr 1964 von Daniel F. Galouye. Daniel F. Galouye wiederum bezog sich auf Überlieferungen aus der Antike, beispielsweise Platons Höhlengleichnis ->

https://info-allerlei.de/welt-am-draht.php
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