Am Wiesnrand - Münchner Volkstheater
Kuscheln auf Bierbauch
von Sabine Leucht
München, 30. Januar 2020. Stefanie Sargnagel liebt den Grind. Dazu passt ein Parasit wie der Floh prächtig. Und auch eine Massenveranstaltung wie das Oktoberfest: die "Wiesn", wie die Bayern sagen. Dass es dort neben Bierzelten, Fahrgeschäften und dem berüchtigten Kotzhügel auch einen Flohzirkus gibt, mag einer der Gründe dafür sein, dass das erste Theaterstück der Wiener Autorin von Schauspieler*innen in Flohkostümen gespielt wird. Im Münchner Volkstheater purzeln, stehen, liegen und hüpfen Jan Meeno Jürgens, Jonathan Müller, Henriette Nagel, Pola Jane O'Mara und Nina Steils mit dünnen Beinen unter bucklig-ausladendem Lagenlook auf einem gigantischen nackten Bierbauch herum. Ein toller Bauch ist das, der von Kopf und Extremitäten befreit auf dem Rücken liegt und unter der Brust noch einmal mächtig gen Bühnenhimmel hin Fahrt aufnimmt. Liebevolle Hände haben das raumfüllende Trumm unter Anleitung der Bühnenbildnerin Sarah Sassen mit Pigmentflecken und einzelnen schwarzen Haarbüscheln geschmückt. Wenn man zwischen ihnen auf dem Höhepunkt des Bauches steht, hat man gemalte Bergesgipfel etwa auf Kopfhöhe hinter sich. Dieser Kotzhügel für Menschenflöhe ragt also praktisch bis in die Alpen. Und da gehört er auch hin an diesem durch und durch alpenländischen Abend.
Süffiger Wort-Strudel
Das Triumvirat von Bauch, Berg und Bier ist aber längst nicht alles, was einer Österreicherin zu Bayern einfällt. Das literarische Resumée von Sargnagels mehrtägigem Wiesn-Selbstversuch ist ein bissiges, funkelndes, ins Surreale schwappendes und dennoch maximal menschenfreundliches Pointen-Destillat, das alles ohnehin schon Groteske aufspießt und übersteigert. Der Text watet lustvoll durch diverse Körpersäfte und rassistisch-sexistische Abgründe, sein Erzähler-Ich ist "auf dem größten Fleischmarkt der Welt" auf "Traumprinz"-Suche, erst nüchtern "die lasch getrunkenen Körper" bestaunend, dann mitten drin. Es fällt schwer, etwas herauszugreifen aus diesem süffigen Wort-Strudel, in dem Ochsen Hüte aus Hasenhaar filzen, Menschen an den Zöpfen zu einem gigantischen "Rattenkönig" zusammengeflochten werden und der sich immer wieder an einer Typologie des Bayerischen versucht : "Es sind die drallsten, deutschsprachigen Stämme vereint zu einem Pfropfen, der jeden geistigen Fluss luftdicht verschließt und einen vor krankmachender Grübelei bewahrt. Sie sind wie Tiroler mit weniger Haargel ..." Ach, es geht noch ewig weiter.
Der Text ist toll, scharfsichtig und barock. Aber ein Theatertext ist es nicht. Die Wiener Regisseurin Christina Tscharyiski, die "Am Wiesnrand" im Volkstheater inszeniert, hat allerdings schon Erfahrung mit Sargnagel-Texten. Ihre 2017 am Rabenhoftheater Wien entstandene Collage "Ja, eh! Beisl, Bier und Bachmannpreis" war ein großartig rhythmisiertes Lamento einer schonungslos-selbstmitleidigen Generation, das beim Münchner Radikal jung-Festival den Publikumspreis gewann. "Am Wiesnrand" bietet sich als nächster Kandidat dafür an.
Exakt getimeter Wahnsinn
Zwar bleibt man als Zuschauer hier weiter draußen, fühlt sich weniger gemeint. Aber der Abend macht auch von der Randperspektive aus mächtig Spaß. Vor allem deshalb, weil sich das junge Münchner Ensemble mit liebevollem Furor und vollem Körpereinsatz auf einen Text stürzt, der gewiss nicht leicht zu sprechen – und dem noch schwerer szenisches Leben einzuhauchen ist. Doch es gelingt – als grandiose Teamarbeit. Die fünf Schauspieler*Innen werfen sich mit Lust in diesen Sprachfluss, teilen sich die Worte der Ich-Erzählerin, reichen sie einander weiter und greifen genau die richtigen Sätze heraus, um sie chorisch zu sprechen – mal fragend, mal triumphierend oder hysterisch, mal als kleine Dialektstudie in Bayerisch-Österreichisch-Gemisch, mal auch merksatznüchtern.
Sie begrüßen den Morgen mit Gymnastik und klammern sich mit heraushängenden Zungen aneinander oder sitzen still an einem nicht vorhandenen Lagerfeuer und erzählen einander Geschichten: Von der Frau, die den Händl-Hut auf dem Kopf eines Mannes für die Lösung ihres Hungerproblems hielt und dann das Hirn ... Ach. Nach dem Besuch des Flohzirkus' kratzen sich alle kollektiv und höchst individuell an den Gliedmaßen und schubbern sich am Bühnenbauch. Irgendwann fallen die Flohkostüme, man trägt Lebkuchenherz-, Zuckerwatte- oder Apfelkopf (Kostüme: Svenja Gassen). Der exakt getimte Wahnsinn geht weiter.
Dämmerung mit Dungaroma
Musikalische Einlagen sind zwingend für Tscharyiskis Arbeiten: Diesmal hat sie die Wiener Spaß-Kombo Euroteuro mit ins Boot geholt und enger als ihre Vorgänger ins Bühnengeschehen eingebunden. Deren Elektro-Sound, der mal schlagerseicht und mal mehr nach DAFs "Mussolini" klingt, passt zum Thema Oktoberfest, aber dass die Songtexte irgendwann die Sprechpartitur doppeln, nervt. Egal, denn das Schlussbild versöhnt mit etwaigen Schwächen des Abends. Darin sitzt die ganze Crew auf dem Bauchberg und schildert versonnen eine grässlich schöne Traumprinzen-Dämmerung. Mit Flohbeteiligung, versteht sich. Dabei duftet es – man meint es fast zu riechen – "angenehm nach Dung".
Am Wiesnrand
von Stefanie Sargnagel
Uraufführung
Regie: Christina Tscharyiski, Bühne: Sarah Sassen, Kostüme: Svenja Gassen, Live-Musik: EUROTEURO, Dramaturgie: Rose Reiter.
Mit: Jan Meeno Jürgens, Jonathan Müller, Henriette Nagel, Pola Jane O´Mara, Nina Steils.
Premiere am 30. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
"Sargnagels Text ist ein stellenweise brillant überhöhter, aber nie überlegen distanzierter Erlebnisbericht in Ich-Form", ein Text, der immer wieder "die Steilkurve in einen herrlichen Irrsinn" finde. Das schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.2.2020). Christina Tscharyiski inszeniere ihn "mit stupender Rasanz, die bestens hilft, über manch plumpe Passage hinwegzutragen".
Eine "Fetzengaudi, die auch wehtut", hat Margarete Affenzeller vom Standard (online 31.1.2020) in München erlebt. Sargnagels Text sei "dort am besten, wo er über die Elendsabbildung der geschlauchten Festopfer hinausführt und entlang einer Steigerungsdramaturgie ins Phantasmagorische weiterdenkt". Regisseurin Tscharyiski habe den "Monolog mit dem Flohzirkus-Kniff mit Gewinn aufgespannt". Gelegentlich wirke der Abend "wie die zünftige Version einer Jelinek-Inszenierung von Stefan Bachmann".
Für den Südwestdeutschen Rundfunk SWR 2 (31.1.2020) und für den Bayerischen Rundfunk BR 24 (31.1.2020) berichtet Christoph Leibold: "In saftiger Sprache" beschreibe Sargnagel "dröhnenden Frohsinn aus Fressen, Saufen, Rülpsen, Grapschen, Schnackseln und Urinieren." Christina Tscharyiski inszeniere "grandios eine groteske Gaudi mit Gespür fürs Grindige und Grausliche". Erst ab der Hälfte beginnt der Kritiker, sich "nach einer gehaltvollen Unterlage zu sehnen". Fazit: "Man verlässt das Theater angenehm angeheitert, aber keineswegs restlos berauscht."
Sargnagels Text ist "der tosende Sprachsturzbach eines Erzähler-Ichs, das niemals auch nur einen Moment lang aufhört zu beobachten und um keine spitzzüngige Pointe verlegen ist. Und die treffen einen direkt in die politisch-korrekte Magengrube", schreibt Anna Landefeld in der Abendzeitung (online 31.1.2020). Allerdings: "eine poetische Assoziationskette in Gonzo-Twitter-Manier über einen dreitägigen Wiesn-Besuch macht noch keinen Theatertext". Der als "bravourös" eingestuften Regie von Christina Tscharyiski sei es "zu verdanken, dass dieser teilweise ins Selbstumkreisende abdriftende literarische Selbstversuch nicht zerfasert".
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Zweiter Einwand zur Musik: Die Kompositionen sind schlichtweg belanglos, weder Band (zu leise, kein Bumms) noch Gesang (hier hapert es an der Verständlichkeit, kennt man ja aus der Oper) hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Und da sich dieses ganze Arrangement ja als trashiger Meta-Kommentar zur Wiesn-Kultur versteht, muss man leider sagen: Da ist jede Mickie-Krause-Nummer besser gemacht.