Animal Farm - Volkstheater München
Aufstieg und Fall des Kollektivs am Kuhstall
13. Februar 2022. Am Münchner Volkstheater adaptiert Sapir Heller George Orwells Fabel "Farm der Tiere". Menschen spielen Tiere, die sich aus der Knechtschaft der Menschen befreien. Der Star des Abends ist kein Zweibeiner.
Von Martin Jost
13. Februar 2022. Ganz am Anfang kommt ein Hund auf die Bühne, ein echter, das müssen wir noch einmal sagen, damit es nicht mit einem Schulterzucken abgetan wird. Immerhin reden wir über eine Parabel, in der alle Figuren Tiere sind: Ein richtiger, leibhaftiger Hund kommt also auf die Bühne gelaufen, er hat eine Schulausgabe von "Farm der Tiere" im Maul und hockt sich an den Rand der Rampe. Dann spricht der Hund. Wir hören Philipp Lind als Stimme ex machina. So spontan und so synchron, dass das Hecheln und Schnüffeln und Schmatzen des Hundes völlig zum Gesagten passen. Der Monolog des Hundes mischt etwas Entstehungsgeschichte zu George Orwells kurzer Romanvorlage. Das Solo wird mit Applaus belohnt, und wir denken: Hoffentlich kommt der niedliche Hund später noch mal.
Revolution auf dem Bauernhof
Jetzt treten die anderen Tiere auf: Schauspieler:innen mit Schweinsnasen, Hörnern oder Hühnerschnäbeln, geschminkt und gefiedert beziehungsweise mit Eutern am Bauch (Bühne und Kostüme: Anna van Leen). Alle haben sich einen Spezies-typischen Habitus und kleine Gesten zugelegt. Die Pferde reiben ihre Hälse aneinander, Henne Rieke (Henriette Nagel) ruckt mit dem Hals und behält die Hände auf dem Rücken, Kuh Marie (Maral Keshavarz) ist meistens am Kauen.
Das rollbare Klettergerüst auf der ansonsten schwarzen Bühne ist in der ersten Szene die Scheune, in der Eber Old Major die Tiere der Farm mit einer Rede zur Revolte gegen die Knechtschaft der Menschen inspiriert. Später wird es in drei Teile zerlegt und noch als Stall, als Windmühle und als der Laster des Abdeckers dienen. Immer, wenn es für die Tiere etwas hart zu arbeiten gibt, schieben sie keuchend das Gerüst im Kreis an. Sie klettern auch viel darauf herum, was an sich schon mitunter halsbrecherisch wirkt. Und dann noch dieses Schuhwerk! Alle Tiere haben High Heels an, nur die Schweine tragen Plateausandalen.
Eine Allegorie auf … ja was?
Für die Vertreibung von Bauer Jones und seinen Leuten und seinen späteren Versuch, die Farm in der "Schlacht am Kuhstall" zurückzuerobern, taucht Regisseurin Sapir Heller die Bühne in feuerrotes Licht und lässt elektronische Bässe dröhnen (Musik: Ralph Heidel). Menschliche Figuren bleiben ganz unsichtbar. Das Stück hält sich im Großen und Ganzen an die Szenen aus Orwells Romanvorlage (Dramaturgie: Leon Frisch).
Für die Schweine, die immer mehr widerliche Gewohnheiten der Menschen annehmen, findet die Inszenierung, die mit sehr wenigen Requisiten auskommt, ein eigenes Bild: Tyrannenschwein Napoleon (Anne Stein) klettert auf das einst große, starke, nun kaputtgearbeitete Pferd Boxer (geschmeidig: Jan Meeno Jürgens) und reitet ihn zum Schlächter. Napoleon hat auch seinen Kontrahenten Schneeball (Steffen Link) vom Hof gejagt – anders als im Buch mit zwei Raben anstatt Hunden. Für Schauspieler:innen hat das Stück keine Hunderollen. Dafür kommt der Hund in der Mitte des Stücks noch einmal auf die Bühne und rafft mit seiner Erzählung etwas die Zeit.
Orwell hat "Animal Farm" ausdrücklich als Gleichnis auf die russische Revolution bis zur Stalindiktatur geschrieben. Alle Tiere und Ereignisse lassen sich historischen Persönlichkeiten und Geschehnissen zuordnen. Doch das Buch ist auch ohne jedes Wissen über diese konkreten Bezüge als allgemeingültige Warnung vor der Ausbreitung von totalitärer Herrschaft lesbar. Freidrehende Populisten und radikalisierte Rechte überall auf der Welt böten sich als aktuelle Referenz an. Doch "Animal Farm" im Münchner Volkstheater bleibt eigenartig steril. Es ist, als wollte man einfach nur eine Tiergeschichte um der Tiergeschichte willen erzählen.
Ein echter Showstopper
Natürlich könnten die Zuschauer:innen die Aktualisierung des Sujets in ihrem eigenen Kopf vornehmen. Aber wie das Stück so gar keine fruchtbaren Anspielungen sät, das erinnert auch an die Haltung von Arbeitspferd Boxer und den Schafen, die die ständigen Abstimmungen und Mehrheitsbeschlüsse leid sind: "Ich dachte, wir sind jetzt ein Kollektiv? Das Kollektiv trägt doch die Verantwortung, nicht ich!"
Ein drittes Mail kommt der goldige Hund auf die Bühne und stoppt endgültig die Show. Er streitet sich mit dem alten Esel Benjamin über das Revolutions-Narrativ. Eingangs war er Orwell-Biograph, zwischendurch Erzähler und nun … ereifert er sich und legt sich mit Figuren an? Um sich gegen den Esel durchzusetzen, tritt Philipp Lind persönlich von der Seite auf. Jakob Immervoll als Benjamin nimmt den Hund im Wortsinne an die kurze Leine und verzieht sich in den Hintergrund.
Lind bleibt vorn und spricht mit uns, immer noch per Mikrofon, aber nicht länger als Stimme des Hundes. Oder? Was ist das für eine Figur? Sein Kostüm ist ein Frack, die Haare triefen vor Pomade, er hat einen Clark-Gable-Bart. Nachdem er Benjamin effektiv das Wort entzogen hat, erzählt er noch schnell das Ende im Duktus der Romanvorlage. Das wirkt eilig und irgendwie so, als wäre man mit der Adaption des Textes für die Bühne nicht ganz fertig geworden. Die Schlusspointe ist dieselbe wie im Buch, aber statt in einer Spielszene hören wir den Schluss als Meta-Lesung. Da verpufft etwas. Die Inszenierung vertraut sich selbst nicht. Orwells Text wird ausgeführt, aber an der ganz kurzen Leine gehalten.
Animal Farm
nach George Orwell
Regie: Sapir Heller, Bühne & Kostüm: Anna van Leen, Musik: Ralph Heidel, Choreografie: Jenny Schinkler, Dramaturgie: Leon Frisch, Licht: Björn Gerum.
Mit: Anne Stein, Steffen Link, Jonathan Müller, Alexandros Koutsoulis, Jan Meeno Jürgens, Jakob Immervoll, Lorenz Hochhuth, Maral Keshavarz, Julian Gutmann, Silas Breiding, Henriette Nagel, Philipp Lind.
Premiere am 12. Februar 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.muenchner-volkstheater.de
Disclosure: Der Autor ist im Hauptberuf Angestellter der Münchner Volkshochschule GmbH, die mit der Landeshauptstadt München dieselbe Gesellschafterin hat wie die Volkstheater München GmbH.
Kritikenrundschau
Es sei die Stärke von Hellers Inszenierung, dass sie viele schöne Details erfinde, schreibt Yvonne Poppek in der SZ (13.02.2022). Auch die Charakterzeichnung gelinge: "Jakob Immervoll trägt einen herrlichen Esels-Grant nach außen, Lorenz Hochhuth die Eleganz eines Rosses. Jonathan Müller als gruseliger Schweine-Demagoge, Steffen Link als intellektuelles Gegenteil und schließlich Anne Stein als der skrupellose, gefährliche Führer sind überzeugend." Dennoch brauche der Abend einige Zeit, um sich zu entwickeln.
Sapir Hellers Inszenierung komme ohne konkrete historische Bezüge aus, schreibt Mathias Hejny in der Münchner Abendzeitung (14.02.2022). Die Kostüme der Ausstatterin Anna van Leen seien "kleine Meisterwerke". Dazu werde wie nebenbei "mit den tierischen Bewegungsprogrammen gespielt", dröhne "finster“ der Sound von Ralph Heidel und würden die Kampfszenen von Jenny Schinkler "als Revolutionsballett" choreografiert. "Aber wenn sich solche Reize abnutzen, geht auch der Inszenierung die Puste aus", urteilt der Kritiker. Vor allem zum Finale werde "aus dem Theaterabend ein literarischer Vortrag".
Sapir Heller arbeite in ihrer "sehr stimmigen, kompakten Produktion" den Kern der Vorlage heraus und übersetze ihn ins Allgemeingültige, findet Michael Schleicher im Münchner Merkur (14.02.2022). "Dass sie dabei nie moralinsauer daherkommt, sondern ihre Inszenierung ein kreatives Spiel mit den Mitteln des Theaters ist, lässt den Abend gelingen."
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(Werte Annette,
vielen Dank für den Hinweis, da ist uns heute in der Früh durchgerutscht und jetzt korrigiert.
MfG, Georg Kasch / Redaktion)