Die Fliegen - Residenztheater München
Weltall Erde Mordsfamilie
8. Oktober 2023. Die Geschichte einer Rebellion gegen ein Unrechtsregime erzählt Jean-Paul Sarte in seinem Drama "Die Fliegen", eine Aneignung der antiken "Orestie" mit Blick auf die NS-Besatzung im Frankreich der 1940er. Elsa-Sophie Jach holt den Stoff in die Gegenwart – mit frischen Reflexionen von Thomas Köck.
Von Christa Dietrich
8. Oktober 2023. Zweideutigkeit gleich zu Beginn. Vom "offnen mund von flammen hier umwandert", spricht eine groß auf die Bühnengaze projizierte Schauspielerin und schminkt sich dabei erst einmal die Lippen knallrot. Später wird sie deklamierend durch ein Theatergebäudelabyrinth wandern. Immer verfolgt von der Kamera, bis sie auf der Bühne angekommen ist. Dort mit der Zigarette am Bistrotisch: "Es riecht nach Rauch", sagt der ihr gegenüber sitzende junge Mann und meint eine weitaus größere Glut. Wer hier geschickt mit Assoziationen spielt, das sind die Pädagogin und Orest, zwei Figuren aus dem Drama "Die Fliegen" von Jean-Paul Sartre.
Sartres Neuschreibung der "Orestie"
Für eine der seltenen Inszenierungen des Stücks, das 1943 in der Zeit der Kollaboration im von den Nationalsozialisten besetzten Paris uraufgeführt wurde, hat das Münchner Residenztheater nicht nur zu einer neuen Übersetzung von Magnus Chrapkowski gegriffen, sondern sich auch eine Umrahmung mit Prolog und Epilog von Thomas Köck organisiert.
Bei Sartre verfolgen wir den Weg des Orest, der nach langen Jahren in der Ferne bei der Rückkehr seine Heimatstadt verwandelt vorfindet: Der Vater Agamemnon ist ermordet, die frevlerische Mutter Klytämnestra herrscht mit dem Geliebten Ägisth. Und eine Fliegenplage hat die Stadt befallen. Orest wird die Geschehnisse aufklären und sühnen, das geplagte Land säubern, und dabei – anders als im antiken Mythos, den Sartre adaptiert – sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. In seiner Entwicklung drückt sich Sartres Freiheitspathos aus.
Es wäre vermessen, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die Sartre im Blick hatte, mit dystopischen Zuständen zu überschreiben, die die Ausbeutung von Ressourcen heute verursacht. Aber Köck gesteht sich zu, Agamemnon als Zerstörer jener Umwelt zu zeichnen, die zu einer Fliegenplage führte, von der Orest die Stadt befreien soll: „der unbeugsame hingegen ließ die maschinen anwerfen den boden öffnen risse bildeten sich schon nach wenigen tagen toxisch wurden die seen".
Es ist klar, was vom französischen Philosophen und Schriftsteller (1905–1980) stammt und was vom österreichischen Dramatiker (geb. 1986). Damit sich das Publikum bei der Einordnung aber noch leichter tut, wurden der Prolog und der Epilog als filmische Ergänzungen realisiert. Das Spiel selbst vollzieht sich auf einem Podium, dessen Kontrast zu den Rokokologen im Cuvilliéstheater nicht größer sein könnte.
Ein Hauch von Science Fiction ist in Argos unverkennbar. Die meisten Kostüme sind an den Schultern ausladend betont, der Hof von Ägisth und Klytämnestra gleicht einer Raumstation, die Fliegen sind ihre Besatzung. Auch bei den akustischen Elementen sucht Regisseurin Elsa-Sophie Jach futuristische Anklänge, Max Kühn ergänzt das Team mit Aleksandra Pavlović (Bühne) und Sibylle Wallum (Kostüme) mit eigens komponierter Drone Music.
Sartres Freiheitsgedanke
Mit stets leichter Überhöhung in diesem fantastisch anmutenden Setting, das ästhetisch reizvollen körperlichen Einsatz erlaubt, entzieht sich Jach der Gefahr, Sartres existenzphilosophische, aber heute auch etwas historisch anmutende Auslegung des Stoffes aus der griechischen Mythologie zu stark zu betonen.
Sartre schrieb aus dem Widerstand gegen die Besatzungsmacht und das Vichy-Regime heraus. Sein Freiheitsgedanke, dass der Mensch nicht wie bei Aischylos Spielball der Götter ist und die Konsequenz daraus, dass man in jeder Situation die Freiheit hat, zu handeln, ja sogar die Verantwortung trägt, es zu tun, lässt sich in "Die Fliegen" nicht unumwunden als Folie für die Gegenwart nehmen. Da scheitert das Drama, das somit aus gutem Grund gestrafft daherkommt. Elsa-Sophie Jach strafft es und lagert Köck-Text an, aber um den Gegenwartsbezug schärfer zu stellen, wären größere Eingriffe in den Ausgangstext notwendig.
Hoffnung auf Veränderung
Gleichwohl werden die Erkenntnisprozesse des Orest anschaulich. Vincent zur Linden spielt ihn eindringlich und entwickelt spannende Bewegungschoreographien. Im Film begegnet er mit dem Skript in der Hand seiner Lehrerin. Barbara Horvath spielt diese mit jenem guten Quantum an Künstlichkeit, die auch Franziska Hackl als Klytämnestra verinnerlicht hat. Sie, die von Agamemnon schwer gedemütigte und zur Mörderin gewordene Frau, ist ebenso nicht ganz greifbar wie Ägisth, den Florian Jahr leicht zynisch färbt. Sie beide sind Mittel zum Zweck eines bei Orest einsetzenden Reflexionsprozesses.
Nur Elektra gewinnt mehr Kontur. Die von Lisa Stiegler mit viel Temperament aufgeladene Figur resigniert in dieser Fassung nicht. Mit Köcks Klagerede ("alles hier ist markt und seine folgen") hält sie eine Hoffnung auf Veränderung lebendig.
Unaufdringlich verweist die Inszenierung auch darauf, dass hier nur Theater gespielt wird, wenn sich Orest am Ende das blutende Einschussloch von der Stirn wäscht. Als Schlusspunkt nach dem manipulativen Treiben von Jupita (die Göttin ist bei Jach weiblich). Eine letzte Akzentuierung in einer assoziationsreichen Sartre-Aneignung.
Die Fliegen
von Jean-Paul Sartre, mit einem Prolog und Epilog von Thomas Köck
Übersetzung von Magnus Chrapkowski
Regie: Elsa-Sophie Jach, Bühne: Aleksandra Pavlović, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Max Kühn.
Mit: Franziska Hackl, Vincent zur Linden, Lisa Stiegler, Barbara Horvath, Evelyne Gugolz, Florian Jahr sowie dem Musiker Georg Stirnweiß.
Premiere am 7. Oktober 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
"Einen starken Spielzeitauftakt" hat Michael Schleicher erlebt und lobt im Merkur (9.10.2023), wie "charmant entspannt und klug" Elsa-Sophie Jach das Sartre-Stück inszeniert habe – "Argos wird bei ihr zu einem dystopischen Ort, an dem das cleane Grauen der Science-Fiction herrscht. In dieser schönen neuen Welt findet die Regisseurin immer wieder starke Bilder, die zusätzlich intensiviert werden durch die technoiden Kompositionen von Max Kühn und den Chor der Fliegen, dessen Gesang ebenso Eindruck macht wie dessen Körperlichkeit." Gelobt wird außerdem das Schauspieler-Ensemble, "allen voran Vincent zur Linden und Lisa Stiegler. Er zeichnet den Weg seines Orest vom Grübeln übers Erkennen zum Handeln empathisch nach; sie wertet Elektra durch ihr präsentes und umsichtiges Spiel nicht nur auf, sondern bildet das Kraftzentrum der Inszenierung."
"Schuld, Reue, Tat. Zwei Stunden lang poltern Phrasen auf einen nieder, (...) das ganze Dröhnen der Worte wirkt wie hinter Glas, weil nichts adressiert wird. (...) Verdutzt konstatiert man ein Anliegen, dem man sich ohne jede Mühe entziehen kann. Es kommt nicht an", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (9.10.2023). Einzig ein paar Momente zwischen Lisa Stiegler und Vincent zur Linden offenbarten als Inseln der Ruhe "eine Emotionalität, die dann auch sofort wirkt", so Tholl. "Um sie herum jedoch toben durchgehend die Worte und die Sätze, müssen alle anderen stets unglücklich laut agieren, lärmen. Das schafft aber keine Überzeugungsarbeit, das ist einfach nur Gewölk."
In der Abendzeitung (8.10.2023) findet Robert Braunmüller wenig Gefallen an den Texten von Thomas Köck. Dieser springe "fahrig von der Schuld zu den Schulden". Von den "Fliegen Sartres und der dort beklagten Hitze in Argos ist es nicht weit zu den Waldbränden in Griechenland und dem Klimawandel" – das allerdings sei "leider weder besonders originell noch sonderlich erhellend". "Schlecht gealtert" sei zudem Sartres Vorstellung, "man müsse über die klassisch-gipserne Antike ein paar Eimer mit Müll, Blut und anderen Körperflüssigkeiten kippen". Die "wackere Regisseurin" mache zwar das Beste daraus und Lisa Stiegler agiere "stets interessant" und "unglaublich körperbetont", dennoch habe man es zumeist mit einem "Einrennen offener Türen" zu tun, so der Kritiker.
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nachtkritikvorschau
Es ist höchste Zeit, dass sich jemand die letzten 10 Köck-Texte anschaut und eine ausführliche und fundierte (oder lieber sehr knappe und flüchtige) Kritik darüber schreibt. Es sind wahrscheinlich eher 2 Texte, die leicht variiert und mal 5 multipliziert werden.
(...)
Diese Art und Weise des Schreibens symbolisiert den höchsten Grad von hyperkapitalistischem Produzieren.
Vor allem: Werden sie vorher lektoriert und redigiert?
Abgesehen davon war der Theaterabend klug und interessant.
---
Der Kommentar wurde um eine Passage gekürzt. Bitte sehen Sie von übertriebener Polemik ab.
Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion!
Ich probiere es nochmal:
Mir geht's um den oft übertrieben lamentohaften Ton und den belehrenden Gestus von vielen Texten von Köck. Sie wirken leer und sind gegenüber dem Publikum unsensibel.
Theater ist auch ein Ort, wo man gerne hingeht, um sinnliche Erfahrungen zu machen und poetische oder lustvolle Erkentnisse zu gewinnen. Und nicht unbedingt, um bereits mehrmals Festgetelltes und Allgemein-Bekanntes als Belehrung ins Gesicht geschrien zu bekommen.