Kunst über alles in der Welt

10. November 2023. Noam Brusilovsky untersucht die Nazi-Vergangenheit des Bayerischen Staatsschauspiels. Und entdeckt erschreckend banale Gestalten.

Von Sabine Leucht

"Mitläufer" am Bayerischen Staatsschauspiel © Sandra Then

10. November 2023. Die Münchner Kammerspiele haben ihre NS-Geschichte bereits umgekrempelt und der verfolgten und ermordeten Mitarbeiter gedacht. Das Bayerische Staatsschauspiel zieht nun nach. Das Haus hat Noam Brusilovsky beauftragt, in seiner historischen Schmutzwäsche zu wühlen.

Der 1989 in Haifa geborene Regisseur ist eine nahe liegende Wahl für diesen Auftrag. Zum sechzigsten Jahrestag des Eichmann-Prozesses produzierte er ein Hörspiel. In München fiel er mit dem geradlinig-brutalen Solo "Orchiektomie rechts" (bei Radikal jung) und einem experimentellen "Gehörlosen-Hörspiel" am Volkstheater auf. Beides extrem persönliche Arbeiten. Und so ging er zunächst auch das "Mitläufer"-Thema an. "An jedem Theater, an dem ich in Deutschland inszeniere", lässt er im Programmheft seines mit Lotta Beckers entwickelten Recherchestück verlauten, "frage ich mich, wie diese Institution sich in den Dienst eines totalitären Regimes begeben konnte, wer von diesem Machtwechsel profitierte und wer die Folgen einer rassistischen und mörderischen Ideologie erleiden musste."

Plötzlich im Widerstand

Nun stehen drei im Rampenlicht, die ihre NSDAP-Kontakte als Karrierebeschleuniger nutzten oder begeisterte Parteigänger waren. Ganz klar wird das nicht, und an Klarheit ist dem Abend auch nicht gelegen. Da ist zunächst der Regisseur Oskar Walleck, SS-Standartenführer und von Goebbels 1934 zum Generalintendanten der Bayerischen Staatstheater befördert. Er erklärte, sein Haus zum Instrument machen zu wollen, das das Lied des Nationalsozialismus singt, und wollte nach dem Krieg wie Millionen anderer Deutscher Widerstandskämpfer gewesen sein. Und da ist Wallecks Nachfolger als Intendant des Staatsschauspiels: Alexander Golling, NSDAP-Mitglied seit 1933, und dessen Chefdramaturg Curt Langenbeck, einer von der Sorte, die man heute zur Gattung der Schwurbler zählen würde.

Die Mitlaeufer2 1200 Sandra Then uMax Mayer als Curt Langenbeck © Sandra Then

Der Abend erzählt Tätergeschichten, und da ist immer die Frage: Verdienen sie die Aufmerksamkeit, wenn sie erwiesenermaßen Täter waren? Was kann man überhaupt herausfinden über sie, aus den Akten, Vernehmungsprotokollen, Aussagen diverser Zeugen und ihrerseits tendenziösen Zeitungsberichten? Man merkt "Mitläufer" an, dass sich seine Macher mit diesen Fragen beschäftigt haben. Und mit dem Premierendatum. Am 9. November 1918 wurde die Republik ausgerufen, 1989 fiel die Mauer, aber vor allem ist es der Jahrestag des Hitlerputsches und der Reichspogromnacht 1938. Kein Tag erinnert die Deutschen lautstärker daran, dass Demokratie und Freiheit immer wieder neu erworben werden müssen. Gerade heute! Und auch im Theater, so menschenfreundlich und liberal es sich auf der Bühne auch geben mag. Folgerichtig gibt es an diesem Abend nicht die Täter damals und die sie Richtenden heute, sondern eine Verhandlung des vielleicht Geschehenen, in der das Theater selbst mit auf der Anklagebank sitzt.

Im Zwielicht

Magdalena Emmerig hat auf der linken Bühnenhälfte des Marstall den Eingang des Residenztheaters kopiert, in der Pförtnerloge sinniert Max Mayer als Langenbeck mit flirrendem Blick über "Erkenntnis", "Weitsicht" und "Leistung". Am Tisch rechts quatscht Steffen Höld als Walleck unvermittelt los: "Das Lustige ist …", während Michael Goldbergs Golling sich noch an der Tischkante festkrampft. Alle spielen, erklären und verteidigen ihre Figuren mit – wie es scheint – überwiegend Originalzitaten. Und an der Rampe werfen Großbuchstaben lange Pseudoschatten, die klarmachen, dass wir/sie/alle damals wie heute im "BAYERISCHEN STAATSTHEATER" sind. Dazu tönt es aus dem Off: "Wo standen wir, wo stehen wir, wo sollten wir von diesem Augenblick an stehen?"

Die Mitlaeufer3 1200 Sandra Then uClaudia Golling, die Tochter des früheren Intendanten © Sandra Then

Gespielt wird auf verschiedenen Zeitebenen. Auf Videos erscheinen Ensemblemitglieder des Residenztheaters, deren separat eingesprochene Stimmen die beiden Ex-Intendanten be-, größtenteils aber entlasten. Aus Angst oder weil sie doch keine so schlechten Kerle waren? Historische Film-Szenen rund um die Theaterbauten geben die Antwort. Teilweise künstlich verzerrt und mit eingefügten Leerstellen scheinen sie zu sagen: Nichts Genaues weiß man nicht! Dafür werden allerdings unglaublich viele Details über Karriereschritte, Wohnorte und anderes ausgebreitet. Im Verbund mit einem eklatanten Mangel an szenischer Bewegung wirkt das enorm schwerfällig, wie ein Spiel mit angezogener Handbremse. Auch der Coup des Abends will nicht zünden.

Die Kunst über alles

Gollings reale Tochter Claudia ist nämlich mit auf der Bühne, Daddys "Püppi", die ihren "Papi" als Traumvater beschreibt und den Blick trotzdem nicht vor der Vergangenheit verschließt. Vielleicht ist es ihr wachsamer Blick auf den Ganzen, der die Energiepegel am Ausschlagen hindert. Vielleicht hat Brusilovskys seinem Team ein weitgehendes Emotionalisierungsverbot auferlegt. Womöglich gerade aus Schmerz über die jüngsten Angriffe auf Juden. Jedenfalls hat er keine Monster ausgegraben, sondern ganz normal erbärmliche Opportunisten, die die Kunst über alles stellen – oder unter jeden Scheffel, wenn es nicht anders geht. Wie sagt noch Golling, auf seinen Herzschaden verweisend? "Ich muss Theaterluft atmen, um leben zu können". Dieses "Muss" ist ein prächtiger Antrieb für Mitläufer. In Masse geben sie nützliche Rädchen im mörderischen Getriebe ab.

 

Mitläufer
Ein Rechercheprojekt von Noam Brusilovsky
Regie: Noam Brusilovsky, Recherche und Textmitarbeit: Lotta Beckers, Bühne und Kostüme: Magdalena Emmerig, Komposition und Sounddesign: Tobias Purfürst, Licht: Barbara Westernach, Video: Tin Wilke, Dramaturgie und Recherche: Carolina Heberling.
Mit: Max Mayer, Michael Goldberg, Claudia Golling und Steffen Höld.
Premiere am 9. November 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de


Kritikenrundschau

"Lebensläufe wie die von Golling und Walleck gab es viele. Das Theater braucht eben deshalb solche Stücke dringend. (...) Weil sie neben der Aufgabe staatlicher Institutionen, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen, zeigen, dass die Wirklichkeit kompliziert und das Bedürfnis nach klaren Schuldzuweisungen nicht immer einfach zu befriedigen ist", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutshen Zeitung (13.11.2023). "Mitläufer" sei trotzdem ein bisschen brav geraten, "so, als falle es Brusilovsky, dem talentierten Hörspielmacher, schwer, die Möglichkeiten der visuellen Ebene auszuschöpfen", so Lutz. "Der Regisseur lässt seine Spieler mit dem Material nicht wirklich spielen, obwohl sie bei diesem Projekt - anders als bei vielen dokumentarischen Stücken - tatsächlich die Rollen verkörpern, statt nur über sie zu sprechen. Szenische Bewegung gibt es also wenig auf der Bühne, dafür viel sich an der Tischkante festklammern und bedröppelt ins Publikum schauen."

Es gehe hier "um die immerwährende Erfindung der Ereignisse und Vorgänge, eine Selbstdarstellung sowie die Neuinszenierung des eigenen Lebens. Das könnte ganz großes Theater sein, aber Noam Brusilovsky scheut das Drama und meidet Gefühle, schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (11.11.2023). "Es spricht für ihn, auf das allzu naheliegende Besserwissertheater der Nachwelt zu verzichten und auch keine monströsen Tarantino-Nazis zur Schau zu stellen. Aber es befremdet schon, dass er ausgerechnet die authentische Verwandte seines zentralen Protagonisten viel zu häufig stumm im halbdunklen Hintergrund abstellt. Dafür glänzen die Herren betont unspektakulär in filigranen Charakterstudien."

Einen "interessanten Zwitter aus Dokumentation und Fiktion" nennt Barbara Reitter das Stück und schreibt im Donaukurier (11.11.2023): "Wiewohl der Text überwiegend aus Originalzitaten der beiden Theaterdirektoren sowie Gollings Dramaturgen Curt Langenbeck, einem strammen Ideologen und Verfasser „völkischer Dramen" besteht, sind diese so geschickt collagiert, dass sie sprachlich gebunden wie aus einem Guss wirken." Dass die Redebeiträge der drei Männer "zwangsläufig als monologisches Nebeneinander stattfinden, störe nicht, "da die Texte einem teilweise den Atem nehmen". "Brusilovsky hat die „Banalität des Bösen" optisch äußerst abwechslungsreich arrangiert."

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