Ein kleines Juwel ringt um Fassung

von Dieter Stoll

Nürnberg, 11. Mai 2019. Der erste Blick fällt auf einen Traum, der dem zweiten nicht standhalten kann. Die schlummernde Dame des Hauses kauert als ohnmächtige Spinne im Netz, die Ahnung einer realen Szene ist großräumig umhüllt vom riesigen Seidentuch mit Himmelsblick zu den Schafswölkchen. Schön kitschig? Bei genauerer Betrachtung könnte die wallende Textilfläche auch eine kolossale Negligé-Zwangsjacke sein, geschneidert als Übergangsmodell für frostige Wechselwirkungen im alsbald einsetzenden Beziehungsstress.

Tiraden-Hochform im Schlafgemach

In Georges Feydeaus vergleichsweise selten gespieltem Einakter "Herzliches Beileid", wie er von Regisseur Dieter Dorn und Bühnenbildner Peter Nitzsche als wuchernde Metaphern-Behauptung mit feinen Pointen-Nahtstellen entworfen wird, plumpst die merkwürdige Vision vom dahindämmernden Rest-Glück wie ein Gummiball hüpfend in den harten Alltag, sobald das Tuch weggezogen und eine realistisch gebastelte Puppenstube sichtbar wird. Eigentlich Allnacht, denn der Sturm klingelnde Hausherr kommt in hochstaplerischer Sonnenkönigsmaskerade vom Künstlerball in die bürgerliche Ruhezone getaumelt. Sofort herrscht flackerndes Inferno im Schlafgemach von Lucien (Thomas Nunner als Lebenslügner in Lauerstellung, geduckt unter Allongeperücke und mopsiger Dreistigkeit) und Yvonne (Ulrike Arnold als leicht angewelkte Schönheit mit unbeherrschbarem Talent zum Salon-Trampel), wenn sie in ihrem Atelier-Schlafzimmer zu Tiraden-Hochform auflaufen.

Herzliches Beileid4 560 Konrad Fersterer uDie Dame des Hauses im Traumgewand: Ulrike Arnold als Yvonne © Konrad Fersterer

Für das Leerlauf-Update dieser Eheschlacht spielt die Tageszeit keine Rolle. Er ist im Brotberuf Buchhalter, aber als Amateur-Bohèmien dem lotternden Leben in Spätschicht zugetan, sie hat nichts übrig für solche Faxen, spottet fuchtelnd mit einem leeren Bilderrahmen über seine Malerei, als hätte Yasmina Reza die Hand im "Kunst"-Bashing und sichert ihren Regierungssitz daheim zwischen den Kissen. Die unheimliche Begegnung der Streitsüchtigen findet zuverlässig den Anschluss zum baumelnd losen Ende der letzten Beziehungskrise.

Schwiegermutters Erbschaft

"Herzliches Beileid" hat der deutsche Übersetzer Georg Holzer diese Lustspiel-Miniatur des Klamauk-Feinmechanikers Georges Feydeau aus seiner bitteren Spätphase betitelt, was nicht nur auf die plötzlich hereinbrechende Nachricht vom Tod der Schwiegermutter zielt. Muss man über eine eben noch als "Kamel" beschimpfte Frau trauern, darf man gleich deren Erbe verteilen und was passiert, wenn auch da alles nicht so ist wie es scheint?

Yascha Finn Nolting greift als übereifriger Unheil-Bote saukomisch in die Vollen, nur Süheyla Ünlü landet als dauerkrähendes Dienstmädchen gelegentlich im toten Winkel der Regie. Am Ende, die Erbschaft ist verteilt und die Leiche lebt, weiß keiner mehr genau, ob es etwa doch ein guter Tag gewesen sein wird. Insofern sollte man zur Klärung der nach allseitiger Einschätzung wichtigsten Frage des Abends, der Begutachtung des hausfraulichen Busens im Vergleich zu Oberweiten von Künstlerball-Models, auf den beiläufig angekündigten Sachverständigen-Besuch eines gewissen Herrn Godot setzen – auch wenn das bekanntlich mit viel Warten verbunden ist.

Herzliches Beileid2 560 Konrad Fersterer uHeimkehr vom Künstlerball: Thomas Nunner spielt den ambitionierten Buchhalter Lucien (im Spiegel Ulrike Arnold)
© Konrad Fersterer

Regie-Altmeister Dieter Dorn (83), der sich am Ende der Premiere mit jugendlich nach oben gebundenen Haaren verbeugte, ist bei seinem späten Nürnberg-Debüt quasi auf Gegenbesuch: Der dort grade auftrumpfende neue Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger war Dorns Jung-Talent am Münchner Staatsschauspiel und der Nürnberger, zur Oper konvertierte Intendant Jens-Daniel Herzog galt als Vorzugs-Azubi von Dorns Münchner-Kammerspiele-Ära.

Beckett-Erben bremsen das angedachte Doppel-Projekt aus

Das Doppel-Projekt, das ursprünglich als Kombination des giftelnden Feydeau-Einakters mit Samuel Becketts gnadenlos auf Sand gebauter Optimismus-Orgie "Glückliche Tage" eingefädelt war, verweist auf den Vorlauf einer langen Produktions-Liste. Türknallende Bestseller des Komik-Klassikers sind in der Dorn-Biografie so prominent zu finden wie die Rätselspiele des Querkopfs Beckett, mit dessen Endspiel Dorn noch 2016 bei den Salzburger Festspielen angetreten war. Was aber ebenso wenig half wie die überlieferte Sympathie von Beckett für Feydeau. Die gute Idee vom freundlichen Duell der Absurden, die Partnerschaft vom Kuschel-Duett in Sandburg und Bettdecke, war den Erben Becketts nicht geheuer, sie legten kurz vor Probenbeginn ihr Veto ein. Was wiederum den für Werktreue garantierenden Regisseur nicht wirklich aus der Bahn warf.

Herzliches Beileid1 560 Konrad Fersterer uOrdentlich bürgerlich zerrüttet: Süheyla Ünlü (Annette), Ulrike Arnold (Yvonne), Thomas Nunner (Lucien) © Konrad Fersterer

Das Ergebnis von Dorns Konzentration auf das Stück vom dunklen Rand im Feydeau-Nachlass ist keine Verlegenheitslösung. Die Aufführung, die auf wunderbare, auch im Schrulligen standsichere Schauspieler vertrauen kann, ist ein kleines Juwel. Es funkelt in vielen Facetten und ringt dabei erkennbar um die Fassung, die ihm nicht gestattet wurde.

Aus dem banalen Boulevard-Tonfall zu Beginn erhebt sich bei ständig steigender Betriebstemperatur die Groteske wie ein taumelndes Gespenst, das Kulissen anrempelt und daraus im stolpernden Anlauf Energie für den Schwebezustand über platte Realität hinweg bezieht. Wenn das zerstrittene Paar nach der ins Nachbarhaus weitergereichten Todesbotschaft mit einem Schadenfreudentanz wieder zueinander findet, vom Elend der Anderen die eigene Stärke abschöpft, erfriert das Gelächter für einen Moment. Der Premierenbeifall war reines Tauwetter.

 

Herzliches Beileid
von Georges Feydeau
Regie: Dieter Dorn, Bühne: Peter Nitzsche, Kostüme: Monika Staykova, Licht: Tobias Krauß, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Ulrike Arnold, Thomas Nunner Süheyla Ünlü, Yascha Finn Nolting.
Premiere am 10. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

"Ein bisschen unterfordert war Regie-Altmeister Dieter Dorn wohl schon mit der fein stichelnden Salonkomödie 'Herzliches Beileid' von Georges Feydeau", findet Katharina Erlenwein in den Nürnberger Nachrichten (13.3.2019). Mit lockerer Hand habe er großes Schauspielertheater inszeniert, das gut unterhalte. "Doch etwas fehlt." Und zwar Samuel Becketts "Glückliche Tage", dessen Aufführung die Erben untersagten. "Das Gegengewicht der Winnie aus Becketts Stück, die in all ihrer Trübsal wild zum Glück entschlossen ist, hätte Yvonne gutgetan, die sich so gern im Unglück suhlt."

Nichts vermisst hat hingegen Wolf Ebersberger in der Nürnberger Zeitung (13.3.2019), nicht das Tempo, "auf das Lustspiele dieser Art sonst setzen", auch nicht "Beckett, dessen trostlos heitere, im Trott fixierte Figuren sich hier durchaus andeuten". Dorn zeige sich als Regisseur von und für Schauspieler – "die er, behutsam und liebevoll genau auch in den kleinsten Gesten, zu großen Momenten animiert": "Wann haben wir Thomas Nunner zuletzt so eindrucksvoll erlebt?"

Christine Dössel schreibt in der Süddeutschen Zeitung (14.5.2019) sehr enttäuscht: Dorn stehe für die "große alte Erzähltheaterschule". Man habe sich "auf ihn gefreut". Doch zu sehen gebe es eine "herrenwitzige Petitesse auf Schwank-Niveau". Obwohl Dorn die drei Szenen "betont entschleunigt" inszeniere, sei der Abend "in siebzig Minuten" zu Ende und man frage: "Was war denn das? Und: War es das?"

Kommentare  
Herzliches Beileid, Nürnberg: Beileid den Besuchern
Die wohlfeilen Worte dieser Kritik dichtem dem Stück weit mehr an, als es bietet. Zwar füllen vor allem die Hauptdarsteller ihre Rolle soweit aus, wie es die Vorlage erlaubt. Allein an letzterer hapert es. Selbst der geneigte Zuschauer muss bemüht sein, die wenigen Momente zu finden, in denen es Grund zum Schmunzeln oder gar zum Lachen gibt. Der Humor bewegt sich auf dem Niveau von Faschings-Kalauern und ist weitgehend vorhersehbar. Die Geschichte lässt außer der Busenform der Ehegattin keine Linie erkennen. Außer dem wirklich genialen Szenenbild zu Beginn sind Bühnenbild und Kostüme einfallslos. Man ist wirklich froh, dass die Langeweile nur 70 Minuten dauert. Dieses Stück passt in dieser Form nicht ins 21. Jahrhundert und schon gar in das Staatstheater. Ganz schwach!
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