Tyrann im Hausmantel

2. Juli 2023. Lässt sich durch Tyrannenmord die Demokratie retten? Es ist über 400 Jahre her, dass William Shakespeare diese Frage stellte. Christian Stückl wendet sie aufs gegenwärtige Weltgeschehen an und holt aus dem alten Drama einen brandaktuellen Politthriller heraus: mit ohrenbetäubenden Schüssen, einem handfesten Sondereinsatzkommando und stolzen 250 Mitwirkenden.

Von Martin Jost

"Julius Caesar" in der Regie von Christian Stueckl im Passionstheater Oberammergau © Arno Declair

2. Juli 2023. Gegen Ende werde es ganz schön laut, warnt Spielleiter Christian Stückl in einer Ansage vor der Vorstellung. Da wird aus dem eher dialoglastigen Stück um eine Verschwörung gegen den Diktator Julius Caesar noch ein handfester Action-Kracher mit viel Pyrotechnik. Die Spezialeffekte sind eines der Mittel, mit denen Stückl der Geschichte über politische Strategien und Intrigen Schwung verleiht.

Ein anderes ist die Aktualisierung. Requisiten und Kostüme gehören in die heutige Zeit. Die Politiker tragen Anzüge, die Caesar-Fans demonstrieren in T-Shirts und Basecaps mit dem Logo ihres Idols (Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier). Shakespeares Stoff verhandelt die Frage, wann ein Mord an einem Tyrannen gerechtfertigt ist und ob sich dadurch die Demokratie retten lässt. "Julius Caesar" passt zum aktuellen Weltgeschehen. Im Interview mit der Münchner Abendzeitung fallen Stückl konkret Trump, Putin oder Erdogan ein. Auf der Bühne bleibt er im Abstrakten. Wobei – erinnern der absurd lange Tisch und die Uniformen der Palastwachen nicht sehr an die Inszenierungen aus dem Kreml?

Roter Tisch, rote Krawatte

Das leuchtende Rot der Bühne – Wände, Pfeiler, Stuhlbeine und Wählscheibentelefon auf dem roten Tisch – ist mit Caesar assoziiert. Der Feldherr, der immer mehr politische Macht an sich zieht, trägt rote Krawatte und roten Hausmantel. Seine Anhänger tragen Rot, seine Frau Calpurnia (Barbara Schuster) ebenfalls. Sie und die Frau des Brutus, Portia (Eva Norz), sind die einzigen weiblichen Sprechrollen. Sie müssen sich mit je einer Szene begnügen, in der sie vergeblich flehen, in die Entscheidungen ihrer Männer eingebunden zu werden.

Julius Caesar von William ShakespeareRegie Christian StücklBühne Stefan HageneierMusikalische Leitung  Markus ZwinkPremiere am 1. Juli 2023Passionstheater OberammergauCopyright by Arno DeclairBirkenstr. 13b10559 Berlin+49 (0)172 400 85 84arno@iworld.deKonto 600065 208 Blz 20010020 Postbank Hamburg IBAN/BIC : DE70 2001 0020 0600 0652 08 / PBNKDEFFVeröffentlichung honorarpflichtig!Mehrwertsteuerpflichtig 7%   USt-ID DE 273950403St.Nr. 34/257/00024       FA Berlin Mitte/TiergartenSondereinsatzkommando "Julius Caesar": Frederik Mayet und Kollegen im Thriller-Dienst © Arno Declair

Caesar ist die Titelfigur, aber keineswegs die Hauptperson des Stücks. Immerhin ist er noch vor der Pause tot. Von seinen Verdiensten und Vergehen erfahren wir aus den Berichten anderer Figuren. Aus erster Hand erleben wir ihn nur als Typ. Andreas Richter, Hauptrollen-Veteran auch in der "Passion", spielt Caesar als geschmeidigen Charismatiker, der die Techniken und Gesten des Populisten vollends beherrscht. Seine Widersacher Cassius (Yannick Schaap) und Brutus (Martin Schuster) planen und rechtfertigen den Anschlag auf Caesar in langen Dialogen. Dabei ist Cassius der Macher, ein machtbewusster Netzwerker in weißem Hoodie und Lederjacke; Brutus der Grübler in Jackett über schwarzem Rolli. Als Idealist ohne eigene Ambitionen eignet er sich hervorragend als Front der Verschwörung.

Thrillerhafte Spannung

Nicht sehr trennscharf bildet die Oberammergauer Fassung die beiden Figuren ab. Die Tragik des Brutus, der als selbstloser Demokrat ziemlich allein dasteht, geht verloren. Einerseits durch die Kürzungen, andererseits verschwimmen er und Cassius auch in den Massenszenen. Selbst, wenn die Verschwörer unter sich sind, sind immer noch zehn Schauspieler auf der Bühne; wenn Brutus und Cassius zum römischen Volk sprechen, mehr als fünfzig Darsteller:innen.

Auf insgesamt 250 Mitwirkende kommt die Inszenierung dank Orchester und Chor im Graben. Markus Zwinks Musik baut anfangs mit Trommelgrollen, Becken und Streichern eine thrillerhafte Spannung auf, später entlädt sich die Gewalt des Bürgerkrieges mit Tutti und Chor. An einigen Stellen sind Musik und Schauspiel schlecht abgestimmt: Schauspieler deklamieren über den Chor oder sie treten auf, um dann erst mal untätig das Ende der Musik abzuwarten.

Julius Caesar von William ShakespeareRegie Christian StücklBühne Stefan HageneierMusikalische Leitung  Markus ZwinkPremiere am 1. Juli 2023Passionstheater OberammergauCopyright by Arno DeclairBirkenstr. 13b10559 Berlin+49 (0)172 400 85 84arno@iworld.deKonto 600065 208 Blz 20010020 Postbank Hamburg IBAN/BIC : DE70 2001 0020 0600 0652 08 / PBNKDEFFVeröffentlichung honorarpflichtig!Mehrwertsteuerpflichtig 7%   USt-ID DE 273950403St.Nr. 34/257/00024       FA Berlin Mitte/TiergartenZeitgeistiger Shakespeare mit Hoodie und Lederjacke: Yannick Schaap, Maximilian Bender, Sidney Schwind und Martin Schuster im Oberammergauer "Julius Caesar" © Arno Declair

Cengiz Görür als Antonius ist einer, der sich auf der Bühne souverän durchsetzt. Plastisch gibt er den lachenden Dritten, der mit perfider Rhetorik das wankelmütige Volk gegen Brutus aufwiegelt. Er markiert nicht extra die gemeine Ironie in Antonius' Grabrede für Caesar. In Verbindung mit seinen strategisch eingesetzten großen Emotionen macht Görür seinen Antonius so zu einem überzeugenden Manipulator der Massen.
Mit Caesar ist nach und nach das Rot von der Bühne verschwunden. Das passiert sehr subtil. Im Laufe des Abends verabschiedet sich das Tageslicht aus der Mischung. Das Bühnenlicht wird immer kälter. Gesichter scheinen grünlich, die Bühne verliert ihr aufdringlichstes Attribut ohne Umbau. Caesars Einfluss ist verblasst. Doch was folgt an seiner Stelle?

Knatternde Sprengladungen, stinkender Qualm

Chaos. Antonius steht Cassius und Brutus im Feld gegenüber. Der Machtkampf um Rom wird unübersichtlich. Die Figuren sind nun alle bis an die Zähne bewaffnet mit Pistolen, Gewehren und Handgranaten. Antonius' Soldaten sehen aus wie ein modernes Spezialeinsatzkommando. Christian Stückl hat nicht zu viel versprochen: Schüsse knallen, Sprengladungen knattern und sprühen Funken, es ist ohrenbetäubend laut, und es stinkt nach Qualm. Im letzten Auftritt zu einem Requiem trägt das Volk Trauer und gerahmte Porträts der getöteten Staatsmänner vor sich her. Am Boden züngeln noch Feuer, als wir das Theater schon verlassen.

Symbolisch, aber auch ganz ausdrücklich zeigt "Julius Caesar" in Oberammergau, dass auf die Beseitigung eines Despoten nicht automatisch Freiheit und Stabilität folgen, sondern eher Chaos und noch mehr Gewalt. Text und Handlung sind in Stückls Inszenierung nicht immer gut zu erfassen. Doch das angezogene Tempo und das junge Ensemble sorgen für einen wirkungsvollen Theaterabend, der uns grübeln und manchmal schaudern lässt.

 

Julius Caesar
von William Shakespeare
Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Markus Zwink.
Mit: Andreas Richter, Barbara Schuster, Martin Schuster, Eva Norz, Yannick Schaap, Cengiz Görür, David Bender, Ferdinand Dörfler, Florian Maderspacher, Maximilian Bender, Sidney Schwind, Nanno Hensold, Peter Mangold, Frederik Mayet, Walter Rutz, Benedikt Fischer, Emil Twitchell.
Premiere am 1. Juli 2023
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

passionstheater.de

Kritikenrundschau

Dass Christian Stückl den "Caesar" in die Gegenwart hole und aktuelle politische Bezüge beabsichtige, sei "schon optisch angenehm nach dem sehr langen Passionssommer 2022 voller Sandalen und wallender Gewänder", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (2.7.23). Die viel diskutierte Frage, ob Tyrannenmord die Demokratie retten könne, erledige sich schnell – "weil klar wird, dass es keine Gewinner geben kann, wenn es keine Ideen für das 'danach` gibt', argumentiert die Kritikerin. De facto sei das zwar "frustrierend", aber "im Aushalten diese Frage" liege die Stärke dieser "überraschend konzentrierten Inszenierung"; die "richtige Seite" lasse sich "nicht so leicht benennen".

In Oberammergau habe man es "mit einer Kundschaft zu tun, fern von Diskursen in Hauptstadtblasen, die überzeugt werden muss, damit sie weitererzählt, dass sich das lohnt – die Theaterfahrt nach Oberammergau", so Hannes Hintermeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.7.2023). Die "Verweise auf aktuelle Figuren der Zeitgeschichte" seien "überdeutlich: Der überlange rote Tisch, der an Putins Distanzmöbel denken lässt, die Garde des Diktators trägt Phantasieuniformen, irgendwo zwischen italienischem Faschismus und französischen Flics". Dass Regisseur Christian Stückl dieses "zumutungsreiche" Stück gewählt habe, sei gleichwohl eine mutige Entscheidung.

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