Frauen der Unterwelt - Ballhaus Ost, Berlin
Zum Irrewerden
von Frauke Adrians
Berlin, 7. Dezember 2019. "Ich habe erreicht, was eine Frau erreichen kann", sagt Johanna ihrem Kind. Eine stolze Lebensbilanz, aber Johanna spricht aus dem Grab, sie wurde vergast, 1940 oder 41. Was sie erreicht hatte, schon in jungen Jahren, das machte sie nur verdächtig: geschäftlicher Erfolg, ein schnelles Auto, eine Villa, zwei uneheliche Kinder. "Sie prasst, sie lebt wie ein Mann", gab die Nachbarin eilfertig zu Protokoll.
Solche Protokolle wurden Todesurteile. Frauen, die nicht in die Norm passten, landeten schon in den Zwanzigerjahren in der "Irrenanstalt", doch den Massenmord an den für schizophren oder asozial oder geisteskrank oder lebensunwert erklärten Insassen vollzog man in der NS-Zeit. Tausende wurden allein in der Anstalt Pirna-Sonnenstein ermordet. Sieben weiblichen Opfern, stellvertretend für alle anderen, gibt Tine Rahel Völcker im Berliner Ballhaus Ost eine Stimme und eine Bühne.
Einlass über den Friedhof
Und noch mehr als das. Das Entree zum Stück hat etwas von einer Totenandacht: Das Publikum wird über den benachbarten Friedhofspark an Grab- und Gedenksteinen vorbei ins Ballhaus geführt, im Saal ist ein Altar aufgebaut, auf dem das Ensemble zu unbehaglichen Harmonium-Dissonanzen Kerzen entzündet. Der Theaterabend selbst ist rau und laut und wütend, weil die Lebens- und Sterbegeschichten der Opfer anders nicht zu erzählen wären. Völcker hat aus Briefen, Erinnerungen, "erbärztlichen" Diagnosen und frei komponierten Monologen sieben "Fälle" rekonstruiert, die allein ausreichen müssten, sämtlichen heute lebenden Vogelschiss-Vergleichern die Schamesröte ins Gesicht zu treiben.
Die sieben Schauspieler haben ihre Texthefte die meiste Zeit vor sich, aber nichts an diesem Abend ist abgelesen außer den mit gnadenloser Stakkato-Präzision vorgetragenen medizinisch verbrämten Todesurteilen. Wut, Trauer, Verzweiflung oder Wochenbettdepression werden da umgedeutet in gemeingefährliche Hysterie, Schizophrenie oder "defekte Intelligenz". "Bin ich krank oder kriminell? Entscheidet euch!", schleudert die in die Psychiatrie eingelieferte Journalistin Ann Esser (Iris Minich) den Irrenärzten und Gutachtern entgegen. Die zynisch wortlose Antwort folgt 1940: Für krank erklärt zu werden bedeutet das Todesurteil, ganz ohne Anklage.
Alles verdächtig, alles krank
Jeder Schauspieler verkörpert einen "Fall" mit einer Intensität, die den Zuschauer packt und buchstäblich mitleiden lässt: Mit dem überlebenden Zwillingsbruder eines als "schwachsinnig" vergasten kleinen Mädchens – "ich vergaß meine Schwester", sagt Klaus (Philipp Engelhardt) und ist sich sehr bewusst, wie das klingt –, mit der fröhlich promiskuitiv lebenden Frieda W. (Nora Quest), die sich laut Urteil der Sittlichkeitsrichter "wie ein Tier" fortpflanzt, und der "hysterisch eigensinnigen" Margarete (Vernesa Berbo), die auf keinen Fall weitere Kinder will und sich deshalb sterilisieren lässt.
Zu viel oder zu wenig Nachwuchs, zu viel Selbstbewusstsein, zu großer Wille, sich in einer Männerberufswelt zu behaupten, zu starke Emotionen: alles verdächtig, alles krank. Und wehe derjenigen, die vor Wut und Liebeskummer schier zerbersten und verbrennen will: Sie wird, wie das Dienstmädchen Lina (Lara Anaïs Martínez-Wiesselmann), von ihrer Herrschaft noch rechtzeitig vor Weihnachten in die Anstalt eingewiesen, damit man in Ruhe feiern kann.
Tine Rahel Völckers Stück führt vor Augen, dass auch diese Vergangenheit nicht vergeht, dass die Verbrechen Familien zerstört haben und überlebende, "gesunde" Angehörige irre wurden an dem Verdrängten und Tabuisierten. Die "Frauen der Unterwelt" sind indes keine theatralische Geschichtsstunde: Text, Ensembleleistung und eine wunderbare Eine-Frau-Choreografie im dritten Akt ergeben einen starken Theaterabend.
Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte
von Tine Rahel Völcker
Text, Konzept und Regie: Tine Rahel Völcker, Bühne und Kostüme: Jessica Rockstroh, Musik: Simon Bauer, Choreografie: Lara Anaïs Martínez-Wiesselmann, Licht: Jones Seitz, Produktionsleitung: Martina Neu, Regieassistenz: Linda Glanz, Ausstattungsassistenz: Susanne Wilk.
Mit: Vernesa Berbo, Philipp Engelhardt, Olga Feger, Lara Anaïs Martínez-Wiesselmann, Iris Minich, Nora Quest, Tucké Royale
Premiere am 7. Dezember 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.ballhausost.de
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In der Dunkelheit wird das Publikum über den Friedhof und als Prozession über den Seiteneingang ins Ballhaus Ost geführt, eine Off-Theater-Bühne im Bezirk Prenzlauer Berg. Der sakrale Eindruck des Dokumentartheater-Abends verstärkt sich noch, da zunächst sieben Kerzen angezündet werden.
Sie stehen stellvertretend für die „sieben hysterischen Akte“, die sieben Einzelschicksale von Frauen, die von den Nazis in der Psychiatrie Pirna-Sonnenstein vergast wurden.
Es ist ein Abend der leisen Töne, oft fast spröde, mit kurzen Dialogen, nur selten gibt es spielerische Farbtupfer wie das Tanz-Solo von Lara Anaïs Martínez-Wiesselmann.- Die stillen Momente werden immer wieder von kurzen, heftigen Wutausbrüchen, von Anklagen der Opfer durchbrochen, bevor Tine Rahel Völkers Dokumentartheater-Abend wieder zum Grundton eines stillen Requiems zurückkehrt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/20/frauen-der-unterwelt-ballhaus-ost-theater-kritik/