Madame Bovary - Christian Weise zeigt am Ballhaus Ost ein Sittenbild aus der Latte-Macchiato-Moderne mit Inga Busch
Eine Provinz namens Prenzlauer Berg
von Anne Peter
Berlin, 7. September 2011. Weltliteratur auf der Sitcom-Couch. Die Couch ist weiß und von Ikea. Auf ihr sitzt Emma Bovary alias Inga Busch, dramatische Kajalaugen unter blondierter Mähne, in rosa Minirock und Strickjäckchen. Sie zappt sich in ihre Lieblingsschnulzenfilmszenen hinein und schnieft aus dem Stegreif los. "Tschuldigung, das ist so traurig", schluchzt sie gen Publikum. Im Regal stapelt sich die Sehnsucht in Groschenromanen. Klar, was Emma in dieser ambitioniert Flaubert aktualisierenden Off-Unternehmung im Ballhaus Ost mit dem "Ideal romantischer Naturen" meint, "zu dem mittelmäßige Herzen nie gelangen".
Du brauchst nur ein Macbook
Mittelmäßige Herzen, das sind alle um Emma herum – Gestalten der Provinz. In erster Linie natürlich ihr fader Arzt-Ehemann Charles, den Alexander Maria Schmidt mit hingebungsvoll trotteligem Teddybärfaktor ausstattet. Oder auch die Nachbarn Homais: sie dauerschwangere Bauchstreichlerin, er langhaariger Geburtshaus-Propagandist, beide zusammen ein Ausbund an zeitgenössischer Alternativ-Spießigkeit. Diese durch den Kakao zu ziehen, darauf haben es Regisseur Christian Weise und seine Co-Autorin Daniela Dröscher besonders abgesehen. Und wo ist dieses Spießertum heutzutage in Reinkultur zu finden? Im Prenzlauer Berg natürlich, wo auch das Ballhaus beheimatet ist. Dass man mit dem Babyboombezirk kein besonders originelles Bespöttelungs-Opfer gefunden hat – geschenkt. Schließlich kiekst und gackert Verena Unbehaun ihre Madame Homais derart überspitzt in die mit scheußlich monströsem Blumenmuster verzierte Wohnlandschaft (Bühne: Constanze Kümmel), dass man das Gruseln vor dieser speziellen Sorte Hausfrau-und-Mutter-Tier noch einmal neu lernt.
Emmas erster Geliebter Rodolphe (Sebastian Arranz) ist bei Weise zum exzentrischen Latino-Popstar avanciert, der ebenfalls das Prenzl'berger Latte-Macchiato-Eldorado besingt: "Du brauchst keinen Background, du brauchst auch kein Projekt, du brauchst nur ein Macbook – la dolce vita ist geleckt" (im Trailer tanzt Inga Busch dazu im Alexanderplatz-Brunnen wie einst Anita Ekberg in den Trevi-Fontänen). Und Leon (Hannes Benecke), Emmas aufgefrischter Schwarm aus Eheanfangstagen, wandelt sich durchs Stadtluftschnuppern vom steif beschlipsten Jura-Anwärter zum hippiesken Yoga-Praktiker.
Mit Situationskomik durch den Luxusrausch
Alternativen zu dem braven Charles geben diese beiden keine Sekunde lang ab. Emmas Leidenschaft, daran lässt die Inszenierung keinen Zweifel, entzündet sich allein an der eigenen Wunschprojektion. Die Psychologie der Figuren treibt Weise in die Karikatur. Affären werden mit hektischem Sex zwischen Tür und Angel begonnen und ihr Niedergang kaum mehr als zu Protokoll gegeben. Situationskomik statt epischer Breite, wobei vor allem Catherine Stoyan als verbiesterte Bovary-Mutter mit trocken aus der Hüfte geschossenen Jokes glänzt, befeuert von ausgiebigen Hausbar-Plündereien. Sprachlich bleiben von Flaubert nur mehr Bruchstücke, vornehmlich für Emmas romantische Träumereien reserviert, während man die banale Realität mit jenen auf Sitcom-Niveau zündenden Witzchen bespielt.
Weise und sein Team haben im Einzelnen durchaus stimmige Gegenwarts-Übersetzungen für die Motive des 1856 erschienenen Romans gefunden. Doch so anschlussfähig er in großen Teilen ist (Emmas Flucht aus Unerfülltheit und provinzieller Enge in Liebschaften und Luxusrausch, durch den sie immer mehr Schulden anhäuft), ausgerechnet bei der Hauptfigur holpert's. Welche lebenszugewandte junge Frau von heute würde sich wohl darüber wundern, "dass sich mit der Heirat nicht auch die Liebe einstellt"? Junge Frauen stolpern doch vergleichsweise selten komplett erfahrungslos in eine Ehe und sind in dieser dann auf Gedeih und Verderb festgeschmiedet, wie Flauberts Heroine. Wohl wird so manche Beziehung aus Bequemlichkeit, Selbsttäuschung oder Angst vorm Single-Sein jahrelang verschleppt, aber Buschs Bovary ist nicht so eine. Sie ist sich über Ehe-Unglück von Anfang an im Klaren, der Leidensdruck ist groß, und entsprechend betreibt sie die Liebhaber-Suche so strategisch forsch, dass man sich schwer vorstellen kann, wieso sich so eine trotz allem nicht von Charles zu lösen vermag. Geschweige denn, wie sie in diese Misere überhaupt hineingeraten konnte.
Inga Busch ist einfach keine Couch-Potato
Vielleicht hat Busch auch einfach schon zu viele starke Auftritte bei René Pollesch hingelegt, dass man in ihr kaum die TV-Kitsch-süchtige Couch-Potato sehen mag? In ihrem Element scheint sie in den lauten und exzessiven Szenen: wenn Emma den laschen Charles zusammenbrüllt, das eben noch liebkoste Baby achtlos ins Bettchen knallt oder gen Ende nach durchfeierter Nacht in ein wildes Verzweiflungstänzchen hineintaumelt. Die tragische Ernsthaftigkeit, die Busch ihrer Figur am Schluss abringt und die mit lakonischem Tablettentod endet, kommt allerdings seltsam plötzlich und passt kaum zur Groß- und Mitgefühls-Dekonstruktion, die der sportlich verknappte zwei Stunden Abend zuvor gepflegt hatte. Auch ist das Milieu für eine konsequente Prenzlauer-Berg-Soap nur schief getroffen. Vieles an diesem Publikum-erheiternden Unterfangen ist gut ausgedacht, aber im Zusammenspiel nicht schlüssig oder nicht konsequent genug durchgezogen. Es ist ein Abend, um sich selbst ein bisschen auf die Couch zu lümmeln und alles nicht ganz so genau zu nehmen.
Madame Bovary. Ein Sittenbild aus der Provinz
nach Gustave Flaubert
Fassung von Daniela Dröscher und Christian Weise
Regie: Christian Weise, Bühne: Constanze Kümmel, Kostüme: Andy Besuch, Musik: Jens Dohle, Dramaturgie: Maria Viktoria Linke, Licht: Volker M. Schmidt, Ton: Katharina Adler, Produktion: Daniel Schrader.
Mit: Inga Busch, Sebastian Arranz, Hannes Benecke, Jens Dohle, Alexander Maria Schmidt, Cornelius Schwalm, Catherine Stoyan, Verena Unbehaun.
www.ballhausost.de
Mehr über Inga Busch: Für René Pollesch spielte sie zuletzt in der Ruhrtrilogie Teil 1 und 2, Tal der fliegenden Messer und Cinecittà aperta. In Stuttgart war sie unlängst Shen Te/Shui Ta in Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan.
Christian Weises Theater erleide an diesem Abend das Schicksal Emmas selbst: "es verhungert an Mittelmäßigkeit", so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (9.9.2011). Das liege vor allem daran, dass Weise nicht wirklich weiß, was genau er karikieren will. Der entstandene Text sei weder subtil noch radikal genug. Noch wurde eine Spielsituationen gefunden, die das aufgeklärt restaurative Neubürgertum in Kopfzangen nehmen würde. "So sieht man eine konventionelle Boulevardklamotte vor exotisch tapezierter Wohnraumkulisse. Emma ist ein prolliger Kitschfilmjunkie, ihr guter Charles (Alexander Maria Schmidt) schaut hilflos zu, seine Schnapsdrossel von Mutter (Catherine Stoyan) holt sich eigene Lacher ab und die Homais kommen als Vorhut von Schwarzgrün vorbei."
In dieser "auf Wohlstandsrealitäten in Prenzlauer Berg getrimmten Theaterversion des Flaubertschen Kleinstadtklassikers" legten besonders Schwalm und Unbehaun als Apothekerpaar "nur wenig überzeichnete Figuren aus der unmittelbaren Umgebung aufs Parkett", meint Tom Mustroph im Neuen Deutschland (14.9.2011). Weise verdichte seine "Realitätskopien" zu einer Art "Revue, die grob dem erzählerischen Spannungsbogen der Flaubertschen Vorlage folgt und durch treffliche Gesangseinlagen des Deutsch-Argentiniers Sebastian Arranz" unterbrochen werde. "Richtige Flügel bekommt dieses Spiel allerdings erst dann verliehen", wenn Inga Busch "zu einem die Ekstasen der Liebe, des Shoppings und der (...) Wohltätigkeit durchtobenden Menschenwesen wird". Und im Ballhaus entwickle sich "ein wahrer Hurrikan der selbstbezüglichen Ironie", Weise habe hier "so etwas wie Prenzlberger Volkstheater entworfen". "Das verdient Anerkennung – und es birgt durchaus Kultpotenzial."
Dröscher und Weise reduzierten den Stoff auf eine knapp zweistündige "Prenzlauer-Berg-Sitcom", beschreibt auch Christine Wahl in ihrer Kurzkritik im Tagesspiegel (15.9.2011). Der Abend wolle "nicht mehr sein als eine lustige Vorführung der neuen Bürgerlichkeitsklischees am adäquaten Ort – allerdings mit einer sensationell ambivalenten Inga Busch in der Titelrolle". Das eröffne "eine völlig neue Perspektive" auf die Romanfigur.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
neueste kommentare >
-
Method, Berlin Meinungsjournalismus
-
Kleinstadtnovelle, Magdeburg Verständnisfrage
-
Sommernachtstraum, München Sehenswert
-
Method, Berlin Wo war Tscheplanowa?
-
Sommernachtstraum, München Sandwich statt Kuchen
-
Kultursender 3sat bedroht Muss bleiben
-
Method, Berlin Mehr als unangenehm
-
Method, Berlin Punktlandung
-
Kultursender 3sat bedroht Sportrechte
-
Vinge/Müller an die Volksbühne Völlige Planlosigkeit
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Als Pete Townsend in den 60ern als erster komplett Bühne, Schlagzeug und Gitarren zerkloppte, machte ihn das zu einem Vorläufer der Punks. Jahre später stellt er dem Kommunismus die Familie entgegen und behauptet: Das Revolutionärste, das man im 21.Jhd machen kann, ist Kinderkriegen.
Die großartige INGA BUSCH als Emma zu besetzen, ist der Status des Punk im 21.Jhd.
Unter Flaubert wird der Oberflächensieb gehalten und was übrig bleibt, von einer tollen anarchischen Schauspielerin vertreten. Einer Schauspielerin, die damit überhaupt nichts zu tun hat.
Das ist ein großartiger Versuch und lässt den Punk die Leere mit Emma teilen. Was man kaum ironiefrei auszusprechen wagt und doch auch eine Kritikerin beeindruckt: „Es gibt eine höhere Liebe, das ist die Liebe zum nächsten.“ Solche Versuche sollte es viel mehr geben.
Diese Inszenierung ist so langweilig, in ihrer Herzlosigkeit so ermüdend. Das ist nicht mal mehr netter Trash, das ist nur öde.
Was, bitte, ist an dieser M. Bovary interessant, was erfahren wir über uns heute (und das sollen wir ja offensichtlich), wenn wir auf diese sich ihrer schmierigen Sehnsucht hingebende Heulsuse hinabschauen (Hinaufschauen geht im Ballhaus ja nicht)?
Frau Peter, nicht die Abziehbild-Nachbarn sind gruselig, sondern diese Emma, sollte sie tatsächlich irgendeine reale Verwandte haben.
Und wie verwirrt, trotz aller Sehnsucht, muß eine Frau denn sein, wenn sie hofft, einer dieser beiden Trottel, Rodolphe oder Léon, könnte sie erretten?!
Da gibt es nicht eine Figur, nicht den Ansatz einer These in dieser Zurichtung. Da ist nicht Flaubert, nicht Sittenbild - nicht von gestern und nicht von heute.
Auch alles, was Komödie, Klamauk oder Klamotte sein möchte, bleibt da (im Ansatz) stecken und krepiert dann so langsam vor sich hin.
Inga Busch läßt ihre Madame Bovary am Anfang des "Stückes" darüber klagen, daß sie sich langweile. Unglücklicherweise habe ich das nicht als Warnung verstanden. Ich wäre unverzüglich gegangen ...
Vielleicht waren die von Ihnen gestrichenen Worte anmaßend. Mag sein.
Aber ich bleibe dabei: mir erscheint diese Unternehmung, eher so etwas wie Etikettenschwindel, Scharlatanerie zu sein. Im Titel heißt es: Madam Bovary. Sittenbild aus der Provinz. Nach Gustave Flaubert. Davon ist doch aber in der Inszenierung gar nichts übrig geblieben, außer ein paar Namen. Genauso gut hätte das Ganze auch "Delphine Delamare - Tod einer Arztgattin" heißen können. Denn viel mehr als der Flaubert inspirierende Zeitungartikel ist in der vorliegenden Fassung nicht zu erleben. Auch ein "Sittenbild" ist es nicht. Dafür bräuchte es schon eine andere dramatische und dramaturgische Qualität. Und ein Diskurs über Idealismus und Romantik fehlt völlig. Und wenn man die Lebensmaxime eines im Prenzlauer Berg (oder sonstwo) ansässigen, in neue Biedermeierlichkeit verfallenden Bürgertums karikieren will, braucht es eben mehr als ein paar (ich darf es nicht schreiben) Abziehbilder.
aber das ist doch genau das lustige an dieser umsetzung, dass hier nicht vergeblich dem roman hinterher gerannt wird, sondern eine ableitung für die bühne geschaffen wurde. ich habe den roman gerade gelesen und habe mich sehr über die "übersetzung" gefreut. die dramaturgie entspricht übrigens ziemlich genau der des romans. und ja...es ist nicht das buch! nix was auf irgendeiner bühne stattfindet an romanbearbeitungen ist mit den vorlagen zu vergleichen. das wäre auch sinnlos und langweilig. hier in dieser inszenierung erlebe ich einen intelligenten umgang mit dem stoff der mir wieder lust auf das buch macht.
"Allgemein folgt das Geschehen (einer sitcom) einer 'zirkulären Dramaturgie' – die Figuren sind am Ende der Episode so klug wie zuvor. Dies hat zur Folge, dass Sitcoms prinzipiell eine eher konservative Ausrichtung haben. Seriencharaktere dürfen daher nicht sterben oder ernsthafte bzw. tragische Ereignisse erleben (Vergewaltigung, 'schmutzige Scheidung', Mord, Selbstmord, Abtreibung)." (copy 'n paste aus http://de.wikipedia.org/wiki/Sitcom).