Berlau :: Königreich der Geister - Berliner Ensemble
"Du siehst aus wie Einsamkeit"
6. Mai 2022. Am Berliner Ensemble sind die Geister lebendig. Allen voran der Hausgeist Bertolt Brecht und seine Partnerin und Ko-Autorin Ruth Berlau. Der ebenso kreativen wie ruinösen Beziehung der beiden widmet sich das Kollektiv "Raum+Zeit" mit seinem Virtual-Reality-Parcours "Berlau::Königreich der Geister".
Von Stephanie Drees
6. Mai 2022. Es ist DIE Frage zum Verfremdungseffekt, so simpel und doch so treffend: "Was machst du da?", fragt mich der Mann, mittleres Alter, schwarz umrandete Brillengläser, von der Rampe der Bühne herunter. Obwohl: So ganz stimmt das nicht. Er wirft mir diese Worte zu, schmeißt sie mir mit Wucht an den Kopf, sie sollen mich treffen, aber eigentlich spricht er mit sich selbst, ein kleines Manifest der Autorität spuckt er vor mir aus, während ich in der Mitte eines Zuschauerraums sitze. Es ist der Saal des Berliner Ensembles. Ich ahne: Dies hier wäre der perfekte Platz, von dem aus die Regie-Alphatiere ihre Anweisungen rufen, in einer Probe die Raumwirkung testen und gleichzeitig Aura versprühen, dieses Klischeebild, wie mehr oder minder patriarchale Theaterarbeit eben läuft, aber…ich bin eben keine Regisseurin und auch kein Regisseur. Scheinbar bin ich falsch, total falsch.
Der Mann verschwindet von der Bühne und taucht plötzlich neben mir in der Sitzreihe auf: Fehl am Platze sei ich, wie diese Mutter im Stück, die allen auf die Nerven gehe, verschwinden solle ich, niemand müsse sich um mich kümmern. Ein Kind, ein Junge, sitzt dann neben mir, seine Gestalt flackert, spukt herein, wie eine Alptraumgestalt aus einem Horrorfilm. Der Mann, das habe ich bereits kapiert, ist Bertolt Brecht. "Es ist ja nicht die Wirklichkeit. Es hat mit dir nichts mehr zu tun".
Ruth Berlau im Herrschaftssystem des Theaters
Im Brecht'schen Sinne bin ich grade eine gute Theaterbesucherin, denke ich, während ich mich von einem Guide im schwarzen Engel-Look in einen anderen Raum führen lasse: Während ich noch darüber sinniere, wie viel inneren Widerstand das soeben Erlebte in mir auslöst, was für eine Art von Herrschaftssystem sich mir da zeigte, leuchtet ein kleiner, kurzer Schmerz auf: Diese Ruth Berlau, deren alptraumhafte Wirklichkeit ich soeben mit einer Virtual-Reality-Brille auf der Nase besuchen konnte, verlor ihren Sohn, Michel, wenige Tage nach seiner Geburt. Und das, was Brecht, mein Arbeitspartner, Mentor, Liebhaber, nein, Moment: Ruth Berlaus Arbeitspartner undsoweiter dort oben auf der Bühne probte, war wohl der "Kaukasische Kreidekreis", die Mütter-Anspielung: deutlich. Doch ich habe wenig Zeit, dem Schmerz nachzugehen. Im nächsten Raum wartet eine Ruth Berlau in akuter Krisen-Situation auf mich.
Ruth Berlau, deren Name lange Zeit nur im Kontext "Brecht und seine Frauen" Erwähnung fand, war viele Jahre lang eine höchst eigenständige Schauspielerin, Autorin, Fotografin, Regisseurin und Abenteurerin. Doch ihr Lebens- und Schaffensmittelpunkt drehte sich ab dem Zusammentreffen mit Brecht vor allem um einen: Brecht – bis in eine schwere Abhängigkeit hinein. Sie wird Chronistin und Vermittlerin seiner Arbeit, inszeniert, archiviert und kämpft für seine Bekanntheit, auch im Exil. Als Geliebte und – später – als Arbeitspartnerin wird er sie fallen lassen, auch wenn eine Verbundenheit bis zu seinem Tode bestehen soll. Nichtsdestotrotz: Sie wird daran zerbrechen.
Wirkungskunst aus der Virtual-Reality-Brille
Es ist charakteristisch für die Arbeiten des Theaterkollektivs "Raum+Zeit" um Dramaturgin Alexandra Althoff, Autor Lothar Kittstein und Regisseur Bernhard Mikeska, dass sie auch als Meta-Kommentar auf das Theater, diese Wirkungsmaschine, zu lesen sind. Vielleicht beschäftigt sich die Gruppe (auch) deswegen so gerne mit BB – beziehungsweise dem Menschengeflecht um ihn herum, das seine Arbeit zeitlebens ermöglichte, stützte und bei genauer Betrachtung eben jene Lebenswidersprüche spiegelt, in denen der Großmeister lebte. Und in denen zugegebenermaßen viele Menschen leben, für die hochtouriges Erschaffen über menschlicher Integrität steht.
Für das Öl, das die Wirkungsmaschine schmiert, interessiert sich das Kollektiv von Anfang an: In wechselnden Konstellationen, erweitert durch die Zusammenarbeit mit anderen Dramaturg:innen, Bühnenbildner:innen und Sounddesigner:innen entstehen Arbeiten, in denen das Publikum aktiviert wird, Wirklichkeitsebenen im wahrsten Sinne zu betreten: Mittels Virtual-Reality-Kunst, auf Parcours, die durch kleine, intime Räume führen, in denen man mitunter allein mit den Spieler:innen ist. Der Situation einerseits ausgeliefert, andererseits ein Gegenpart, der – auch das zeigt diese Arbeit im Werkraum des Berliner Ensembles auf eindrückliche Weise – gewollt wie ungewollt die Atmosphäre der Szenen mitgestaltet. Darauf lassen sich auch die Spieler:innen ein.
"Berlau :: Königreich der Geister" erinnert in seinem traumwandlerischen Geschmack, seiner düsteren Intensität, am meisten an den Vorgänger "Antigone :: Comeback". 2019 wurde die Arbeit zum Schweizer Theatertreffen eingeladen. In ihr loteten "Raum+Zeit" das Arbeits-, Liebes- und Herrschaftsverhältnis von Brecht und seiner Ehefrau Helene Weigel aus und schickten die Zuschauer:innen, oder besser: Teilnehmer:innen, nicht nur in Vexierspiele um Wahrnehmung und Wirklichkeit. Sondern, genau genommen, auch durch verschiedene Rollen – ist man denn gewillt, sie anzunehmen.
Drei Lebensstadien von Ruth Berlau
Der eigentliche Kniff dabei ist, dass dies auch ausschließlich durch die innere Beteiligung des Publikums funktionieren kann. Drei Ruth Berlaus begegnen mir an diesem Abend, gespielt von den drei grandiosen Schauspieler:innen Esther Hausmann, Amelie Willberg und Susanne Wolff. Sie sind an Wendepunkten, Sollbruchstellen ihres Lebens. Die Zimmer, in denen ich sie treffe, sind Kopien voneinander: Ein schmales Bett, an der kargen, weißen Wand ist ein Waschbecken angebracht. Sie erinnern an die Zimmer von Psychiatrien, in denen Ruth Berlau viele Jahre ihres Lebens verbracht hat. Oder: an einfache Übergangsbehausungen in Brechts Exil. "Du siehst aus wie Einsamkeit", wirft mir die junge Ruth Berlau spöttisch und traurig entgegen.
Hier trage ich keine VR-Brille, hier ist alles unmittelbar. Auf einem Stuhl sitzt eine zutiefst verletzte Ruth Berlau in ihren Dreißigern, die jüngst ihr Kind verloren hat. Hinter der Tür des nächsten Raumes wartet eine junge, kokette, ungestüm verführende Ruth, im letzten eine desillusionierte, abgekämpfte Berlau, die eine zynisch-spöttische Lebensbilanz zieht. Monologe mit kunstvollen Pausen stellen mir viele Fragen, doch: Ich muss nicht antworten, um eine Handlung voranzutreiben. Für sie bin ich eine Anspielpartnerin, die mal Brecht, mal das jüngere Ich verkörpert. Eine Projektionsfläche, in der nach und nach die Scham, die Trauer, das Mitgefühl hochkrabbelt.
Es ist eine besondere Art von Neubelebung eines gänzlich ungebrochenen, psychologischen Spiels, das "Raum+Zeit" hier zeigen. Ein Leben, festgehalten in hochintensiven Schlaglichtern.
Berlau :: Königreich der Geister
von Raum+Zeit
Regie: Bernhard Mikeska, Text: Lothar Kittstein, Raum: Steffi Wurster, Kostüme: Pauline Hüners, Sounddesign: Knut Jensen, 360° Film : Raum-Zeit , INVR.SPACE GmbH, Dramaturgie: Male Günther.
Mit: Esther Hausmann, Amelie Willberg, Susanne Wolff sowie in VR: Martin Rentzsch und Charlie Schrein.
Premiere am 5. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
"Nur zwei Handgriffe sind erforderlich, schon befindet man sich andernorts: auf oder vor der Bühne des Berliner Ensembles etwa", staunt Erik Zielke im nd (6.5.2022) über dieses "immersive Überwältigungstheater". Es werde keine "Biografie medial aufbereitet", sondern "Schlaglichter" geworfen, die in dieser "soghaften Darbietung erzählt werden". Brecht selbst wäre – bei aller Freude an der Technik – diese Form der aufs "Mitleid" zielenden "Illusionskunst" wahrscheinlich "suspekt geblieben", meint der Rezensent, und fragt: "Wurde nicht an diesem Haus, an Brechts Berliner Ensemble, einmal ganz anders über die Aktivierung des Publikums nachgedacht?"
Raum + Zeit gelinge eine ungemein intensive Erfahrung, so Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (6.5.2022). Man werde in der Performance "zum Spielball der Eindrücke und Assoziationen". Sie lehre einen, "dass es möglich ist, zugleich da und nicht da zu sein, gemeint und nicht gemeint zu sein".
"Was in diesen Treffen" mit den Schauspielerinnen "passiert, ist unbeschreiblich. Die Nähe zu den Schauspielerinnen und der unüblich lange Blickkontakt lassen eine Intimität entstehen, die als Zuschauerin schwer auszuhalten und gleichzeitig unglaublich faszinierend ist." So berichtet Andrea Paluch in der taz (24.5.2022) über den Abend, den sie voll "Bewunderung" erlebte: "Ich für meinen Teil hatte noch nie einen so intensiven, verwirrenden, außergewöhnlichen, süchtig machenden Theaterabend wie diesen."
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nachtkritikvorschau
Doch nicht nur die dreifache Ruth Berlau bedrängt uns an diesem Abend, sondern auch Meister Brecht selbst. In einer VR-Installation finden wir uns erst im Publikumssaal, später in einem Kreidekreis auf der Bühne des BE wieder. Herrisch schnauzt Brecht den Solo-Zuschauer an. Am Temperament jedes Einzelnen liegt es, ob er Contra gibt oder einfach nur als stumme „Anspielwurst“ die Attacken über sich ergehen lässt. Es ist eine Stärke dieses immersiven Abends, der sich aus biographischen Schnipseln über das Verhältnis von Berlau zu Brecht zusammensetzt, dass er in beiden Fällen funktioniert.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/05/12/berlau-konigreich-der-geister-theater-kritik/