Reinen Wein eingeschenkt

25. Februar 2024. Marius von Mayenburg ist Experte für elegante Konversationsstücke. Sein neuestes Werk, das Oliver Reese am Berliner Ensemble herausbringt, leuchtet in die Untiefen der Verhältnisse zwischen Lehrerin und Schülerin und Lehrerin und Lehrer. Starker Tobak, aber elegant kredenzt.

Von Michael Wolf

Marius von Mayenburgs "Ellen Babić" in der Regie von Oliver Reese © Matthias Horn

25. Februar 2024. Jeder weiß: Alkohol ist "dein Sanitäter in der Not" (Grönemeyer), die Volksdroge Nummer 1 und wirkt Wunder gegen Nacktschnecken. Viel zu selten wird dagegen seine poetologische Potenz gewürdigt. Bier, Wein und Schnaps sind die dramaturgischen Mittel erster Wahl einer bestimmen Sorte von Gegenwartsstücken.

Diese spielen für die Dauer eines Abends im Wohn- oder Esszimmer eines Paares, das am Ende oftmals keines mehr ist, weil in der Zwischenzeit – oft mit unerwünschten Gästen – eben Glas um Glas geleert und derweil Lebenslüge um Lebenslüge aufgedeckt wurde. Yasmina Reza erlangte mit diesem Genre Berühmtheit, Marius von Mayenburg folgt ihr nach. Auch während der Deutschsprachigen Erstaufführung seines Stücks im Neuen Haus am Berliner Ensemble bechern die drei Charaktere auf ihre jeweilige Art und Weise einiges weg.

Dein Sanitäter in der Not

Lehrerin Astrid, gespielt von Bettina Hoppe, sorgt stetig für Nachschub, nippt selbst aber nur vorsichtig und verliert ihr Glas schnell aus den Augen. Sie will ersichtlich keinen Rausch, ringt vielmehr um Kontrolle, weiß sie doch, wie viel für sie auf dem Spiel steht.

Ihr Chef Wolfram (Tilo Nest) stürzt den Weißwein dagegen hinunter, als handelte es sich um ein dringend nötiges Heilmittel. Nur wogegen? Gegen die Wahrheit vielleicht, gegen das, was er über Astrid erfährt, und vor allem gegen das, was sie über ihn weiß. Er trinkt wie ein Kind, das die Augen mit den Händen verschließt und glaubt, dass es nicht gesehen wird. Erfolg hat er damit keinen, denn auch Klara (Lili Epply), Astrids langjährige Partnerin und ehemalige Schülerin, schöpft aus dem Vollen und gießt dem Gast in einer Szene die ganze Flasche über den Schoß.

Missbrauch auf der Klassenfahrt?

Es ist nicht das einzige Gelage, ein weiteres Besäufnis treibt die Handlung voran. Während der letzten Klassenfahrt habe sich ein Mädchen so übel betrunken, dass Astrid sie in ihrem Zimmer habe ausnüchtern lassen. Das ist zumindest ihre Version der Geschehnisse. "Ellen Babić“ selbst, so der titelgebende Name der Schülerin, hat eine andere Erinnerung. Sie behauptet, die Lehrerin habe sie betäubt und mindestens unsittlich berührt.

Als Wolfram die Lehrerin mit den Vorwürfen konfrontiert, lässt diese sich nicht so leicht in die Ecke drängen und wirft ihrerseits dem Chef vor, er habe sie über Jahre hinweg sexuell belästigt. Wer lügt? Wer sagt die Wahrheit? Wer trägt Schuld? Auf die klare Beantwortung solcher Fragen verzichtet von Mayenburg. Er setzt sich stattdessen zum Ziel, das Dickicht von Machtverhältnissen auszuleuchten, in denen persönliche Grenzen gefährdet sind.

Gut gebaut

Ein Großteil des Geschehens findet in einer quaderförmigen Vertiefung im Bühnenboden statt, was nicht viel erzählt, aber auch nicht stört. An den Seiten liegen ein paar Schulmöbel, eine typische Bank aus dem Sportunterricht, ein Tisch, Holzstühle, Bücherstapel. Hin und wieder lässt BE-Intendant Oliver Reese ein paar Klaviernoten einspielen, ansonsten sind da keine Regie-Ideen, wo sie die gut gebaute Struktur des Stücks ohnehin nur stören würden.

Was dagegen fehlt, ist eine entschiedenere Führung der Schauspieler. Zwar sieht man dem Trio gerne zu und lässt sich insbesondere von Tilo Nest bestens unterhalten, der seine Figur gekonnt zwischen Oberstudienrat, Machtmensch und verhindertem Künstler changieren lässt. Doch die Wendepunkte im Plot, an denen die Figuren noch einmal in einem ganz neuen Licht erscheinen sollen, kommen nicht immer hinreichend zur Geltung. Das ist bedauerlich, weil gerade in diesen Stellen die Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen verdeutlicht wird.

Ellen Babic 9 Matthias HornTatort Schule: Bettina Hoppe und Lili Epply verhandeln Lehramt- und Beziehungsprobleme © Matthias Horn

Mehrmals fällt das Wort "Schutz" an diesem Abend. Astrid verteidigt den Schulleiter zunächst, dieser habe sie oft vor Eltern und Kollegen abgeschirmt. Später jedoch erweist sich dieser Schutz als Strategie der Erpressung, als Versuch, sich die jüngere Kollegin gefügig zu machen. Aber hat diese wirklich anders gehandelt, als sie Klara damals verführte?

Immer ist es ein Missverhältnis an Sicherheit und Stärke, das die Beziehungen ins Bedrohliche kippen lässt. Eine solches Ungleichgewicht ist freilich fast jedem Verhältnis zueigen, was Marius von Mayenburg jedoch nicht dazu motiviert, Intimität per se zu verabschieden. Die Möglichkeit echter Nähe bleibt in seinem Stück gewahrt. Ein Happy End ist hier zwar nicht zu erwarten doch wenigstens vorstellbar.

 

Ellen Babić
von Marius von Mayenburg
Regie: Oliver Reese, Bühne: Janina Kuhlmann, Kostüme: Elina Schnizler, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Steffen Heinke, Dramaturgie: Lukas Nowak.
Mit: Bettina Hoppe, Lili Epply. Tilo Nest.
Premiere am 24. Februar 2024
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

"Nach Jahren hat Mayenburg endlich einmal wieder ein Kammerspiel vorgelegt, das vielschichtige Figuren entwirft und in ungeheuer schnellen, lebensechten Dialogen Spannung erzeugt wie im Krimi", so Barbara Behrendt im rbb (25.2.2024). In Oliver Reeses zurückgenommener Regie dürfe das Ensemble gekonnt psychologischen Realismus spielen und sich auf einem Wohnzimmer-Quadrat dicht umkreisen. "Wie Bettina Hoppe und Tilo Nest die Abgründe ihrer beiden Gegenspieler:innen erforschen, das ist elektrisierend."

Es sei durchaus spannend, dem zuzugucken, findet Tobi Müller im Deutschlandfunk Kultur (24.2.2024). Wenn man solche Kammerspiele möge, sei das toll geschrieben. Problematisch sei, dass der Abend die Graubereiche betone, die Abmbivalenz feiere. Aber es gebe eben auch klare Linien. Gerade im Theater gebe es in Macht- und Übergriffigkeitsfragen oft zu viele Graubereiche, "wo man hätte sagen müssen, da muss man jetzt genauer draufgucken".

Oliver Reese hat sich jedweden Regieeinfall, der vom Kern dieses Psychodramas im höheren Diskurskontext ablenken könnte, gespart und setzt ganz auf das spielende Trio, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (25.2.2024). Und das transportiere "die minuziösen Verschiebungen im Machtgefüge, das plötzliche Aufleuchten eines strategischen Interesses hinter kollegialer Sympathie und den schwer greifbaren Übertritt vom Berufskontext in die Privatsphäre … wirklich bestens über die Rampe“. Wer das Genre des psychorealistischen Kammerspiels möge und zudem "Freude an den gar nicht so häufigen Theaterabenden hat, bei denen am Ende nicht alles so ist, wie es bereits in der ersten Minute schien“ sei bei "Ellen Babić“ gut aufgehoben, so die Kritikerin.

Die "in alle Richtungen ausstäubende Klischeezertrümmerung" die Mayenburg hier serviere, bleibe "in Oliver Reeses hölzerner, wie auf dem Reißbrett festgenagelter Personenführung“ leider "bleischwer am Boden" mein Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (25.2.2024). "Als sei es eine griechische Tragödie, kämpfen die drei in einem schwarzen Sitzecken-Quadrat bitter, verhärmt um ihren Text. Bis alles Spannende, Flirrende darin verstummt.“

Das Stück ziehe seine Spannung aus dem Ungesagten, dem Unaufgeklärten, so Volker Blech in der Berliner Morgenpost (26.2.2024). "Klara war einmal Schülerin von Astrid, seither leben sie zusammen. Das Wort Missbrauch fällt erst spät im Stück." Hausherr Oliver Reese habe nicht nur ein Dreipersonenstück, sondern ein Dreigenerationenstück auf die Bühne gebracht und sich dabei ganz auf seine Darstellerschar verlassen. "Das Großartige an diesem Abend ist, dass er den Zuschauer mit vielfältigen Ungewissheiten konfrontiert und ihm Raum für eigene Schlussfolgerungen lässt."

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