Tradition verpflichtet

27. August 2023. Das Berliner Ensemble startet mit einer Hommage an den Hausgeist in die neue Spielzeit: Brecht-Lieder mit Musik von Hanns Eisler und anderen. Intendant und Regisseur Oliver Reese holte dafür mit Katharine Mehrling eine Sängerin an den Schiffbauerdamm, die normalerweise an Berlins Musical- und Opernbühnen brilliert. Ihr Auftritt ist ein Coup.

Von Georg Kasch

"Fremder als der Mond" am Berliner Ensemble © JR / Berliner Ensemble

27. August 2023. Es gibt Schauspieler:innen, die erkennt man sofort wieder – an ihrer Stimme. Sophie Rois gehört dazu, Valery Tscheplanowa, Margit Bendokat. So angeraut und zugleich klangsatt, so vielfarbig schillernd, bei Bedarf auch scharf und mit einer ganz eigenen Diktion gesegnet muss man sich auch Katharine Mehrling vorstellen. Wenn es bei uns so etwas wie eine Musical-Starkultur gäbe, dann wäre Mehrling der Goldstandard: eine Markenzeichen-Stimme, die unmittelbar berührt, dazu ein immenses Schauspieltalent. Dank ihrer Musical- und Operetten-Rollen an der Komischen Oper, ihren Liederabenden in der Bar jeder Vernunft, ihren Crossover-Gratwanderungen im Schlosspark- und Renaissance-Theater muss man zumindest in Berlin kaum jemandem mehr Mehrlings Bedeutung und Können erklären. 

Zwischen Staat und Menschen

Jetzt hat Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, etwas getan, was längt überfällig war: Mehrling für eine große Schauspielbühne zu gewinnen. Natürlich mit einem Liederabend, der an dieser Bühne Tradition hat. Natürlich mit Texten Bertolt Brechts, vertont von Hanns Eisler und anderen. Unter dem Titel "Fremder als der Mond" haben Reese, Dramaturg Lucien Strauch und der musikalische Leiter Adam Benzwi (auch er hat sich an der Komischen Oper einen Namen gemacht und dirigiert am BE Barrie Koskys Dreigroschenoper) einen Abend geschaffen, der zwischen Liederabend, Brecht-Relektüre und biografischem Bilderreigen funktioniert: Da unterbrechen Tagebuchzeilen Gedichte, prallen Verse auf Prosa. Ein Beispiel: Brecht berichtet davon, dass er sich in Kalifornien nicht wohlfühlt, da folgt das Gedicht "Liebeslied aus einer schlechten Zeit" (aus dem auch der Titel des Abends stammt), so dass eine zwischenmenschliche Beziehung eine zwischen Mensch und Staat kommentiert.

Zeigen Präsenz: Katharine Mehrling, Paul Herwig © JR / Berliner Ensemble

Bestenfalls hört man durch solche Kombinationen neu hin. Und anders als ähnlich geartete Abende unter Claus Peymann wird "Fremder als der Mond" auch nicht zur reinen Heldenverehrung. Manchmal aber rauschen Brechts Texte auch nur freundlich vorüber. Was durchaus auch an Paul Herwig liegt. Oft spricht er, als synchronisiere er US-amerikanische Serien: immer ein bisschen drüber, affektiert, vorgespielt. Dazu illustriert er mit seinen Händen, was die Worte längst vermittelt haben. Wenn er singt, dann hat seine Stimme eigentlich etwas Imperfekt-Naives, das gut zu Brecht passt. Wenn er aber zu gestalten beginnt, packt er immer eine Schippe zu viel drauf. In "O Falladah, die du hangest!" schnaubt er wie ein Pferd, beim "Kinderkreuzzug 1939" zerbröselt ihm jeder Rhythmus.

Mehrling triumphiert

Das ist natürlich auch deshalb so schade, weil Mehrling zum Niederknien gut ist. Sie hat die Härte von Helene Weigel und Gisela May, kann aber auch jederzeit in Jazz-Taumel oder Musical-Jubel umschalten. Toll, wie sie "Das Lied vom Weib des Nazisoldaten" gestaltet, als wilde Cabaret-Nummer im Hochzeitskleid – und dann die letzte Strophe a cappella erklingt. (Und toll, wie Benzwi hier Eisler sehr frei arrangiert, wie hemmungslos er und seine Musiker das spielen!) Oder wie sie in "Mutter Beimlein" als unheimlicher Harlekin die Treppe heruntersteigt und dabei wie ein Maschinchen singt, völlig unsentimental.

Bilderbogen der deutlichen Art

Reese ordnet das alles sehr ordentlich und nachvollziehbar an in Hansjörg Hartungs grauem, flachen Bühnenkasten, in dessen Rückwand sich weitere Spielräume öffnen lassen. Hier treten Mehrling und Herwig in grünen Overalls auf, die Elina Schnizler augenzwinkernd mit der Marke "Brecht" versehen hat (später wechseln sie je nach Anlass die Kostüme). Zuweilen wirken die Bilder, die Reese baut, etwas vorhersagbar – was passiert wohl, wenn eine Axt und ein hölzerner IKEA-Stuhl auf die Bühne getragen werden? Und ob es all die Fotos und Videos braucht, die von den Nazis und Schlachthäusern, den Manhattan-Wolkenkratzern und dem Dorotheenstädtischen Friedhof, die über die Bühnenrückwand flimmern?

Aber davon muss man sich auch nicht weiter stören lassen, sondern kann sich Mehrlings Präsenz ergeben. Etwa der Dringlichkeit, mit der sie Paul Dessaus "Lied der Mutter Courage" singt. Es klingt wie eine Empfehlung.

Fremder als der Mond
Texte von Bertolt Brecht mit Musik von Hanns Eisler u.a.
Fassung von Adam Benzwi, Oliver Reese und Lucien Strauch
Regie: Oliver Reese, Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler, Video: Andreas Deinert, Licht: Steffen Heinke, Choreografie: Leslie Unger, Dramaturgie: Lucien Strauch.
Mit: Katharine Mehrling, Paul Herweg, Musiker: Adam Benzwi, Karola Elßner, Ralf Templin, Otwin Zipp.
Premiere am 26. August 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

"Paul Herwig rezitiert meist solide bis belehrend, leider oft mit gepresster Stimme, was die Verständlichkeit mindert," schreibt Irene Bazinger in der Berliner Zeitung (28.8.2023). "Aber das ist nicht so wichtig, weil Katharine Mehrling alles wieder gutmacht. Sie gibt den Songs und Texten hinreißend frisches emotionales Blut und die nötige kühle, intellektuelle Stringenz. Den trockenen Ton, den sich Brecht wünschte – nicht mit seelenlos zu verwechseln – beherrscht sie grandios." Das klingt für die Kritikerin nicht mehr nach Musical, sondern – "vielleicht dank Benzwi, dem höchstbegabten Vokalpädagogen weit und breit" – nach Verfremdung und Verführung.

Von einem Abend "der es in sich hat," schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (28.8.2023). Angelehnt an Brechts Biografie sei er einerseits "ein Potpourri bekannter und abgelegener Brecht-Hits, begleitet von Brechts Aufzeichnungen aus dem Arbeitsjournal, also nicht ganz weit weg von der Nostalgiezone der Brecht-Gemeinde und vermutlich problemlos Kulturtourismus-kompatibel." Aber andererseits ist der Abend dem Eindruck dieses Kritikers zufolge dank Katharine Mehrling und Paul Herwig, "den beiden glänzend aufgelegten Schauspielern, und Adam Benzwis tollem kleinem Orchester, eben auch sehr viel mehr als ein Mitbringsel aus dem Brecht-Fanshop." Nämlich großer Spaß.

"Es ist ein guter Move des Intendanten Reese, einen Brecht-Liederabend mit einer Star-Sängerin wie Katharine Mehrling auf den Spielplan des Brecht-Theaters zu setzen, der garantiert sein Publikum finden wird," so Barbara Behrendt im RB24. "Der Regisseur Reese aber lässt es bei einer Nummern-Revue bewenden, die Brecht als Charakter eher schwächlich zeichnet."

"Seltsam ausgebremst" wirkt der Abend auf Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (28.8.2023), was aus ihrer Sicht nicht an seinen Grundzutaten liegt. Denn das Rezept sei "anlassgemäß gut abgemischt zwischen sehr oft und eher selten Gehörtem, zwischen der Lyrik und Brechts Tagebüchern und Arbeitsjournalen sowie, natürlich, den vorzugsweise von Mehrling intonierten Gassenhauern von Hanns Eisler und anderen."Das Problem liege vielmehr darin, "dass hier jeder szenische Einfall praktisch eins zu eins abbildet, was gerade gesprochen oder gesungen wird."

Das Berliner Ensemble komme mit Oliver Reeses Brecht-Abend "fulminant aus der Sommerpause", schreibt Jakob Hayner in der Welt (30.8.23). Es sei "ein Abend nicht nur – aber auch! – für Fans", urteilt der Kritiker: "Wer mit Brecht bisher wenig zu tun hatte, erfährt durch Texte zwischen den Liedern mehr über den Dichter und sein Leben". Gaststar Katharine Mehrling sei schlicht ein "Ereignis" – wohingegen ihr Ko-Akteur Paul Herwig allerdings gelegentlich etwas zu dick auftrage und damit "den Blick aufs Metaphorische" verstelle: "Gegen die bezaubernde Leichtigkeit von Mehrling wirkt Herwig wie der Bodenturner neben der Trapezkünstlerin", so Hayner.

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Fremder als der Mond, Berlin: Flirt mit dem Publikum
In „Fremder als der Mond“ ist Mehrlings tolle Stimme, begleitet von drei Live-Musikern unter Benzwis Leitung, erstmals am BE zu erleben. Ihre zweite große Stärke, der Flirt mit dem Publikum bei eleganten Überleitungen, kommt an diesem Abend leider nicht zur Geltung: Nummer reiht sich an Nummer, nichts soll von Brecht ablenken. Mehrling/Herwig tragen meist eine Kluft, die an Brechts Arbeitskittel erinnert, ab und zu wirft sich Mehrling in elegantere Abendrobe oder für ein Fragment aus "Mutter Courage und ihre Kinder" in den ärmlichen Look der Marketenderin. Im Hintergrund flimmern Andreas Deinerts Video-Einspieler, die Brechts Lebensstationen wie z.B. sein Exil in Kalifornien oder die Arbeit an seiner Schreibmaschine assoziativ bebildern.

Die Collage „Fremder als der Mond“ ist vor allem für Brechtianer: zwei Stunden lang werden die Texte des Meisters aus verschiedenen Schaffensphasen präsentiert, handwerklich schnörkellos, ohne überraschende künstlerische Momente.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/08/26/fremder-als-der-mond-berliner-ensemble-kritik/
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