heiner 1-4 (engel fliegend, abgelauscht) - Fritz Katers Müller-Kolportage-Stück von Lars-Ole Walburg am Berliner Ensemble inszeniert
Heiner-Müller-Deklamations-Schock
von Esther Slevogt
Berlin, 26. Januar 2019. Es ist schon sehr gewöhnungsbedürftig, wenn Heiner Müllers süffisante Sentenzen, von ihm selbst dereinst eher unterschwellig gemurmelt als wirklich gesprochen, nun mit dem hehren Pathos deutscher Stadttheaterschauspieler deklamiert werden. Müllers böse funkelnde Bonmots, die gern gleich mehrere Reizworte deutschen Horrors dialektisch miteinander kreuzten, von Hitler und Stalin über Auschwitz bis Stalingrad. Weil der Dichter sich gern und mit diebischer Freude aus dem Giftschrank der deutschen Geschichte bediente, die ihm reiches Material für seine saftigen wie verrätselten Dramen bot.
Aber Müller hatte eben auch das Interview, wo er seine Weltsicht und die daraus resultierende Poetik aphoristisch erläuterte, zur eigenen Kunstform entwickelt. Besondere Wirkung erzeugte er hier mit einer gewissen Orakelhaftigkeit.
Schrille Kolportage
Deshalb ist es wirklich ein Schock, wenn man nun im Berliner Ensemble (das Müller am Ende seines Lebens geleitet hat) Müller-O-Töne plötzlich gebrüllt, deklamiert und bedeutungsschwanger in den Bühnenhimmel hinein gesprochen hört. Und zwar in dem kleinen Abend "heiner 1-4 (engel fliegend, abgelauscht)", von Fritz Kater geschrieben, von Lars-Ole Walburg inszeniert.
Die Kombination Heiner Müller und Fritz Kater ist nicht gerade zwingend – außer, das beide eine Ost-Biografie haben: hier der wuchtige Historienmaler mit seinen wüsten Überschreibungen, da der behutsame Beobachter der kleinen Leute, aus deren DDR-Verlust-Geschichten Fritz Kater (in den Inszenierungen seines Alter Egos Armin Petras) im ersten Jahrzehnt des Jahrtausends poetische Panoramen machte. Aber das ist sehr lange her. Jetzt, im Berliner Ensemble wird Heiner Müller einfach kolportagehaft ins Private geschrumpft.
Die Textvorlage startet mit Beschreibungen der Fotografien aus dem Fotobuch "Der Tod ist ein Irrtum", das Müllers letzte Frau, die Fotografin Brigitte Maria Mayer 2005 herausgegeben hat. Darin sind in sehr privaten Bildern Müllers letzte Lebensjahre dokumentiert, die gleichzeitig die Geschichte der Ehe Mayers und Müllers waren. "Bildbeschreibung" ist der Akt großspurig nach einem berühmten Text von Heiner Müller überschrieben.
Stolpern bei Stichwort Stalingrad
Die Schauspieler schauen bedeutungsvoll ins Publikum, als sähen sie an der Rückwand des Zuschauerraums tatsächlich die Bilder, von denen sie sprechen. Doch beschreiben sie gar keine Bilder. Es werden nur voyeuristische Mutmaßungen über Gefühle und Gedanken der Abgebildeten angestellt: Heiner Müller, seine junge Frau und das gemeinsame Kind, das sie bald hatten.
Verschnitten werden diese Szenen mit Sätzen aus den Gesprächen, die Müller unter anderem mit Alexander Kluge führte. Dies wird von Lars-Ole Walburg getreulich bebildert. Da sitzt dann ein Schauspieler mit Helmut-Kohl-Maske im Sessel, stolpert beim Stichwort "Stalingrad" ein Wehrmachtssoldat zombiehaft über die Bühne. Ein DDR-Volkspolizist fehlt natürlich auch nicht. Und als Müllers Stasi-Mitarbeit zur Sprache kommt, da taumelt die Schauspielerin Carina Zichner über einen Balken in schwindelnder Höhe und verliert fast die Balance. Man sieht den Dichter dichten - mit Schreibmaschine an einem dreibeinigen Schreibtisch, der selbstredend irgendwann zusammenbricht. Schließlich hatte Müller nach dem Mauerfall eine Schreibblockade.
Insider-Gags
Im dritten Akt stehen dann auf diesem Schreibtisch mit schrillen Perücken die fünf Schauspieler*innen und mimen in greller Kolportagehaftigkeit Szenen aus Müllers chaotischer BE-Intendanz in den letzten Monaten vor seinem Tod: als Müller, schon sterbenskrank, mit Martin Wuttke Brechts "Arturo Ui" inszenierte – eine Inszenierung übrigens, die bis heute auf dem Spielplan steht. Anwesende Zeitzeugen und Gemeinte im Publikum glucksen wissend bei den Insider-Gags. Heutige und Uneingeweihte, die vielleicht gekommen sind, um etwas darüber zu erfahren, was Müller der heutigen Zeit noch zu sagen haben könnte, werden allerdings in diesem lieblos zusammengeschusterten Abend nicht fündig und gehen eher frustriert nach Hause.
heiner 1-4 (engel fliegend, abgelauscht)
von Fritz Kater
Uraufführung
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Nina Gundlach, Musik: Tomek Kolczynski, Licht: Benjamin Schwigon, Dramaturgie: Stefan Wetzel.
Mit: Bardo Böhlefeld, Felix Rech, Veit Schubert, Kathrin Wehlisch, Carina Zichner.
Premiere am 26. Januar 2019
Dauer: 1 Stunden 50 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
"Nach diesem Abend will man sofort alles von Heiner Müller lesen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (28.1.2019). Fritz Kater erzähle, "nur in Bildbeschreibungen, diskret, sachlich und klar, eine Liebesgeschichte". Drumherum unterhaltsamer Spott. "Lars-Ole Walburg inszeniert die Uraufführung im Kleinen Haus klug und unprätentiös. Ein paar gute Schauspieler (der bewährte BE-Veteran Veit Schubert, die großartige Kathrin Wehlisch, Carina Zichner, Bardo Böhlefeld und Felix Rech, der sowieso immer gut ist) spielen lässig, klar und angenehm pathosfrei in einer Probebühnensituation."
"Bildbeschreibungen, in Anspielung auf Müllers berühmten Text 'Bildbeschreibung'. Dessen Hermetik und Härte erreicht 'heiner 1-4' im Kleinen Haus des BE allerdings in keinem Moment", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (28.1.2019). "Erkennbar ringt Walburgs Inszenierung um ihre Form. Sie bleibt in gut anderthalb Stunden eine offene Versuchsanordnung, ein Theaterlabor mit einer recht jungen Truppe." Katers Animation psychologisiere lieber, als dass es historisch-pathetisch würde, "er scheut das Gefühlige nicht", so Schaper: "Das Stück, das sich auch mit weniger Effekten machen lässt, einfacher, kälter, hat etwas von einem Workshop. Warum nicht: Von Müller lernt man. Er hat ein Werk hinterlassen, das auf die Bühne zurückkehren wird. Sein Geschichtszynismus ist der Realismus von morgen."
"Undurchschaubar bleibt, für wen Kater das Stück geschrieben hat. Was uns Müller heute noch zu sagen hat, wer er war, wofür er stand, bleibt für Laien kryptisch. Für Experten muss der Text dagegen lächerlich schmal wirken", so Barbara Behrendt im Deutschlandfunk (28.1.2019). "Ohnehin fragt man sich, weshalb es ein Drama über einen Dramatiker braucht. Wenn das Berliner Ensemble von der Sprachkraft dieses gewichtigen, vielschichtigen Autors überzeugt ist, sollte es schlicht seine Stücke spielen."
Kater versuche in drei formal sehr verschiedenen Akten, Müllers Leben und Schreiben der letzten Lebensjahre nachzuspüren. Das gelinge nur bedingt, weil Kater seiner umfassenden Müller-Aneignung zu wenig Linie und Grenze gebe, so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (28.1.2019). Auf der Bühne funktioniere das besser als im Text dank des Zugriff Lars-Ole Walburgs. Er breche Katers schlichte Dichotomien auf, reduziere das vermeintlich Intime und lasse die fünf Spieler ernst-ironisch durch Zitate und Projektionen schweifen.
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Jetzt denken wir noch einmal (sehr gut) darüber nach. Ich lese Ihre Texte schon lange (meist mit Vergnügen und Gewinn) - aber dass Sie geschockt waren, das habe ich noch nicht gelesen. Da wird der Kater miauen!
Dazu passt, dass der theatralste Teil, der dritte, ganz ohne Müller auskommt. Da spielen die humorigen Sechs auf einem Schreibtisch stehen (der zuvor symbolträchtig zusammengebrochen war) Müllers BE-Intendanz als Farce nach. Veit Schubert versucht den Laden zusammen zu halten, Bardo Böhlefeld gibt Carl Hegemann als buckelnde Witzfigur, Zichner Martin Wuttke als selbstverliebte Diva. Das ist unterhaltsam und sagt überhaupt nichts über Heiner Müller. Wenn man weiß, dass seine thematisierte ständige Abwesenheit dadurch verursacht wurde, dass der Schwerkranke bereits dem Tod ins Auge sah, erhält die ziellose und klischeetriefende Theaterbetriebsverulkung einen eher schalen Beigeschmack.
Am Ende dann noch eine Geschichte: Ein untoter, Vergangenheit und Gegenwart überbrückender Heiner Müller verlässt die Proben seines letzten Stücks, wandert mit einem Mädchen und einem Rollstuhlfahrer allerlei schwere Gedanken austauschend durch das heutige Berlin und verlässt es schließlich per Floß auf der eisschollenhaltigen Spree. Böhlefeld, Zichner und Felix Rech rezitieren den Text, der sich unbeholfen an Müllerscher Weltsicht und Poetik versucht und damit krachend scheitert, eher uninspiriert von der Rampe, per Mikro und Notenständer, während Wehlisch als Engel durchs Bild schleicht. So fallen Text und Abend in hilfloser Beliebigkeit auseinander und kapitulieren scheiternd vor dem Versuch einer Annäherung an ein vermeintliches Phantom. Das sie vielleicht ein wenig demystifizieren, aber durch kein neues Bild ersetzen. Dieser Heiner Müller ist kleiner, verzwergter, aber kaum transparenter. Wenn diese Uraufführung etwas zeigt, dann wie hilflos wir Müllers Werk und Person bis heute gegenüberstehen. Aber das wussten wir eigentlich schon.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/01/27/9388/
In der ersten Stunde treten die Spieler*innen in Grüppchen abwechselnd an die Rampe und tauschen sich plaudernd über die Polaroidaufnahmen aus dem Band „Der Tod ist ein Irrtum“ aus. Der berühmte Dramatiker, der nach dem Zusammenbruch der DDR plötzlich zwischen allen Stühlen saß, an einer Schreibblockade litt und mit Stasi-Vorwürfen konfrontiert war, verliebte sich in die junge Fotografin Brigitte Maria Mayer und wurde kurz vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter noch einmal Vater.
Assoziativ schildern sich die Spieler*innen gegenseitig ihre Eindrücke von den oft sehr privaten Aufnahmen des Paares, die das Publikum an diesem Abend nicht zu sehen, sondern nur beschrieben bekommt. Konsequent wird dieser Ton durchgehalten. Unermüdlich schwirrt der Abend um sein Zentrum, ohne ihm einen entscheidenden Schritt näher zu kommen. In den Vordergrund schieben sich mehrfach Kathrin Wehlisch und Felix Rech als Todesengel, die über dieser kurzen, späten Liebe schweben.
Im Kulturbetrieb des frisch wiedervereinigten Deutschlands war Müller ein sehr gefragter Interviewpartner. Viele seiner Orakelsprüche, die nach dem Zusammenbruch der Diktatur des Proletariats vor einem Turbokapitalismus und einem Rechtsruck warnten, klingen erstaunlich hellsichtig.
Müller war aber nicht nur häufiger Talkgast, sondern als Präsident der Akademie der Künste (Ost) und Co-Intendant des Berliner Ensembles auch wichtiger Funktionär in einer orientierungslosen Transformationszeit.
Daran erinnert die Kulturbetriebs-Farce, die aus heiterem Himmel in die so gemächlich dahinplätschernde Müller-Collage hineinplatzt. Zeitzeug*innen hatten auch bei der zweiten Vorstellung sichtlich Spaß an der Szene, in der Carl Hegemann als schrulliger Dramaturg, Martin Wuttke als überarbeiteter Star des Hauses und Rüdiger Schaper als Feuilleton-Redakteur des West-Berliner Leitmediums Tagesspiegel aufeinanderprallen und in dem Vakuum, das die Abwesenheit des bereits todkranken Müller vor seiner legendären, bis heute mehr als 200 Mal gespielten „Arturo Ui“-Inszenierung von 1995 hinterließ, noch mehr Chaos stiften.
Nach diesem Intermezzo, das für alle Nachgeborenen begrenzten Reiz und Unterhaltungswert hat, kehrt der Abend zu seinem melancholisch-raunenden Grundton zurück, wird allerdings noch hermetischer als zuvor.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/28/heiner-1-4-berliner-ensemble-collage-kritik/
Eine recht traurige Rezension eines wirklich gut gespielten Abend. Ich habe ihn genossen und gleich das schöne Buch von Brigitte Maria Meyer aus dem Schrank geholt. Unglaublich schön die Mutmaßungen sowohl bei Kater, als auch in der Inszenierung. Man muss ein wenig zuhören, um dieses Kleinod zu erkennen. Ein schöner Abend zum 90. Geburtstag. Danke!
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