Groteske im Galopp

22. Juni 2023. Dem Mythos zufolge brachte Pandora die Geißeln der Menschheit in einer Büchse auf Erden. Marlene Monteiro Freitas schlüpft in ihrer Performance nun in das Gefäß hinein und wühlt sich durch all die Plagen – auf der Suche nach der Hoffnung. 

Von Elena Philipp

"idiota" von Marlene Monteiro Freitas bei "Performing Exiles" © Camille Blake

22. Juni 2023. Dieser Körper ist viele. Zwar ist Marlene Monteiro Freitas allein in die telefonzellengroße Glasbox gesperrt. Aber in rasender Verwandlung entlockt sie ihrer Physis eine Vielzahl an Gestalten, Zuständen und Imaginationen. Mal sind die Augen der kapverdischen Choreographin und Performerin voll Schreck aufgerissen, dann klafft der Mund, im Schrei erstarrt. Auf Agonie folgt Arroganz, auf Genuss das Grauen. Menschliches mischt sich mit Tierischem: Monteiro Freitas ist ein im Kies scharrender Hund oder eine feine Dame mit Lorgnette, beziehungsweise einem vor die Augen gehaltenen roten Fähnchen, mit dem sie zuvor einer unbestimmten Revolution schlaff ihre Zustimmung winkte. Welch wilder Ritt, zu dem wir hier gebeten sind.

Die Überbringerin der Plagen

In ihrem Gastspiel beim Festival Performing Exiles der Berliner Festspiele verkörpert Monteiro Freitas ihre Figur "idiota“. Vorstellen soll man sie sich laut Programmtext als diejenige, die in Pandoras Büchse geklettert ist und nun von all den bösen Gaben gebeutelt wird, die die Götter zum Schaden der Menschheit dort versteckt haben. Zur Strafe, weil Prometheus ihnen das Feuer gestohlen hat. Idiota ist auf der Suche nach der Hoffnung, die dem Mythos zufolge als Einziges in der Büchse verblieb, als die Menschen sie in Panik zuschlugen.

Überliefert hat den antiken Mythos der griechische Dichter Hesiod. Bei ihm ist Pandora das Weib schlechthin: Trägerin alles Bösen, die den Mann verführt und wider den Befehl der Götter ihrer Neugier folgt. Durchs Öffnen der Büchse, die ursprünglich wohl ein bauchiges Tongefäß war, ein Pithos, entlässt sie Krieg, Krankheit, Tod und Verderben in die Welt. Diese Darstellung dürfte das misogyne Frauenbild Europas mit geformt haben. In anderen, vorschriftlichen Versionen des Mythos ist Pandora eine mit den Fruchtbarkeits-Göttinnen Demeter und Gaia assoziierte Überbringerin guter Gaben.

Fluides Werkstück

Doch ob gut, ob böse: das spielt in "idiota" keine Rolle. Monteiro Freitas' Figur hat kein Geschlecht, sie hat keine fixierte Identität, sondern ist offen für den gestaltenden Zugriff ihrer Schöpferin. Ein fluides Werkstück. Wie Pandora, die vom Götter-Schmied Hephaistos aus Lehm geschaffen wurde. Idiotas Auftrag: Sich auf der Suche nach der Hoffnung dem Menschsein in all seinen Facetten aussetzen. Wie ein Fetisch- oder Folterschrein ist der frontal vor dem Publikum stehende Kasten ausstaffiert – Schlaufen, Haken, eine Schaufel, mit bunter Flüssigkeit gefüllte Spritzen, die aus ihm heraus zur Seite ragen, eine Gaskartusche, deren Schlauch wiederum ins Innere führt. Aber hier haust nicht das Böse oder Abartige, sondern es west das Karnevaleske und Groteske.

idiota2 Camille BlakeIn die Ecke gedrängt: Marlene Monteiro Freitas in der von ihr selbst choreographierten Performance © Camille Blake 

Auch mit einem Rossschweif am breiten schwarzen Gürtel spielt Monteiro Freitas mit der Anmutung des Animalischen, der karnevalistischen Chimäre à la Michail Bachtin. Unruly ist diese Figur, die gegen die Scheibe tritt und sich akrobatisch in die Schlaufen hängt, um kopfüber mit ihren weißen Stiefeln am Glas entlangzulaufen. Im Sinne Batailles setzt Monteiro Freitas auf das Hässliche und den Ekel. Verzieht ihr Gesicht zur Fratze, presst ihre Wange ans Glas, spuckt gegen die Scheibe. Und wischt dann servil ihre Körperflüssigkeiten auf, nur um die nächste Runde ihrer grell-virtuosen Rollen-Performance einzuläuten und die Posen von Kolonialisten, Militärs, Geknechteten, Dienenden oder Stolzen ihren Körper durchzucken zu lassen.

Plädoyer für die Kunst des Kreol

Anders als ein museales Objekt in einer Vitrine ist Monteiro Freitas' Idiota keine stillgestellte Skulptur – sondern eine Revolte gegen die eindeutige, lesbare Form der klassischen europäischen Ästhetik. Ein Plädoyer für das Hybride und die Kunst des Kreol.

Leicht zu konsumieren ist diese installative Performance nicht, verwehrt sich Monteiro Freitas doch auch dagegen, die Reflexe des Verstehens und Interpretierens zu bedienen. Sie unterläuft sie mit subversivem, auch: beißendem Humor. Am Schluss steht dann doch eine vermeintlich versöhnliche, universell-menschliche Szene: Monteiro Freitas formt ihre ungeheuer gelenkige rechte Hand zu einer Puppe, ein Finger wird zum Kopf, zwei zu Beinen, zwei zu Armen. Sanft stupst einer dieser Arm die unbeweglich flach an die Scheibe gedrückte linke Hand an. Erweckt sie zum Leben wie die Götter die lehmgeformte Pandora. Tanzt mit ihr einen Dialog der zarten Zugewandtheit. Zum 4. Satz von Mahlers 3. Symphonie – "Aus tiefem Traum bin ich erwacht" – quietscht sodann die Tür der Box, die Marlene Monteiro Freitas verlässt. Ein letzter Akt der Auflehnung gegen das dominante europäische Erbe.

 

idiota
von Marlene Monteiro Freitas
Choreographie, Kostüme und Performance: Marlene Monteiro Freitas, Assistenz: Hsin-Yi Hsiang, Raum: Marlene Monteiro Freitas, Miguel Figueira, Yannick Fouassier, Licht: Yannick Fouassier, Ton: Rui Antunes.
Berlin-Premiere am 21. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

 

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idiota, Berlin: Typische Festival-Tour-Produktion
Sehr minimalistisch ist das Solo „idiota“ der kapverdischen Choreographin Marlene Monteiro Freitas auf der Seitenbühne. Stilistisch ist diese 75 Minuten kurze Fingerübung ganz anders als ihre exzessiv-mitreißenden Spektakel mit großem Ensemble, die in Berlin bereits am HAU zu erleben waren und für den „Tanz im August“-Abschluss in der Volksbühne angekündigt sind.

Die Performerin steht in einer Glas-Vitrine und hantiert pantomimisch mit weit aufgerissenen Augen und diversen Utensilien. Von Klassik- und Popklängen sowie Hundegebell aus dem Off begleitet spielt sie auf der Klaviatur der Gefühle von Schmerz und Entsetzen bis Freude. Alles wird nur kurz angerissen, plätschert ohne dramaturgischen Bogen vor sich hin, der „Büchse der Pandora“-Mythos, auf den sie laut Website-Info anspielt, ist als Hintergrundfolie nicht erkennbar. Wie bei Koohestanis „Blind Runner“ handelt es sich auch bei „idiota“ um eine typische Festival-Tour-Produktion, die bereits vor einem Jahr beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel und den Wiener Festwochen lief.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/17/performing-exiles-berliner-festspiele-kritik/
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