Auslöschung. Ein Zerfall - Deutsches Theater Berlin
Fahrstuhl aus der Hölle
5. Juni 2022. Ein Mann rechnet ab: mit seinen Eltern, die noch lange nach Kriegsende dem NS-Regime nachtrauern, mit der fühllosen Gesellschaft und der Menschheit an sich. Thomas Bernhards Text ist eine einzige Bewusstseinsstromtirade. Karin Henkel macht daraus ein schwarzhumoriges, hochgradig unterhaltsames Theaterstück.
Von Frauke Adrians
5. Juni 2022. Es ist der blanke Horror. Nicht die Tatsache, dass Franz Josef Muraus Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind; nein: das Grauen liegt für ihn darin, anlässlich der Beerdigung zurückkehren zu müssen auf das Landgut seiner schrecklichen Kindheit, zu seinen grässlichen Schwestern und viel zu vielen furchtbaren Erinnerungen an eine lieblose, "katholisch-nationalsozialistische" Erziehung.
Übertreibungskünstler
Franz Murau, der finstere Held von Thomas Bernhards letztem großem Prosawerk "Auslöschung. Ein Zerfall", liebt Übertreibungen, er nennt sich folgerichtig "den größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist". Ohne Übertreibung lässt sich über Karin Henkels Inszenierung sagen: Sie ist großartig. Dass Henkel eine Vorliebe hat fürs Groteske und Schwarzhumorige, ist bekannt. Dass sie es so sensibel und doppelbödig, so wenig plakativ auf die Bühne bringen kann, ist eine angenehme Überraschung.
Aus Bernhards wuchtiger Generalabrechnung mit der österreichischen (und der deutschen) Nachkriegsgesellschaft, aus dem wütenden und sehr langen Murau'schen Bewusstseinsstrom diese Bühnenfassung zu destillieren, ist schon für sich genommen eine große Leistung von Regie und Dramaturgie. Dass Karin Henkel den Part Muraus viergeteilt hat, ist ein gelungener Kunstgriff und ein Gewinn fürs Publikum. Zwar ist Bernd Moss – er spielt den etwa fünfzigjährigen, frisch verwaisten Erben – der Star des Abends, aber ihm stehen drei jüngere Ichs zur Seite. Es erinnert ein wenig an Todd Haynes' vor 15 Jahren erschienenen Bob-Dylan-Film "I'm not there" – mit sechs Dylan-Darstellern –, wie Henkel hier denkbar unterschiedliche "Fränze" ins Spiel bringt: Neben dem kleinen Franz-Josef (Béla Paul Lorenz Otlewski/August Usemann) spielt Linn Reusse den jugendlichen, hochsensiblen Franz, der wegen seiner unstillbaren Neigung zum Bettnässen von Eltern und Mitschülern verachtet wird; und Daniel Zillmann ist der junge Erwachsene, der sich auf der Flucht vor seinem tiefbraunen Elternhaus durch halb Europa studiert und sich dabei – sichtlich – gehen lässt.
Tragik und Witz
Die Fluchtversuche, macht Karin Henkels Inszenierung deutlich, waren so vergebens wie das Bestreben, sich ein neues Ich überzustülpen. Letztlich kann der zutiefst verletzte Franz, den Bernd Moss mit viel Zorn, viel Schmerz und ebenso viel selbstgerechtem Welt-Ekel ausstattet – Lieblingswort: "widerwärtig" –, der Vergangenheit nicht entrinnen. Und nicht den Erinnerungen an seinen Vater in Nazioffiziersuniform und an seine nicht minder antisemitisch tönende Mutter, die bei Tisch alles "mit brauner Soße zudeckt", wie er sich schaudernd erinnert. Das wäre zutiefst tragisch, wäre Thomas Bernhards Franz-Monolog nicht zugleich so sprachgewaltig gewitzt – und hätten Karin Henkel und ihr Ensemble nicht ein so feines Sensorium für die Komik der Murau'schen Larmoyanz und die Absurditäten seiner Familienaufstellung.
Braune Dekadenz
Anja Schneider und – in gewagter, aber gelungener Doppelrolle – Daniel Zillmann sind als Murau-Schwestern so grauenerregend gut wie Manfred Zapatka und Almut Zilcher als beunruhigend untotes Elternpaar. Überboten wird der Familienhorror nur durch den Fahrstuhl des Grauens, der im zweiten Teil des Abends ein wahres Panoptikum von Altnazis aus der Hölle auf den Bühnenboden hebt; George Grosz und Otto Dix wären begeistert gewesen von diesen Exemplaren brauner Dekadenz, die Vater Murau in den Nachkriegsjahren auf seinem Grund und Boden vor den Alliierten versteckt hielt und die, Gipfel der Gauleiter-Gaudi, im Glashaus eine Polonaise tanzen. Der beklagenswerte Franz, der wie ein waidwundes Tier durch den abgestorbenen Wald seiner Kindheit irrt, kann mit seinem Vater nicht mal abrechnen: Der hat sich der Wut des Sohnes ja via Unfalltod entzogen.
Die toten Bäume und das abgewrackte Gewächshaus, das als Naziversteck ebenso wie als Aufbahrungsort dient, sind nur ein Teil des hervorragenden Bühnenbilds. Thilo Reuther projiziert einen unendlichen Tunnel auf die Bühne, an dessen Ende kaltes Licht gleißt. Das passt zu Franz Muraus (Selbst-)Auslöschungs-Fantasien: der eigene Tod als letzter Ausweg, idealerweise kombiniert mit dem Aussterben der gesamten Menschheit. Indifferent und lebensfeindlich senkt sich ein übergroßer Mond über die Szenerie.
Bestürzend gut gealtert
Thomas Bernhards Buch, veröffentlicht 1986, ist bestürzend gut gealtert, die Warnung vor dem fortlebenden Rechtsextremismus, vor dem tief verwurzelten Judenhass ist so aktuell wie je in den vergangenen Jahrzehnten, und der Übertreibungsfanatismus, den Franz Murau konstatiert, ist dank Social Media noch viel fanatischer geworden. Und doch sendet die stumme letzte Szene – erstaunlich, dass der wutschnaubende Murau auch mal die Klappe halten kann! – ein kleines Hoffnungssignal: Da sind die alten Nazis zu Wachsfiguren erstarrt; Museumsbesucher mit Audioguides mustern die Relikte vergangener Zeiten interessiert und befremdet. Dass die Gespenster der Vergangenheit nur noch im Museum anzutreffen wären: Das würde ein Franz Murau nicht zu träumen wagen.
Auslöschung. Ein Zerfall
Nach Thomas Bernhard
Regie: Karin Henkel, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Lars Wittershagen, Dramaturgie: Rita Thiele, Juliane Koepp.
Mit: Bernd Moss, Linn Reusse, Anja Schneider, Manfred Zapatka, Almut Zilcher, Daniel Zillmann.
Premiere am 4. Juni 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.deutschestheater.de
Kritikenrundschau
"Es mag auch an der mehrmaligen Corona-Verschiebung der Premiere liegen, dass lauter begnadete Lieblingsschauspieler den Endproben-Flow verloren haben und mit so sichtbarem Memorierfleiß Bernhard-Text wie Meterware von der Willkürlichkeitsrolle liefern," schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (5.6.2022). Sie haben keine Chance in dieser organisierten Bernhard-Verharmlosung fürs Repertoire. Sie können in keinem Moment erlebbar machen, warum sie sagen müssen, was sie da sagen. Und was es uns angehen könnte."
Aus Sicht von Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (7.6.2022) entfalten sich in dieser Inszenierung weder "idiosykratische Pein" dieser Heimkehr des Protagonisten ins Nazi-Elternhaus noch die "abgründige Tiefe" des Hasses, den das in ihm triggert. "Es ist gewissermaßen ein theatralisiertes Mahnmal, das Henkel hier mit Thomas Bernhard inszeniert."
Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.6.2022), wo sie die Inszenierung in einer Sammelrezension mit weiteren Premieren des Wochenendes bespricht, besticht dieser Thomas-Bernhard-Abend "mit seiner klugen Analytik und ästhetischen Klarheit als monomanes Endspiel zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung, Verzweiflung und Revolte" – auch wenn der Hamburger Vorgängerabend von 2019 aus Bazingers Sicht zwingender war. Der Abend am DT sei "manchmal unerwartet komisch, meistens bitterbissig und immer hochdramatisch übertrieben." Alle Schauspieler:innen "sprechen präzise und mit Verstand, wobei es in Summe doch arg viele Monologe sind, die sich da aneinanderreihen, und zu wenige Spielsequenzen."
Alle Figuren seien Karikaturen, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (7.6.22), "wie entsprungen aus einem Kinderbuch des Dritten Reichs, und dann modifiziert ins Instagram-Taugliche". Tatsächlich gäben "dicke blonde Zöpfe, kurze Hosen, senffarbene Naziuniformen und leuchtend bunte Oberbekleidungen", so der Kritiker weiter, "Bernhards Fratzen ein Äquivalent in der aktuellen Selbstdarstellungskultur“. Die Lust an der Komik siege in Karin Henkels "Unterhaltungsvariante" über "den reflektierenden Zorn der Vorlage". Aber vielleicht, so das Fazit des Kritikers, sei "dies auch das richtige Porträt einer Gegenwart, in der Beschäftigung mit dem Dritten Reich sich auf Hitler-Witzchen beschränkt". Dass "diese spaßig lästernde Inszenierung" letztlich "eingefroren als kreiselndes Wachsfigurenkabinett der Nazistereotype" ende, sei daher ein stimmiges Bild.
"Ein scharfer, pointenreicher Text, viele von Bosheit gewürzte Gefühle, gute Schauspieler" und "ein sprechendes Bühnenbild": Eigentlich, so schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (8.6.22), sei in Karin Henkels Bernhard-Inszenierung "alles da", was einen guten Theaterabend ausmache. Hinzu komme die Thematik: "Biografische Selbstzerstörung vor der historischen Folie verleugneter Verbrechen". Dennoch fühle sich "das ganze Unternehmen" an "wie ein Stochern in kalter Asche", so die Kritikerin weiter: "Der ganze Aufwand des Hasses, zwischen Franz und seinen Schwestern, zwischen den Geschwistern und den Eltern, er flattert irgendwie an einem vorbei."
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1986 war bekanntlich das Jahr, in dem in Österreich eine hitzige Debatte über die Nazi-Vergangenheit des Bundespräsidenten Kurt Waldheim begann. Damals war der Text auf der Höhe der Zeit, heute wirkt er so museal wie die letzte Szene, bei der Statist*innen mit Fotoapparaten und Notizblöcken durch das verlassene Landgut der Familie Murau stapfen.
Die Roman-Adaption, in die Fragmente anderer Prosawerke und Schnipsel aus Bernhard-Stücken hineinmontiert sind, ist eine solide Arbeit, die jedoch sichtlich mit den Textmassen zu kämpfen hat, durch die sich das Ensemble wühlt. Der Erkenntnisgewinn bleibt überschaubar. Gelungener war Karin Henkels letzte Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard: Vor wenigen Jahren hat sie „Auslöschung. Ein Zerfall“ schon einmal für die Bühne bearbeitet. Handwerklich sehr präzise verzahnte sie diesen Romanplot unter dem Titel „Die Übriggebliebenen“ am Schauspielhaus Hamburg mit „Ritter Dene Voss“ und „Vor dem Ruhestand“ zu einem dreifach gespiegelten Zombie-Gruselkabinett. Rita Thiele, auch diesmal als Co-Dramaturgin beteiligt, wurde für ihre präzise Textarbeit 2019 mit dem Rudolf Mares-Preis ausgezeichnet.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/05/ausloschung-ein-zerfall-deutsches-theater-berlin-kritik/
Dadurch ist alles so dermaßen durch inszeniert. Alles wirkt so statisch und blass. Einer der langweiligsten Theaterabende seit langem. Bin schwer enttäuscht.
ausgelöscht vom Zentrum des Schreckens. Mühsam und über Jahrzehnte
hat man gelernt entsetzliche Konfrontations-Erinnerungen zu eliminieren.
Verstrickung der Eltern in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft.
Keine Frage, dass die Nazi-Mentalität nach der "Befreiung" bedrückend nachwirkte.
So wie auch die katholische Erziehung im Internat. Man hat die Leben
verderbenden, toxischen Wurzeln der Vergangenheit aus dem Leben, aus dem
Denken und Fühlen herausgerissen - mit Stumpf und Stiel, mit Stumpf und
Stiel.
Dadurch hat man diese schmerzliche Vergangenheit w e i t hinter sich
gelassen. Man hat diese finsteren-bösen Kindheitseindrücke (man war ja geschlagen worden, und war unerziehbar) neutralisiert - a u s g e l ö s c h t.
War die Regisseurin überfordert? Der Abend wurde gekonnt durchinszeniert:
Tieftraurige Abgründe und das Theater des Absurden a la Thomas Bernhard . . .
Bernhard an diesem Abend auf die Bühne bringt. Sein monomanes Wiederholen
(Bernhard: Alles ist jeden Tag tagtäglich eine Wiederholung von Wiederholungen). Sein fortgesetztes, ewiges Endspiel der Verzweiflung und Revolte (Bernhard: Ich kenne die Natur überhaupt nicht und hasse sie, denn sie bringt mich um . . .).
Thomas Bernhard beginnt die AUSLÖSCHUNG mit Montaigne: Ich fühle wie der
Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte - er ist
überall da. Die Auslöschung, ein Zerfall, ist Bernhards letztes Buch. In der taz ist
zu lesen (9. 2. 2O21) 9O. Geburtstag von Thomas Bernhard DEM URTEIL DER
ANDEREN ENTKOMMEN Am 9. Februar wäre Thomas Bernhard neunzig geworden. Das große Rätsel bleibt, warum er Menschen einzig aus der Sicht des
Hasses beschrieb. (. . .)
Wer ein Buch von Bernhard liest, könnte tatsächlich den Eindruck bekommen,
dass Ö s t e r r e i c h eine riesige Universität darstellt, an der man Engstirnigkeit lernt, dass es eine geistige Hölle auf Erden ist, wo alle Menschen immer schon nichts von Kultur verstanden haben, sondern nur Geschäfte machten, um sich in ihren eigenen Augen und in den Augen der Anderen zu
verherrlichen, als ob es Freud, Musil, Mozart, Bruckner, Zweig, Schnitzler, Handke, Wittgenstein, Schubert und andere nicht gegeben hätte. Natürlich weiß
Bernhard, dass auch diese Koryphäen zu Österreich gehören, und natürlich
unterscheidet er zwischen ihnen und den Anderen, aber seine Übertreibungs-kunst beschneidet immer wieder alles, was Österreich hervorgebracht hat, mit so sicherer Hand, bis die Methode, wie er das macht, die Kategorie eines taktischen Mittels übersteigt. Deshalb kann die Antwort auf die Frage, warum er die menschliche Existenz nur durch ein einziges Prisma betrachtet, nicht nur in seiner Übertreibungskunst liegen, sondern auch in seiner Auffassung der Hauptfiguren, die immer auf einem Standpunkt von Feindseligkeit der Welt gegenüberstehen, und um von diesem Standpunkt nicht hinunterzufallen, muss er ihn stärken. (Yossi Sucary)
Es ist wahr, wir lernten Engstirnigkeit schon in der Schule, und Österreich war
einst auch wie eine geistige Hölle auf Erden. Aber nicht nur Österreich.
Der dänische Prinz sagt bereits in H a m l e t: Was Neues? - Rosenkranz: Nichts, mein Prinz; nur daß die Welt besser wird. - Hamlet: Dann ist der jüngste Tag nahe. Aber Eure Neuigkeit ist nicht wahr. Laßt mich mehr im einzelnen
fragen: Wodurch, meine guten Freunde, habt Ihr`s um die Fortuna verdient, daß
sie Euch hierher ins Gefängnis sendet? - Guildenstern: Gefängnis, mein Prinz!
Hamlet: Dän`mark ist ein Gefängnis. - Rosenkranz: Dann ist die Welt eins. -
Hamlet: Ein großes, in welchem viele Abteilungen, Zellen und Kerker sind; Dän`mark ist einer der schlimmsten. Rosenkranz: Wir denken nicht
so, mein Prinz. - Hamlet: So ist es Euch keines; an und für sich ist nichts gut
oder böse, erst das Denken macht es dazu; für mich ist es ein Gefängnis.
Bernhard denkt und schreibt sich seine böse Feindseligkeit Österreich und der
ganzen Welt gegenüber monomanisch von der geplagten Seele. Österreich
war für den kranken Bernhard eine beängstigende Hölle - für mich ist es keine.
Jedoch war es einmal eine solche - eine Nachkriegs-Gefängnis-Hölle.
Die österreichische Welt ist seit Bernhard besser geworden - denke ich (selbst
wenn das jetzt eine verharmlosende Einbildung ist) . . . vielleicht.
stöpselfabrikant sei, hatte mich Gambetti gefragt, ich habe es ihm zu erklären
versucht, gesagt. Freiburg sei eine entsetzliche Stadt, kleinbürgerlich, katholisch,
unerträglich. (. . .) Ein Deutscher aus dem deutschesten Winkel, hatte ich zu
Gambetti gesagt. Aus dem Schwarzwald, wo die Füchse Gutenacht sagen und
wo die deutsche Dummheit Triumphe feiert."
Hat Bernhard dabei etwa an Martin Heidegger gedacht, einer der größten
Philosophen, zeitweilig Rektor an der Universität Freiburg? Bernhard ist alles
zuzutrauen, nicht wahr? - (. . .) Nichts desto weniger rät Karl Jaspers in einem
Gutachten, Heidegger für einige Jahre vom Lehramt auszuschließen und die
"heute innerlich fast widerstandslose Jugend" nicht seiner "Lehrwirkung" aus-
zusetzen, bevor in Heidegger nicht eine "echte Wiedergeburt" erfolgt sei, die auch in seinem Werk sichtbar sein müsse. Denn "Heideggers Denkungsart,
die mir in ihrem Wesen nach unfrei, diktatorisch, communikationslos erscheint,
wäre heute in der Lehrwirkung verhängnisvoll" (1945).
Heidegger: "Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens."
(Anmerkung: Schweigen etwa auch über die nationalsozialistische Vergangenheit?)
"Die genannte Frage (nach dem Sinn von Sein) ist heute in Vergessenheit
gekommen . . ."
(Anmerkung: Passend zu Heidegger und Anderen wäre: "Die genannte Frage
nach dem nationalsozialistischen S i n n vom nationalsozialistischem S e i n
ist heute in Vergessenheit gekommen.")
Heraklit sagte: "Schlimme Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, wenn
sie Barbaren Seelen haben."
Ich schließe mich bezüglich Th. Bernhard, Johann Wolfgang von Goethe an:
"Mir will das kranke Zeug nicht munden - Autoren sollen erst gesunden."
Und Bernhard war wirklich ziemlich krank - man merkt es an seinen Büchern . . .
Man könnte sagen: Kranke Autoren in einer kranken Zeit - könnte man sagen.
großartige Leistung!
Was bringt - um alles in der Welt - eine lieblose katholisch-nationalsozialistische
Erziehung hervor? - den finsteren Franz-Josef Murnau - schreibend erfunden
von Thomas Bernhard, geboren 1931. Von ihm gibt es zurzeit Übersetzungen
in etwa 45 Sprachen.
Thomas Bernhards schonungslose Radikalität in "Auslöschung, ein Zerfall", ist
bemerkenswert. Der ontologische Status der radikalen negativen Welt-
Beschreibung wird da nicht mehr in Frage gestellt. Bernhards bekannte
Äußerungen über den Tod, dessen Präsenz im Leben alles Erzählen, Denken
und Handeln negativ perspektivieren. Bernhard fordert "all den Leuten die
Ohren abzuschneiden, die Kinder bekämen." Besser wäre es, nicht geboren
worden zu sein. (Jim Morrison: Eigentlich kann ich mich nicht erinnern,
geboren worden zu sein. Es muss während einem meiner Blackouts passiert
sein.) - Und wer weiß denn, ob das Leben nicht Totsein ist und Totsein Leben?
Und um es sokratisch zu sagen: Niemand kennt den Tod, es weiß auch keiner,
ob er nicht das größte Geschenk für den Menschen ist.
Franz-Josef Murau in "Auslöschung" wird von seinem Onkel Georg, zu einer
Wendung g e g e n ALLES veranlasst und von ihm "auf den tatsächlichen
Weg gebracht, auf den G E G E N W E G". Ähnlich wie Murau bin ich vom
allerersten Augenblick an (ich übertreibe) gegen die Eltern gewesen. Ich war
der WIDERSPRECHER, war der V e r w e i g e r e r.
Ja, diese sind tatsächlich als Murnaus Schwestern so grauenerregend gut wie
M. Zapatka und Almut Zilcher als beunruhigend untotes Elternpaar. Almut
Zilcher, eine untote Mutter des Franz Murau - grauenerregend gut in dieser
Rolle. Eine Untote also also (auch Vampir, Wiedergänger), ein phantastisches Wesen, das einen verstorbenen Menschen verkörpert . . .
Ganz wie in Bernhards "Der Keller" weitet sich dieser Impuls zur Negation
später zur Totalen aus: "Nach und nach müssen wir alles ablehnen".
(neti neti im Hinduismus: In der vedischen und in der späteren hinduistischen
Philosophie ist es die Lehre von, "nicht dies, nicht das", die besagt, dass
Brahman (das höchste Wesen, Gott) absolut keine spezifischen Eigenschaften
hat und nicht mit positiven Begriffen beschrieben werden kann.). Abermals
und abermals, bei Gelegenheit, flüstere ich mir neti, neti zu - nicht das, das
auch nicht . . . Murau aber beginnt in Wolfsegg so zu sprechen wie die
tyrannische Mutter. Er genießt seine M a c h t ü b e r n a h m e als
ABSOLUTER NACHFOLGER und ALLEINBESTIMMER. Ja (man staune) sogar
die Vernichtungslogik des Nationalsozialismus feiert da dämonische Rückkehr,
als Murau in Betracht gezogen hatte, das "Taubenproblem" dadurch einer
Lösung zuzuführen, "alle Tauben zu vergiften". - Ist gleich der Endlösung
der europäischen Judenfrage im Dritten Reich.
Adolf Eichmann ist in L i n z aufgewachsen und zur Schule gegangen.
Während seiner Schulzeit ernte er Ernst Kaltenbrunner kennen.
Adolf Hitler besuchte ab 19OO die K. k. Staats-Realschule Linz.
In Linz geboren, allein das ist ein fürchterlicher Gedanke (HELDENPLATZ, 1988)
weiß, ob das hier passend ist. Aber Auslöschung ist eben Auslöschung, und
es ist für einen Linzer doch bedrückend, wenn man daran denkt, wenn man
es ins Auge fasst in einer Zeit des Friedens (in Österreich- leider ist der Krieg
in der Ukraine im Gange, und gar nicht so weit von uns entfernt . . .)
Eichmann, Kaltenbrunner, Eigruber . . .
August Eigruber war Gauleiter von Oberdonau und Landeshauptmann von
Oberösterreich. Er war ein persönlicher Freund und Vertrauter Hitlers und
durfte als einer von wenigen diesen sogar mit dem Vornamen ansprechen.
Auf der jüngsten Liste des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles stand er noch auf Platz eins der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher: Aribert Heim,
1914 in der Steiermark geboren, operierte als Lagerarzt in Konzentrations
lagern Häftlinge bei vollem Bewusstsein. Im KZ Mathausen soll er als
berüchtigter "Dr. Tod" Häftlinge per Injektion ins Herz getötet haben. (. . .)
Genauer bekannt sind die Todesumstände eines anderen NS-Kriegsverbrechers.
Der 192 Zentimeter große und 12O Kilo schwere SS-Mann Amon Göth aus
Wien starb 1946 am Galgen in Krakau. Göth hatte in mehreren Vernichtungs
lagern mindestens 5OO Menschen eigenhändig umgebracht. Als "Schlächter
von Plazow" (Zwangsarbeiterlager bei Krakau) machte er mit Gewehr und
Zielfernrohr Jagd auf Häftlinge oder ließ sie von seinen beiden Doggen zerfleischen.
Etliche Ränge über diesen Schlächtern gab es Schreibtischtäter wie Ernst
Kaltenbrunner, aus Ried im Innkreis stammender Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), der für die Ermordung von mindestens einer
Million Menschen in Osteuropa verantwortlich zeichnete. Wie Adolf Eichmann,
in Solingen geborener, in Linz sozialisierter SS-Obersturmbannführer, der die
Vertreibung oder Deportation von hunderttausenden Juden organisierte. Wo immer ab 1942 in Ost- und Südeuropa die Sonderkommandos der NS-
Vernichtungsmaschinerie hinter den Frontlinien rollte, waren Österreicher
involviert auffallend häufig im Verhältnis zum Anteil der "Ostmärker" an der
Bevölkerung Großdeutschlands, wie viele Historiker meinen. (. . .)
(Aus "Die Wurzeln des Hitler-Kults in Österreich: Waren Österreicher die
radikaleren Nazis?" von Norbert Regitnig-Tillian. PROFIL 9.5. 2OO9)