Birthday Candles - Deutsches Theater Berlin
Man nehme die Zutaten des Lebens
30. April 2022. Neunzig Geburtstage feiert Autor Noah Haidle mit Ernestine, einer Hausfrau und Mutter. Neunzig Jahre Schmerz, Neuanfang und flüchtiges Glück. In Anna Bergmanns Inszenierung wird daraus ein rotierendes Lebenspanorama der ganz großen Gefühle – mit Corinna Harfouch als stabilem, überragendem Zentrum.
Von Simone Kaempf
30. April 2022. Fast hätte man einen Abend erlebt, an dem wirklich ein Kuchen im Ofen backt. Der amerikanische Theater- und Drehbuchautor Noah Haidle drängt nicht nur darauf im Prolog seines neuen Stücks, sondern fordert sogar im Imperativ: "Ja, ihr müsst auf der Bühne einen Kuchen backen. Das Publikum muss sehen, wie das Mehl staubt und wie die Eier geschlagen werden." Ein Geburtstagskuchenrezept gibt er vorsichtshalber dazu. Haidle meint es ernst mit dem Kuchen als existenzielle Metapher, in den bestimmte Zutaten gehören und jeder für sich das Rezept anpasst.
Natürlich ist der Kuchen auch ein Kniff, um die Hauptfigur auf ihre Geburtstage in der Zeit zwischen dem 17. und 107. Lebensjahr zu schicken. Ernestine ist immer gerade dabei den Kuchen zu backen, während die Familienparty gleich losgeht, die Enkel gerade anreisen, ihr Ehemann Matt sein Geschenk aus der Hosentasche zieht. Und immer wieder fragt jemand, wie weit der Teig oder ob der Kuchen schon im Ofen sei.
Was das Universum erzählt
Als versierter Autor variiert Haidle die Dialoge, ohne dass dies je langweilig wird. So schiebt man ein gehobenes Konversationsstück an, das alle Verunsicherungen und Verletzungen eines langen Lebens durchschreitet und immer in der Küche spielt. Die Mutter stirbt, die Tochter erkrankt, der Ehemann geht fremd, die Ehe zerbricht. Nur die hausmütterliche Kuchenbacktradition bleibt im Stück unangetastet, sogar heilig, denn wie klärt Ernestine ihre Enkelin auf: "Teig aus Butter, Zucker, Eier, Mehl, etwas Sternenstaub und Atome. Wenn du einen tieferen Blick darauf wirfst, dann erfährst du, was das Universum erzählt."
In Anna Bergmanns Inszenierung rührt Corinna Harfouch als junge Ernestine zumindest einmal lautstark die Eier in der Schüssel an, allerdings mehr aus Verlegenheit und als Abwehrzauber gegen nassforsche Avancen. Das ist es dann aber auch schon. Mehr Raum bekommt die Back-Choreographie zum Glück nicht. Auch ohne die schieben sich am Ende die Jahre zusammen, entfaltet der wiederkehrende Geburtstag die Dramen, die ein langes Leben unausweichlich begleiten. Mit jedem Tod, jedem neu geborenen Enkelkind, beruflichem Aufbruch – nach der Scheidung macht sich Ernestine mit Backwaren und Desserts selbstständig – ändert sich die Stimmung und die Konstellation. Und doch wiederholt sich die Frage immer wieder, die das Stück wie ein roter Faden durchzieht: Hab ich mein Leben vertan?
Diese existenzielle Sinnsuche in unterschiedlichen Lebensphasen will Anna Bergmann nicht als ganz großes Drama inszenieren, aber auch nicht nur als Well-made-Kammerspiel. Eine kleine Küchenzeile hat Jo Schramm als Bühne gebaut. Zu fünft wird's schon eng darin. Die Holzrahmung wirkt, als schaue man wie auf einen Fernseher, mit verblichenem Sepia-Look und 50er Jahre-Atmosphäre.
Ohne falsche Scheu
Dieses Kammerspiel-Korsett hält jedoch nicht lange, bald schon sprengt Bergmann es auf und lässt den Küchenkubus wie eine Waschmaschine rotieren. Schwarzlicht blitzt auf als entstünden Fotografien fürs Familienalbum mit Kameras aus dem letzten Jahrhundert. Und dass die Schauspieler:innen in ihren wechselnden Rollen zwischendurch mit Farbe und Dreck im Gesicht agieren, wirkt, als wolle die Regisseurin den effektsicheren Realismus in Noah Haidles Dialogen um jeden Preis aufbrechen. Von einer Frau wird erzählt, die entgegen ihrer Wünsche nicht in die Welt zieht, sondern eine Familie versorgt. Doch bloß nicht so viel Mittelstandsrealismus zeigen, wie dort, wo er herkommt.
Corinna Harfouch spielt diese Ernestine in einer Spanne von gut achtzig Jahren. Sie ist tatsächlich das Zentrum dieses Abends, mit langen Haaren und immer dem gleichen Kleid. Mit kleinen, subtilen Gesten erzählt sie von den Veränderungen des Älterwerdens. Nichts Forderndes trotzt sie der Rolle ab, ein Typus entsteht, wie man ihn aus der Eltern-Generation kennt. Die ihre Familie ohne falsche Scheu umhegt, und alles Fordernde zurücksteckt, ohne die Suche nach dem eigenen Glück ganz zu vergessen.
Verschluckt von der Zeit
Es dauert, bis der Abend wirklich frei wird. Irgendwann lässt Bergmann die Küchenzeile nach hinten schieben, dreht die Musik lauter. Bernd Stempel ist jetzt nicht mehr der unbeholfene Schulfreund aus alten Tagen, sondern der neue Mann, mit dem unerwartetes spätes Liebesglück entsteht. Wie Harfouch und Stempel dieses warme Glück spielen, ein Tänzchen einlegen zu Feier des sechzigsten Geburtstag, eröffnet erst die Tragweite des nächsten Abgrunds. Das kurze überbordene Glück wendet sich so nahtlos ins Unglück seines Todes, dass es herzzerreißend wird.
Während Haidles Text genau den Platz im Universum verweigert, von dem so viel die Rede ist, lebt das gefundene Glück in Bergmanns Inszenierung auf und wird groß spürbar, um dann im Vergehen der Zeit geschluckt zu werden. Harfouch geht in der Trauer weinend in die Knie und offenbart die großen Gefühle, ohne kitschig zu werden. Immer wieder überblenden private alte Fotos die Szenerie, es sind auch private darunter, die die Schauspielerin zeigen. Das trägt zwar wenig zum Abend bei, aber erzählt eher vom Identifikationspotential, das in dieser Frauenfigur steckt – und das ein kleines Leben zur Tragödie macht.
Birthday Candles
von Noah Haidle
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Lane Schäfer, Musik: Hannes Gwisdek, Video: Sebastian Pircher, Dramaturgie: Franziska Trinkaus, Bewegungschoreographie: Martin Buczko.
Mit: Corinna Harfouch, Alexander Khuon, Franziska Machens, Kathleen Morgeneyer, Bernd Stempel, Enno Trebs, Martin Buczko.
Premiere am 29. April 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.deutschestheater.de
Kritikenrundschau
"Das Stück ist voller Humor, zärtlicher Lebensweisheit und tragischer Familiengeschichte. Die Figuren sind liebevoll gezeichnet und streben doch nie über eine bestimmte Identitätsgrenze hinau", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.5.2022). "Regisseur Anna Bergmann gelingt eine gefühlsstarke, am Schicksal der Figuren zärtlich anteilnehmende Arbeit." Der zweistündige Abend biete eine großartige Ensembleleistung. "Bergmann beweist, welch Glück es für das darstellende Spiel sein kann, sich Rollen anzuvertrauen und nicht nur beim eigenen Ich hängen zu bleiben." Und Corinna Harfouch: "an diesem Abend ist sie ganz schlagendes Herz und pulsierendes Leben, ist sie die mädchenhaft Schüchterne, ist sie die anziehende Geliebte, ist sie die mild lächelnde Ehefrau, ist sie die beruhigende Mutter, ist sie die noch mal aufbrechende Betrogene, ist sie die glücklich Spätverliebte."
"Corinna Harfouch, die nicht zum Kitsch neigt, schaut man gern dabei zu, wie sie sich so durch die Jahrzehnte knetet. Und das Ensemble legt sich schwungvoll hinein in die Pointen, die Haidle serviert", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (1.5.2022). "Es ist eher ein Fotoalbum statt eines Lebens, das der US-amerikanische Dramatiker hier aufblättert, eine Abfolge von Polaroids. Falls sich jemand an die nicht mehr erinnert, wird ihm in 'Birthday Candles' wirklich umfassend auf die Sprünge geholfen – und genau so inszeniert Anna Bergmann den Abend auch. Da wird hier eine Pan-Am-Maschine aufs Szenario projiziert, da ein Retro-Song geschmettert und dort zum Tänzchen angesetzt."
Auf den ersten Blick streife Noah Haidles Stück große Fragen, "doch bleibe im Verlauf einiger Dutzend Backszenen und 107 Lebensjahren, vor allem Wortgeklingel", so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (online 30.4.2022, 16,39 Uhr). Schwer zu sagen, was Anna Bergmann gereizt habe, sich Haidles Broadway-Komödie aus dem Pool neuester Dramen zu picken. Ihre erste Großtat sei daher zweifellos, das Diktum des Realismus, den der Autor fordert, über Bord zu werfen. "Corinna Harfouch ist kribbeliger Teenager so überzeugend wie als traurige Alte, wenn auch am Ende ein bisschen zu tränenreich aufgetragen." Fazit: "Bergmanns so kühler wie humoristischer Blick auf das naiv privatistische Stück besticht durch die Vermeidung des nur Privaten, Sentimentalen. Vor allem aber auch durch das Ensemble, das mit Leichtigkeit die knappen Flashes auf Ernestines Leben in scharfe Bilder zwingt."
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Während in New York mit einer Sitcom-Darstellerin in der Hauptrolle schon nach 90 Minuten Schluss ist, wird die Berliner Fassung mit Corinna Harfouch auf zwei Stunden ausgewalzt. Die Höhepunkte kann man aber an den Fingern einer Hand abzählen: die Bühne von Jo Schramm ist sehr wandlungsfähig und unterstreicht, dass hier einer der interessantesten Bühnenbildner am Werk ist, auch die im Lauf des Stücks in Sebastian Pirchers Video-Installation eingebauten Kinder- und Jugendfotos des Ensembles sind ein nettes Gimmick, und Enno Trebs hat ein schönes „It´s a wonderful life“-Solo.
Das Kernproblem des Abends ist aber, dass der Text von Noah Haidle so dünn und nichtssagend ist wie der lieblos gestaltete Programm-Flyer. Zwei zähe Stunden lang schleppt sich der Abend zwischen verquasten Beschwörungen des Universums und der Familien-Soap über Ernestine Ashworth dahin. Intendant Ulrich Khuon hatte das richtige Gespür, dass er dieser Broadway-Tragikomödie trotz Starbesetzung nur die Kammerspiele und nicht die große Bühne anbot: Auch eine Corinna Harfouch kann dem klapprigen Plot kaum Leben einhauchen, wir folgen ihrer Figur von Pubertät über unglückliche Ehe und zweiten Frühling bis zum Schicksal einer dementen Greisin, die stoisch ihren Geburtstagskuchen backt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/04/29/birthday-candles-deutsches-theater-berlin-kritik/
Gerade die Einfachheit der Geschichte über Ernestine widerspiegelt ein Frauenbild, das so oder ähnlich millionenfach gelebt wurde und wird, das aber auch Raum lässt für Fragen wie: „Warum ordnen Frauen ihre Träume und Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung oftmals den Interessen der Familie unter und muss das so bleiben?" Es gab für Frauen wie für Männer viel zwischen den Zeilen zu lesen bzw. zu hören, wenn man es wollte.
Was Sie als "herzzerreißend" empfinden, beschrieben Doris Meierhenrich (Berliner Zeitung) als "Wortgeklingel" und Barbara Behrendt (rbb) als "esoterisches Geschwurbel". Auch in den USA kam der Text nicht gut an: Frau Behrendts Zusammenfassung, dass die Broadway-Inszenierung "selbst von den wenig gefühlsscheuen amerikanischen Kritiker:innen als für zu sentimental befunden" deckt sich mit meiner Recherche zu den dortigen Besprechungen.
Der Stücktext reiht Kalendersprüche neben Alltagsbeobachtungen, die sicher universell gemeint sind, aber oft nicht über Allgemeinplätze hinaus kommen. Deshalb schließe ich mich Christine Wahls Frage im Tagesspiegel an: "Tja, und die Quintessenz?"