Zerstören, was kaputt macht

28. Januar 2024. Erst kürzlich wurde Sivan Ben Yishais Ibsen-Befragung in Hannover uraufgeführt, nun zieht Berlin nach. Bei Anica Tomić bauen die revoltierenden Nebenfiguren, ganz im Sinne der Autorin, das Herrenhaus zurück. Wird so ein Ausgang aus der gesellschaftlich verschuldeten Unmündigkeit ahnbar?

Von Sophie Diesselhorst

""Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" am Deutschen Theater Berlin © Jasmin Schuller

28. Januar 2024. Hier geht es um ein Haus. Und dieses Haus aus Sivan Ben Yishais kürzlich in Hannover uraufgeführtem Stück "Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" steht in Anica Tomićs Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin auch auf der Bühne. Es hat bodentiefe Fenster. Eigentlich besteht es nur aus Fenstern, so dass sich hier kein Unheil und kein historischer Abgrund verstecken kann, ohne vom aufmerksamen Zuschauer:innenauge entdeckt zu werden.

Bislang unentdeckte Schicksale

Überhaupt nimmt die Inszenierung viele Sprachbilder des Stücks erfrischend wörtlich und prüft sie auf diese Weise kritisch. Der Sinnlichkeits-Booster tut dem Text, bei dessen Lektüre man sich in den Metaebenen verheddern kann, sehr gut. Gleich zu Beginn wabern die Nebel der Vergangenheit von der Bühne ins Publikum und grundieren den Ausflug in die Geschichte des Ibsen-Klassikers atmosphärisch. Bei Sivan Ben Yishai verselbständigen sich die Figuren – allerdings sorgt Noras Karriere als feministische Ikone über die Jahre für Unmut bei all denen, die in der Erzählung am Rand stehen und hier ihre eigenen Biografien bekommen.

Zum Beispiel das Kindermädchen Anne-Marie, das sich für die Stelle bei Nora von ihrer eigenen Familie trennen musste – warum sich eigentlich in der Rezeptionsgeschichte des Stücks niemals irgendjemand darüber aufgeregt hat, wird als offene Frage in den Raum gestellt, nachdem rekapituliert worden war, wie Ibsen das Ende des Stücks für die deutsche Erstaufführung abänderte, weil das deutsche Theaterpublikum angeblich noch nicht bereit war für eine Frau, die ihre Kinder verlässt. Nora blieb, aber das Dienstmädchen blieb auch, und damit die mindestens ebenso "skandalöse" Geschichte einer Frau, deren Schicksal nicht zählte.

Geschichten der Unterdrückung

Sivan Ben Yishai klopft den immer noch vielgespielten Klassiker auf Relevanz ab und stellt mit wortmächtiger Angriffslust all das aus, was hohl tönt. Dass Nora bei genauem Hinschauen vielleicht doch nur für ein Publikum als feministische Ikone taugt, das an den patriarchalen Verhältnissen nicht allzu viel ändern möchte, diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu. Doch während Anja Schneider die Nora einerseits in diesem Sinne als geschäftstüchtige Selbstdarstellerin porträtiert, der die Schicksale ihrer marginalisierten Mitfiguren herzlich egal sind, so ist ihre Nora trotzdem nicht durchweg unsympathisch, denn ihre Wurzeln werden nicht komplett gekappt. Einige Ibsen-Dialoge werden zitiert, aus denen Noras eigene Unterdrückungsgeschichte deutlich wird, wie zum Beispiel das bedeutungsvolle Aneinandervorbeireden der Eheleute Helmer kurz bevor sie die Familie verlässt oder eben auch nicht.

Im Haus voll Ungerechtigkeiten: das Ensemble von Anica Tomićs "Nora" © Jasmin Schuller

Sie beklagt sich zu Recht, dass ihr weder der Vater noch der Mann jemals auf Augenhöhe begegnet seien. Und diese Klage wird nicht gehört. Bei Sivan Ben Yishai wird die gleiche Klage übertragen auf die Geister des Stücks, die Bediensteten. Sie lehnen sich am Ende gegen Nora auf und versuchen gar nicht erst das Gespräch zu suchen. Das ist also die Lehre aus dem Klassiker, der hier in symbolischer Gestalt des Herrenhauses "kompostiert" wird – nicht einfach weggeschmissen, sondern im Geiste der Nachhaltigkeit und auch der Geschichtsbewusstheit verwertet, so dass etwas Neues draus entstehen kann.

Tanz auf dem Komposthaufen

Dieses Neue entsteht natürlich nur andeutungsweise, weil die revoltierenden Figuren für die Dauer des Stücks noch zu stark mit der Besetzung und dem Abriss des Hauses beschäftigt sind, aus dem sie am Ende auch tatsächlich die Fensterscheiben entfernen. Trotzdem atmet das Stück in der Inszenierung von Anica Tomić Befreiung. Sie baut ihre Bilder mit großer Freude am kontrolliert entfesselten Spiel auf. Unbedingt erwähnt werden muss auch das spektakulär gute Kostümbild (Drina Krlić), das in seinen geradezu schillernden Beige-Abstufungen die Trendfarbe der selbsternannten Mittelschicht aufs Korn nimmt, die sich nicht eingestehen will, dass sie etwas mit der immer schneller auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich zu tun hat.

Verkörpert wird der Geist der Befreiung von der visionären Figur, die die Inszenierung eröffnet und schließt. Natali Seelig spielt ein Amalgam aus der Ibsen-Figur Christine Linde und einem Autorinnen-Ich. Als Beobachterin von außen hält sie das sprunghafte Stück zusammen und hat ihren besten Auftritt ganz am Ende: Da reißt sie erst den etwas überexpliziten Epilog an, der die Mission des Stücks noch einmal samt der geplanten Verrottungsprozesse ausbuchstabiert – und steigert sich aus dem Text heraus in einen rasenden Tanz auf dem Komposthaufen. Ein toller Moment, der allein den Besuch dieses so kurzweiligen wie klugen Theaterabends lohnen würde.

 

Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert
von Sivan Ben Yishai
Aus dem Englischen von Gerhild Steinbuch
Regie: Anica Tomić, Bühne: Mila Mazić, Kostüme: Drina Krlić  , Musik: Nenad Kovačić, Choreografie: Lada Petrovski Ternovšek, Licht: Kristina Jedelsky, Dramaturgie: Christopher-Fares Köhler , Jelena Kovačić.
Mit: Lisa Birke Balzer, Steffi Krautz, Peter René Lüdicke, Jörg Pose, Anja Schneider, Natali Seelig, Irina Fedorova, Christian Herschmann, Lena Hollenstein, Elisabeth Jessen, Gerwin Kästner, Lennart Mohren, Tanja Watoro.
Premiere am 27. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

Kritikenrundschau

Sivan Ben Yishai unterziehe das Ibsen-Stück einer klassimuskritischen Re-Lektüre und zeichne Nora als Ikone eines Feminismus der Privilegierten, die auf die soziale Frage pfeifen, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (28.1.2024, €). Das titelgebende "Herrenhaus" stehe hier nicht nur pars pro toto für den Theaterbetrieb, sondern werde zur Metapher für die realkapitalistischen Verhältnisse überhaupt. "Und weil das in Tomićs Inszenierung mit viel subversivem Witz und theaterbetrieblicher Selbstironie vonstattengeht, erlebt man hier nahezu 90 Minuten smart-kurzweiliges Komödien-Entertainment", so die Kritikerin.

"So interessant das metaphorisch-gesellschaftskritische Spiel mit den Fesseln der Sprache, des Dramas und des Arrangements ist, so wenig hat Sivan Ben Yishai anzubieten, was außerhalb dieser Strukturen Erzählenswertes stattfinden könnte", findet Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (29.1.2024, ) und fragt: "Wovon soll man wie sprechen, wenn jede Entwicklung an ihr Ende kommt" Wie würde ein formbefreiter Gesang klingen? Was fangen identitätsbefreite Menschen miteinander an?" 

Der Abend lege allerlei überdenkenswerte Fährten auslegt und spinne Meta-Fäden, fasere bisweilen aber auch unkonkret aus, so Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (29.1.2024). Sivan Ben Yishais Text sei randvoll mit lauter Meta-Verweisen auf unterschiedlichen Diskursebenen, historischen, gesellschaftspolitischen, theatersystemimmanenten. "Das ist heiteres Thesentheater, manchmal durchaus spitz, aber bisweilen auch etwas sprunghaft, ausufernd und überdeutlich."

Zwar werde an diesem Abend einerseits "zu sehr auf Metaebenen geraunt" und andererseits "überdeutlich auf plakativen Botschaften herumgeritten", urteilt Barbara Behrendt im rbb (29.1.24). Bislang wachse "noch nicht viele Neues aus der Erde des kompostierten Herrenhauses", so die Kritikerin., "Doch diese saftige erste Inszenierung von Anica Tomic am DT bietet zumindest Gedanken- und Schauspielfutter für einen Abend über Klassismus, Pseudofeminismus und ausbeuterische Systeme, zu denen auch das Theater zählt."

Ben Yishais Fassung sei "hoffnungslos harmlos", so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (31.1.2024). Was die aktuelle Themen- und Thesenküche so abwirfe – Diversität, Geschlechtergerechtigkeit, Klassismus, Ausbeutung, Rassismus et cetera –, werde ohne jede historische Perspektive wieder und wieder aufgekocht. "In der freundlich zupackenden Regie von Anica Tomić wird daraus trotzdem ein unbeschwerter Theaterspaß mit flinken Dialogen, gekonnt gesetzten Pointen, boulevardesken Szenen und suggestiver Tanzmusik."

Kommentare  
Nora, Berlin: Thesentheater
Noras Emanzipation wird zum Egotrip einer verwöhnten Diva. Von oben herab behandelt die Titelfigur (Anja Schneider) ihre Domestiken und Dienstleister. In Ben Yishais kleinem Metatheater-Spaß wird aus Nora eine ausbeuterische Kulturbetriebsunternehmerin, so dass die Autorin ihre intersektionale Kritik am Feminismus bürgerlicher Frauen der vergangenen Jahrzehnte mit einem weiteren Lieblingsthema kurzschließen kann: dem prekären Status von Nebenrollen-Spielern und Kleindarstellern, der sie auch im Betriebs-Kabarett „Bühnenbeschimpfung“ umtrieb, das vor einem Jahr am Gorki Theater uraufgeführt wurde.

Das Problem des 100 Minuten kurzen Abends ist, dass Ben Yishai und ihre Übersetzerin Gerhild Steinbuch ihr Thesenstück so überdeutlich ausbuchstabieren. Zu papieren bleibt über weite Strecken auch die Inszenierung von Anica Tomić, die laut Programmzettel aus der feministischen Off-Szene Kroatiens stammt und schon bei Iris Laufenbergs Grazer Intendanz inszenierte. Die Regisseurin verlegt sich darauf, den Text zu bebildern. Choreographische Einlagen von Lada Petrovski Ternovšek können nicht überdecken, dass es hier kaum Handlung, stattdessen viel Belehrung gibt. Immerhin sind auch ein paar kleine komische Nummern eingestreut, z.B. Peter René Lüdickes Lamento, dass er doch ein gestandener Schauspieler sei, das sogar studiert habe und von Nora hier nun mit einer Minirolle und dürftiger Bezahlung abgespeist werde.

Aber der Lernstoff ist so dünn, dass er nur mit Mühe über 100 Minuten trägt. Der Epilog von Christine (Natali Seelig) ist – von einer Ausdruckstanz-Nummer unterlegt – einer der lebendigeren Momente an diesem Thesentheater-Abend, fasst aber lediglich die Moral von der Geschichte zusammen, falls irgendwer immer noch nicht kapiert haben sollte, worauf Ben Yishai hinauswollte. Der mehrgeschossige Bühnenaufbau (Mila Mazić) ist dann bereits vom Prekariat (Balzer/Krautz/Lüdicke und sieben Statist*innen) gestürmt, dem Erdboden gleichgemacht un den Maden zum Fraß vorgeworfen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/01/28/nora-oder-wie-man-das-herrenhaus-kompostiert-deutsches-theater-kritik/
Nora, Berlin: Tanz der Hoffnung
Anica Tomić bietet ihren Figuren den Raum, den sie brauchen – denen, die ihn immer schon hatten und den vergessenen, übersehenen, zum Schweigen gebrachten ebenso. Er schafft Augenhöhe, wo das „Haus“ diese nicht ermöglicht. Rr zeigt die Wirkung der Machtmechanismen, etwa wenn Nora eine kleine Bitte des Mannes, für den „Ein Paketbote“ einziger Name und Identität ist, auf erschreckende Weise eskaliert, um ein für alle Mal klarzustellen, wer hier das Sagen hat. Und das ist auch sie nur bedingt. Einmal wird aufgelistet, wie oft die Namen der Eheleute im Rollenverzeichnis auftauchen: der ihrer Mannes sechsmal, ihr eigener – der der Hauptfigur also – ein einziges Mal. Hier Verlassensmonolog bekommt ausreichend Bühne und auch zwischendurch erkennt Nora immer wieder ihr eigenes Gefangensein im System. Ihre Tragik als bürgerliche Feministin ist, dass sie das, was sie für sich wahrnimmt und kritisiert, für andere außerhalb ihrer sozialen Sphäre nicht nicht, ja, nicht einmal akzeptiert, dass die regeln, die sie für sich einfordert, auch anderen offen stehen sollten.

Ben Yishai und Tomić machen nicht den Fehler, Nora darüber zu verdammen. So sehr sie sich in Selbstbetrug, Machtrauch und Grausamkeit verfängt, so klar ist sie nie nur Täterin sondern ebenso Opfer, die Umkrempelung des Stoffes Erweiterung, nicht Gegenrede. Sie fügt Kontext hinzu, erweitert den Horizont, prangert Ungleichbehandlung und Unrecht an, ohne Noras Emanzipation zu verunglimpfen. Tomićs Regie gibt dem Text Leben, Leidenschaft, Ernsthaftigkeit wie satirische Schärfe, erschütternde Tragik wie lächerliche Überzeichnung. Und wirft eben keine Figur vor den Bus. selbst Jörg Poses helmer ist schlimmstenfalls ein armseliges Würstchen, das sich im System gefangen sieht, dieses hilflos aufrechtzuerhalten sucht und nahe dran ist, die eigene Lächerlichkeit zu erkennen. er spielt kaum eine Rolle, ist wiederholt überfordert, eine Verkörperung des Überkommenen.

Denn diese Geschichte ist nicht nur die der Handlung eines Stücks, sie trägt Inszenierungs- und Rezeptionshistorie in sich. Diese Nora ist alle Noras, diese Anne-Marie alle „Kindermädchen“, die auftretenden wie die gestrichenen. Vergessene Protagonist*innen in prekärer Lage – im Stück wie in der öffentlichen Wahrnehmung – angewiesen auf das Wohlwollen, derer mit Macht. Wenn am Ende das Haus zerlegt wird und seine Reste verschwinden, wenn Natali Seelig den Text hinter sich lässt und nach den letzten Worten „Also tanzen wir“ einen Tanz auf den Gräbern des Patriarchats beginnt, dann ist das ein emanzipatorischer Akt, der den Noras nicht entwertet, sondern ihn weiterführt und vervollständigt, seinen Opfern Gerechtigkeit gibt. Ein Tanz der Hoffnung, des Abschüttelns, des Beharrens am Ende eines lustvollen, klarsichtigen, befreienden Abends.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2024/03/24/also-tanzen-wir/
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